Werben – ein Ort zwischen Fall und Werden

Rathaus Werben am Markt 1.

Alles hat seinen Reiz. Die Altmark sowieso mit ihren Waldflecken, Ackerflächen, Heide- und Auenlandschaften entlang des Elbstroms. Ab und an überragen Dächer einer kleiner Ortschaft das Tiefland. Die nordöstliche Region Sachsen-Anhalts ist spärlich besiedelt. Man könnte sprichwörtlich annehmen, hier beginnt der Anfang vom Ende des Landes. In Fließrichtung der Elbe liegt links die Stadt Havelberg. Nur sieben Kilometer nordöstlich davon, am anderen Elbufer und ziemlich genau unterhalb der Stelle, an der die Havel in die Elbe mündet, die wohl kleinste Hansestadt der Welt: Werben. Hier gelten andere Dimensionen. Alles ist übersichtlicher und kleiner, aber gerade deshalb von größerer Wirkung, positiv wie negativ. Werben mag auf den ersten Blick wie ein Ort im Dornröschenschlaf erscheinen. Wer genauer hinschaut, erkennt einen Wandel. Unter der idyllischen Ausstrahlung gibt es Reibungen, solche zwischen neuen Träumen und alter Wirklichkeit. Dabei kommt etwas zum Vorschein, das man wie ein zartes Keimen begreifen kann. Für andere gefallene Orte im Land könnte es sich sogar als nachahmungswert erweisen.

Werben, das ist ein Örtchen mit gut Einhundert Gebäuden und 650 Einwohnern. Zählt man der Ordnung halber die eingemeindeten Dörfer Behrendorf, Giesenslage, Berge, Räbel sowie die Kolonie Neu Werben dazu, sind es 1.106 Bewohner. Aber es soll hier um die Stadt Werben mit ihrem Charme an Backstein- und Fachwerkhäusern, 100 Kilometer von der Landeshauptstadt entfernt, gehen. Ein Poet würde sicher seine Beschreibungslust über den Flecken an der Elbe ausbreiten. Über die Adebare würde er schreiben, die zahlreich hoch über den Dächern Nistplätze aus Zweigen zusammengetragen haben. Das Flair kleiner Kopfsteinpflastergässchen und morbider Fassaden flösse in sein romanisches Schriftkleid. Fern vom Trubel und Hasten metropolischer Hektik pflanzte er das Werbener Leben in eine Geschichte über die Reise in die Vergangenheit ein. Ja, ein Literat hätte seine wahre Freude an der malerischen Beschaulichkeit.

Ich bin jedoch als ein forschender Städter in das Städtchen gekommen und wundere mich über das Stadtrecht der kleinen Häuseransammlung. Natürlich gibt mir der Zusatz „Hansestadt“ Aufschluss über eine vergangene Bedeutung. Profundes Zeugnis der Ortsgeschichte legt auch die mächtige Kathedrale St. Johannis ab, die gegenüber Fläche und Einwohnerzahl viel zu groß geraten, alles überragt.

