Zeitzauberei

Zeit? Meistens will man keine haben, also nicht haben im Sinne von bekommen, sondern eben über keine zu verfügen. In der eigenen Vorstellung ist einfach stets zu wenig Zeit vorhanden. Das klingt ein wenig danach, als könne Zeit ungerecht verteilt sein. Dabei hat sich bisher an der Anzahl der Tagesstunden gar nichts geändert. Vom Beginn des Tages bis zu seinem Ende vergehen noch immer 24 Stunden und die Erde kreist weiterhin innerhalb einer Jahresfrist um die Sonne.

Eine klitzekleine Abweichung konnten Wissenschaftler jedoch bereits ermitteln. Aufgrund einer marginalen Veränderung des Winkels der Erdachse verlangsamt sich die Erdumdrehung. Innerhalb von 100 Jahren werden die Tage um 3 Millisekunden länger. Natürlich kann diese Tatsache niemand nachempfinden. Immerhin geht es um eine Verlängerung und nicht um eine Verkürzung der Tage. Glaubt man ringsum dem vielstimmigen Chor der Zeitgenossen, herrschen jedoch Bedingungen, die permanent Zeit verknappen. Von Beschleunigung ist vielfach die Rede und von wachsendem Zeitdruck. Es mag hilfreich und ein wenig erlösend erscheinen, dass man die Verantwortung für etwas, das nie in ausreichendem Umfang vorhanden ist, nämlich Zeit, derselben als Schuld auferlegen kann. Im Grunde weiß man aber, dass es gar nicht an der Zeit liegt, sondern vielmehr an der Unmöglichkeit mehrere gewollte und ungewollte Dinge auf einmal erledigen zu können. Etwas Wichtiges oder Notwendiges besitzt Vorrang und anderes – meist hoffnungsvoll Ersehntes – wird deshalb abgewiesen oder zumindest verschoben. Der Moment ist bereits mit einer unaufschiebbaren Tätigkeit gefüllt.

So weit, so gut. Woher rührt dennoch die Annahme, dass Zeit nie in dem Maße verfügbar ist, wie man sich das gern wünschte? Offensichtlich ist Zeit unmittelbar mit unserem Leben verbunden. Ein Blick auf die Entwicklung der durchschnittlichen Lebenserwartung ist da hilfreich. Im Altertum betrug die Lebenserwartung eines Menschen etwa 18 Jahre, Selbst im Mittelalter stieg sie lediglich auf 20 Jahre. Im 17. und 18. Jahrhundert erhöhte sich ein Durchschnittsleben dann immerhin von 25 auf 30 Jahre. Um 1850 erreichte man schon ein durchschnittliches Alter von 40.

Selbst am Ende des II. Weltkrieges rechnete man mit einem Lebensdurchschnittsalter von nur etwa 55 Jahren. Seither entwickelte sich die durchschnittliche Lebenszeit der Deutschen auf über 80 Jahre. Wenn unsere Vorfahren aussprachen, das Leben sei kurz, trifft das aus jetziger Betrachtung völlig zu. Doch wer wollte heute nicht in das Klagelied über eine viel zu kurze Lebenszeitspanne einstimmen?

Der Tempus-Begriff selbst kann wenig Aufschluss über das Wahrnehmungsphänomen Zeit geben. Selbst die Präzisierung der Zeitmessung hilft kaum, einem Wort nahezukommen, das die Menschheit entwickelte, weil sich um sie herum alles in Zeitabschnitten abspielt. Anfang und Ende eines Lebens, jedes erfassbaren Prozesses in der Natur oder innerhalb technischer Vorgänge sind Quelle des Bewusstseins für vergehende Zeit. Wir selbst sind es, die an alles den Begriff Zeit heften und uns von Zeitmaschinen, unseren Uhren, verkünden lassen, dass und sogar genau wie viel Zeit vergangen ist.

Wir müssen den Begriff des Ereignispotenzials näher betrachten, um der Wahrnehmung der Zeit näher zu kommen. Man stelle sich vor, wie viele Ereignisse auf eine landwirtschaftlich geprägte Bevölkerung im 17. Jahrhundert zwischen Erwachen und zu Bett gehen täglich einströmten. Der Alltag war von körperlich harter Arbeit geprägt, Kinder tummelten sich, ein Austausch mit Nachbarn gehört sicher selbstverständlich dazu, Essenszeiten und gemeinsame Riten und Bräuche wurden gepflegt. Wahrscheinlich hat sich das heutige Ereignispotenzial gegenüber dieser Zeit horrend vervielfacht.

