Wiederkehr des Simplicissimus

Die gesellschaftlichen Entwicklungen fördern offenbar manches Paradox zutage. Obwohl doch jeder für etwas Gutes einstehen will, bricht sich dennoch das Böse eine Bahn. Eine Nachdenkschrift gegen die Simplifizierung von Ursachen und Zeitgeschehen.
Nein, um den 1668 erschienenen Schelmenroman „Simplicius Simplicissimus“ von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen geht es in diesem Text nicht, sondern eher um die vielfach naive Simplifizierung gesellschaftlicher Entwicklungen, wie sie uns tagein tagaus in der Welt der Erklärungen begegnet. Dabei sollten uns doch historische Erfahrungen, umfangreiches Wissen und bessere Analyseverfahren zur Verfügung stehen, um ein ausreichendes Verständnis über das aktuelle Zeitgeschehen zu entwickeln. Doch manche heutige Erscheinung wirkt derart paradox, dass sie aus der Irritation darüber wiederum mit paradoxen Erklärungen oder eben oft simpel beantwortet werden.

Erstes Beispiel: Anfang 2015, weit vor dem großen Flüchtlingsstrom, bekommt die Pegida-Bewegung in Dresden Zulauf. Am 12. Januar schätzt die Polizei die Teilnehmer auf 25.000. Die Zahl gilt dass höchster Ausschlag. Danach nehmen die Demonstranten kontinuierlich ab. Medien wurde anfangs vorgeworfen, die Demos zu ignorieren. Doch jetzt kommen sie und wollen herausfinden, wer die protestierenden Menschen gegen eine drohende Islamisierung seien. Sachsens geringer Ausländeranteil und die eigentliche wirtschaftliche Prosperität des Landes werden als paradoxe Phänome einer unerklärlicher Verirrung begriffen. Dieselben Medien blenden – spätestens seit dem 29. Januar 2002, als der damalige US-Präsident George W. Bush in einer Rede zur Lage der Nation das Schlagwort von der „Achse des Bösen“ prägte – aus der eigenen Berichterstattung aus. Islamistischer Terror, islamistische Terrormilizen, die Schrecken der Taliban, von Al-Qaida und später solche über den Islamischen Staat scheinen ausgeblendet. Deutsche leben nicht in der Wirklichkeit der islamischen Welt, sondern vorrangig in der der Nachrichten über diese. Wenn permanent die Schrecken, aber nicht die Normalität von Ländern mit muslimischer Tradition transportiert wird, muss man sich eigentlich über die Auswirkungen nicht wundern. Doch dieselben Medienverantwortlichen wundern sich, anstatt die fortwährende Zuspitzung eigener Berichterstattung in die Kritik zu stellen. Wenn man sich medial also über Ängste unter Menschen wundert, verwundert vielmehr die Ausblendung über die eigene Angstverbreitung.

Noch ein Blick auf die muslimische Welt, der aus dieser Position auch nur ein interpretierter sein kann. Aber die Frage muss eben gestellt werden können, ob eine sogenannte Verteidigung unseres Freiheitsverständnisses mit eingreifender Waffengewalt durch die USA, England, Frankreich und Deutschland nicht auch aus mancher dortiger Position als eine gewaltsame Einflussnahme aus einer Tradition des christlichen Abendlandes begriffen werden muss. Insofern ließe sich vermuten, dass ein proklamierter Demokratie-Export westlichen Verständnisses, der außerdem wirtschaftliche Rohstoff- und Handelsphären sichern sollte, sich im islamischen Geschmack als umgedeuteter Religionskampf offenbart.

Simplifiziert erscheint ebenso manche Betrachtung über die europäische Entwicklung. Aus aktueller deutscher Perspektive werden Positionen oder Entwicklungen in Mitgliedsstaaten überraschend quittiert. Der Brexit ist das beredete Beispiel dafür. Die eigene deutsche Dominanz als stärkste Wirtschafts- und Finanzmacht im europäischen Konzert bleibt dabei ausgeblendet. So wie gegenüber einer unbestreitbaren Hegemonialbestrebung der Vereinigten Staaten von Amerika kontroverse Haltungen existieren, muss auch Deutschland die eigene Wirkmacht im Euroraum begreifen und sollte an der einen oder anderen Stelle weniger empfindlich reagieren.