Die Statistik des Landkreises Stendal weist 27 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze in Werben aus. 238 Menschen pendeln für ihr Lohn und Brot in andere Orte. Die Kreissparkasse schickt einmal pro Woche ein Mobil zur Erledigung von Bankgeschäften. Die Volksbank unterhält nur noch einen Automaten. Am Markt gibt es ein Fleischerladen, der an drei Tagen öffnet und eine Frisörin sowie ein Blumengeschäft. Ein Tierarzt, zwei Physiotherapien, ein paar Handwerker, ein NP-Minimarkt, zwei Pensionen, zwei Gaststätten – die eine öffnet tagsüber, die andere abends – und zwei Landwirte bildet das wirtschaftliche Rückgrat der Gemeinde. Die Mehrheit der alteingessenen Werbener lebt von Renten oder Geldern aus dem Sozialtopf der Allgemeinheit. Diese Aufzählung zeichnet eigentlich ein düsteres Bild und könnte sinnbildlich auf andere Dörfer und Kleinstädte in Sachsen-Anhalt übertragen werden, wäre da nicht der zarte Keim von etwas Neuem zu entdecken. Obwohl die Gassen an diesem Freitagnachmittag menschenleer sind, erzählen hier und da liebevoll restaurierte Häuschen eine andere Geschichte. Thomas Heinemann treffe ich vor einem der Fachwerkhäusern. Er ist dabei, Holz aus einem Anhänger zu entladen. Der Restaurator und Malermeister Heinemann wohnt normalerweise im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg. Was ihn nach Werben treibe, frage ich ihn. Freunde hätten ihn auf die abgeschiedene Siedlung aufmerksam gemacht. Seit zwei Jahren restauriert er in seiner Freizeit das erworbene Miniaturanwesen im Ortskern der Hansestadt. Und der Berliner ist mit seiner Idee, sich hier eine Heimstatt neben dem Großstadttumult zu zimmern, nicht allein. Bernd Dombrowski ist ebenso Restaurator und hat gemeinsam mit Holger Schaffranke, dem Geschäftsführer der Hennigsdorfer Wohnungsbaugesellschaft, das ehemalige Kommandeurshaus saniert. In einem der größten Gebäude des Ortes sind Räume für Kultur- und Bildungsveranstaltungen entstanden sowie Ferienzimmern für Einzel- und Gruppenreisende.

Musik-Professor Jochen Großmann von der Berliner Universität der Künste kümmert sich um die Restaurierung der Orgel in St. Johannis. Zudem ertüchtigt er ein Haus im Gässchen mit dem Namen „Schadewachten“. Dort besitz auch der Wittenberger Friedrich Schorlemmer ein Studierhaus. Der Kulturkritiker Hartmut Krug vom Deutschlandfunk sucht die Werbener Abgeschiedenheit zum Nachdenken und Schreiben.

Die Fotografen Ingrid und Dietrich Bahß, die in den 80er Jahren Künstlertreffen in der Magdeburger Hegelstraße organisierten, galten bei der DDR-Obrigkeit bald als Dissidenten und wurden der sozialistischen Republik verwiesen. Nach vielen Jahren in Köln besann sich Ingrid Bahß ihrer Werbener Heimat. Heute trifft man die Fotokünstler an rund 120 Tagen in der Hansestadt an. Vor zwei Jahren klebte Ingrid Bahß Mut-Sprüche an leerstehende Werbener Häuser und darunter stehen persische Übersetzungen. Dies sollte einen Integrationsimpuls geben. Nur liegt die Ausländerquote im Ort bei Null Prozent. Daran ändert sich absehbar auch nichts. Wenn es woanders Normalität ist, dass jede Gegend ihren Döner-Imbiss hat, so sucht man solche in Werben und Umgebung vergebens.

 