 

Nachrichten über Geschehnisse platzen permanent in jedes Leben. Und jeder schaut hin, selbst, wenn ein Vorfall gar nichts mit der eigenen Lebenswirklichkeit zu tun hat. Unsere natürliche Neugierde lässt uns fortlaufend interessiert auf alles blicken, was es Neues oder Besonderes gibt. Dann beschäftigt man sich mehr oder weniger damit und diskutiert darüber. Das Internet-Zeitalter offeriert eine allgegenwärtige Gleichzeitigkeit. Wir sehen eben nicht mehr nur, was Kollegen, Nachbarn oder andere in unserer Umgebung tun, sondern was parallel dazu rund um den Erdball geschieht. Indes haben sich die Prozesse der Reizphysiologie nicht verändert. Vom Augenblick eines Ereignisses bis zur Verarbeitung im Hirn vergeht aufgrund festgelegter biologischer Abläufe immer noch genauso viel Zeit. Die gewachsene Ereignisdichte ist offensichtlich eine bedeutsamere Ursache für ein Beschleunigungsempfinden als die Zeit selbst.

Versuchen Sie doch mal zusammenzutragen, wie viele Gegenstände Sie Ihr Eigen nennen, und machen Sie sich bitte gleichsam klar, dass jedes Ding, das Sie in Ihr Leben holen, nicht nur Geld, sondern ein Quäntchen Ihrer Zeit kostet. Das Aussuchen und die Anschaffung verbrauchen Zeit, genauso wie die Nutzung oder die Pflege und Wartung. Selbst die Entsorgung der Sache nagt an der Lebenszeit. Wenn Sie nun die Summe aller Gegenstände Ihres Lebens zusammentragen und sich eine Vorstellung davon machen wollten, wie viel Zeit Sie für jedes Utensil aufwenden, bekommen Sie vielleicht eine vage Ahnung davon, warum Sie keine Zeit haben. Man mag einen Multimillionär dafür beneiden, was dieser sich alles leisten kann, aber ich vermute, dass dessen Lebenszeit zur Nutzung unerschöpflicher Luxusgegenstände nicht mehr Gelegenheit bereit hält, als ein gutverdienender, europäischer Otto-Normal-Verbraucher für seine Heiligtümer aufwenden kann. Unter dem Zeitbegriff ist eben auch Luxus relativ. Es gibt diesen wundervollen Spruch: Weniger ist mehr. Innerhalb der Design-Sprache in der Musiktheorie und vielen anderen künstlerischen Genres lebt man dieses Verständnis. Manchmal sollte man sich diese Maxime ins eigene Leben heben. Vielleicht entsteht dann viel mehr Zeit für Dinge, für die man angeblich keine hat.

Keine Zeit zu haben, ist übrigens eine ganz wundervolle Ausrede dafür, sich mit dem Anliegen eines anderen gar nicht beschäftigen zu wollen. Wofür die Zeit doch so alles herhalten muss? Und sie kann noch nicht einmal etwas dafür. Zeit für Veränderung – das ist eine genutzte Floskel, um dem Leben eine neue Wendung zu geben. Die Zeit hat nur insofern etwas damit zu tun, dass man erkannt hat, nun etwas anders machen zu wollen. Sie kennen gewiss auch den Widerstreit zwischen dem Wunsch, dass etwas bleiben soll wie es ist und der Tatsache, dass sich ständig etwas ändert. Was rufen wir uns da zu? Die Zeiten ändern sich! Eigentlich sollten Sie jetzt Gewissheit darüber haben, dass sich jede Sekunde etwas ereignet, bei Ihnen, bei anderen, permanent und überall. Die Zeit kann das gar nicht anhaben. Sie ist nur etwas, was wir im Kopf herumtragen. Die Anzeige auf der Uhr ist nicht die Zeit, sondern ausschließlich eine Messlatte, an der Sie Ihr Leben messen. Wenn Sie in eine interessante Beschäftigung vertieft sind und irgendwann auf die Uhr schauen, sagen Sie oft den Satz: Es ist schon wieder so und so spät und denken gleichzeitig, wie schnell doch die Zeit vergangen ist. Bemerken Sie etwas? Die Zeit war Ihnen erst in dem Augenblick gegenwärtig, als Sie sie an der Uhr gemessen und an sie gedacht haben. Innerhalb der gelebten Leidenschaft spielt Zeit gar keine Rolle. Zeit ist eben nur eine Art Zauberei, die wir über das Leben legen. Es gilt, das Leben wahrzunehmen und weniger das Phänomen Zeit. Die Zeit ist möglicherweise nur ein gedachter Ersatz für den Geist, der sich ohnehin über alles erheben möchte, beispielsweise über die eigene Lebensfrist oder über den Wissens- und Erfahrungshorizont hinaus. Weil im Bewusstsein mehr Begreifen als über das Greifbare ist, nebelt auch die Zeit dahin als wär sie ein realer Sinn.

Thomas Wischnewski

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