Kommen wir zum aktuellsten Ereignis, der Bundestagswahl. Offensichtlich existiert ein breiter öffentlicher Konsens über den Einzug der AfD ins höchste deutsche Parlament. Zwei Begriffe, „Rechtsextreme“ und „Nazis“, bestimmen die Bezeichnung der Leute, die nun für die „Alternative für Deutschland“ im alten Reichtagsgebäude sitzen. Bevor man über inhaltliche Orientierungen eine Lanze bricht, muss man schon über Ursachen reden, die den Aufstieg dieser Partei ermöglichten. Das wird aber leider in den meisten Positionierungen ausgeblendet. Nimmt man einzig die Titulierung „Nazi“ müsste man glauben, jeder Mensch, der für die AfD eine Stimme abgegeben hat, stünde in der Tradition des schrecklichen deutschen Nationalsozialismus. Wer den Feind definiert, zieht auch die Frontlinie im Kampf gegeneinander. Nun ist die AfD bei Weitem kein Unschuldslamm in verbalen Provokationen. Aber lässt sich aus der Entwicklung ableiten, dass wirklich jemand das braune Vernichtungsprogramm der Nazis ersehnte? Kaum jemand fragt nach den nicht beantworteten Fragen. Natürlich muss man die AfD kritisch begleiten, vor allem wenn beispielsweise Björn Höcke eine Bewegungspartei fordert, die irgendwann die absolute Mehrheit hätte oder wenn es um die Forderung nach Umdeutung geht. Danach sollten laut Alexander Gauland die Erfolge deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen mit Stolz herausgestellt werden. Der sachsen-anhaltische Landtagsabgeordnete Hans-Thomas Tillschneider fragte daraufhin, wann „die Altparteien das letzte Mal den deutschen Soldaten, die im 2. Weltkrieg gefallen sind, würdevoll und öffentlichkeitswirksam gedacht“ hätten. Blendet dabei aber aus, dass es seit 1919 den Volksbund Deutscher Kriegsgräberfürsorge gibt, der sich europaweit um die Gräber gefallener Soldaten kümmert und zwar mit Schülerprojekten und Politikerbeteiligung. Einer solcher Simplifizierung muss man mit Lebenswirklichkeit entgegentreten.

Ähnlich simplifiziert muss man die Debatten zur Flüchtlingspolitik und zu Integrationsvorstellungen begreifen. Während die AfD konsequent auf Abgrenzung setzt und Vorstellung über Kriminalität verallgemeinert, sprechen deren Widersacher von gelingender Integration. Die Annahme, entwurzelte Menschen, die in einen fremden Kulturkreis kommen und ohne tiefere soziale Bindungen leben, ließen sich einfach integrieren, ist sehr schlicht gedacht. Sprache mag ein wichtiger Schlüssel sein, ist aber bei Weitem nicht alles. Man drehe den Spieß einfach einmal um, und versucht sich vorzustellen, man müsste als Mitteleuropäer  Afghanistan als neuen Lebensmittelpunkt begreifen. Der Begriff Islamisierung wird von AfD-Anhängern aber ebenso vereinfacht transportiert. Kulturelles Miteinander ist nicht linear denkbar. Wer einen differenzierten Blick auf in Deutschland lebende Türken wirft, wird darunter sicher schlecht integrierte Vertreter finden, aber eben auch ganz viele andere, und sicher sogar solche, von denen sich manch konservativer Deutsche eine Scheibe abschneiden könnte. Keine Seite kann das Recht auf Wahrheit auf sich vereinen, weil sich die Wirklichkeit im Tagesgeschäft weder mit verbreiteten Verallgemeinerungen noch mit Diffamierungen erklären lässt.

Die Wirtschaftsdaten der Republik stehen immer noch auf Rekordhöhe. Sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, Wirtschaftswachstum und Steuereinnahmen vermitteln den Eindruck, Deutschland geht es gut. So hatte es Kanzlerin Angela Merkel immer wieder heruntergebetet. Aber das individuelle Schicksal von Menschen, die persönlich keine Teilhabe an Wirtschafts- oder Steuererfolgen finden, können ihre Erfahrungen eben nicht mit Erfolgspredigten verbinden. Für viele Menschen mit geringem Einkommen oder die im Hartz-IV-System existieren, nutzt der Verweis auf pralle deutsche Kassen nichts. Aber Politiker wundern sich, warum sich die gute Lage des Landes nicht in Wahlergebnissen für die Regierungsparteien widerspiegelt. Antworten, wie künftig Renteneintrittsalter und Rentenhöhe konkret ausgestaltet sein wird, darauf gab es vor der Wahl nur schwammige Einlassungen. Zahlreiche Bürger, die hoffnungsfroh nach vorn blicken sollen, kann man nicht mit simplen Allgemeinplätzen abspeisen.

Auf den besten Simplicissimus trifft man immer wieder in den Warnungen zum Klimawandel und Weltrettungsabsichten. Es will einem aufmerksamen Zeitgenossen nicht aufgehen, wie man mit einer komplett weltweiten Umrüstung auf schadstoffarme Produkte, gleichzeitiger Produktionssteigerung, um mehr Menschen auf dem Erdball Konsumwohlstand bescheren zu wollen, gleichzeitig weniger Umweltbelastung erzeugen möchte, und das Ganze bei einer nach wie vor wachsenden Weltbevölkerung, die jährlich um rund 80 Millionen Köpfe zunimmt. Sicher ist die Bereitschaft bei den meisten Menschen groß, einer prognostizierten Entwicklung zu folgen, unter der der Homo sapiens sich zum Herrscher über die natürlichen Bedingungen, die ihn hervorbrachten, aufschwingt. Aber die Botschaften klingen doch stets wie ein schlichtes Schema FF. Wir atmen einfach alle ein bisschen weniger und schon kriegen wir das mit dem Kohlendioxid in den Griff.

Obwohl heute Wissenschaft und Fortschritt, his-torische Erfahrungen, Forschungsergebnisse und Erkenntnisfähigkeit gegenüber früheren Generationen höhere Quantitäten und Qualitäten besitzen, werden die sozialen und wirtschaftlichen Lebenszusammenhänge permanent simplifiziert. Die Vorstellung das Klima retten zu können mit gleichzeitiger Konsumaufrüstung für mehr Wohlstand – das ist dann doch ein „Simplicius Simplicissimus“, der durchs Land zieht und sich über die Geschichte lustig macht. Thomas Wischnewski

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