Fotos: Michael Kranz

Und dann gibt es da noch den Bürgermeister Wolfgang Tacke, der an Wochentagen als Architekt im Magdeburger Finanzministerium das Referat für Baukultur führt. Tacke kam mit seiner Frau vor zehn Jahren nach Werben. Mann und Ort müssen sich damals vergleichbar mit einer Liebe auf den ersten Blick begegnet sein. Jedenfalls erwarb das Pärchen ebenfalls ein vom Verfall bedrohtes Haus und sanierte es in den vergangenen zehn Jahren in Wochenendfreizeit. Weil der gebürtige Hannoveraner nicht nur ein Riese von Wuchs ist, sondern auch ein lebensfrohes Naturell ausstrahlen kann, wurde er vor einem Jahr von Werbenern bedrängt, sich der Bürgermeisterwahl zu stellen. Halb zog man ihn, halb sank er hin und wurde überraschender Weise am 6. Dezember 2016 mit knapper Mehrheit Stadtoberhaupt. Der zwölfköpfige Werbener Stadtrat gilt als schwierig und überhaupt nicht Vergnügungssteuer pflichtig. Vor 100 Jahren scheiterte an ihm schon der Zuckerrübenbauer Philipp Freise mit dem Anliegen im Hansestädtchen eine Zuckerfabrik anzusiedeln. Die entstand schließlich im 20 Kilometer entfernten Goldbeck. Wolfgang Tacke treiben Visionen. In einem Elbarm vor den Toren der Stadt stellt er sich den Bau einer kleinen Marina für Bootsenthusiasten vor. Die „Schweden-Schanze“ möchte er sichtbar machen. Schließlich – so erzählen es die Quellen – soll es am 7. August 1631, während des Dreißigjährigen Krieges, zur Schlacht zwischen den Truppen des schwedischen Königs Gustav Adolf, der in Werben Quartier genommen hatte, und den Kaiserlichen unter Tilly gekommen sein. Tilly unterlag mit seinen Truppen und war zum Rückzug gezwungen. Daraufhin ließ Gustav Adolf die Werbener Schanze zwischen Elbe und Havel erbauen. Es folgten wechselvolle Kämpfe um diese Schanze, bis sie 1641 von brandenburgischen Truppen erobert und geschleift wurde. Auf solche Geschichten baut Tacke touristische Ideen. Im Stadtrat geht es aber eher um die Beseitigung von Schlaglöchern und anderen Alltagsproblemen. Da muss abgewogen werden, ob 38.000 Euro städtebauliche Fördermittel in die Modernisierung der Sporthalle fließen oder den Erhalt eines alten Stadtmauerteils.

Zugezogene und Einheimische fremdeln noch in der Prioritätensetzung. Es scheint als träfe hier Störrigkeit auf Phantastentum. Vielleicht wollen die Neuen zu schnell zu viel als den Alten im dörflichen Traditionsverständnis abzuringen wäre. Die subtilen Auseinandersetzungen und die unterschiedlichen Charaktere bilden einen Mikrokosmus, der Stoff für einen Roman sein könnte. Im Kleinen beschreibt man das wahre Leben. Als Gast erlebt man Werben verträumt und beschaulich, Reibungen finden hinter Fassaden statt. Doch dass Werben aus dem Schlaf gerissen ist, wird mit den Zugezogenen unaufhaltsam sichtbar. In einer Idee ziehen die Werbener längst an einem Strang: Curt Pomp, der als Retter der Lüneburger Altstadt bekannt wurde und für seine Initiative das Bundesverdienstkreuz erhielt, warb bei den Werbenern für die Wiederbelebung der Biedermeiertradition als besonderes Stadt-Image. Mittelalter – das spielen schon zu viele andere. So schlüpfen die Leute zweimal im Jahr, am ersten Juli-Wochenende und im Dezember in Biedermeierkostüme – auch der Bürgermeister und seine Frau wandeln im zeitgenössischen Kostüm umher – sperren die gesamte Innenstadt für den Autoverkehr, treiben Handel mit Selbstgemachtem, fahren auf Draischen Laufrädern und plaudern bei weinhaltigen Getränken an den Marktständen vor der Kirche.

Gäbe es die zahlreichen Impulse von außen nicht, vielleicht würde in Werben tatsächlich die Zeit stehenbleiben wie in einem schwärmerischen Poem. Offenbar gehen hier Abgeschiedenheit, vom Verfall bedrohe Idylle, Schöpferkraft, individuelle Rückzugssehnsucht mancher Städter mit der historischen Architektur eine Symbiose ein. 2015 wurde in Werben die Grundschule geschlossen. Ein paar junge Eltern – von denen es sicher zu wenige gibt – versuchten mit einem freien Träger einen Neuanfang für ein Schulangebot. Scheiterten aber an den Ministerialbeamten im Bildungsministerium. Magdeburg ist oft zu weit entfernt von den Wünschen und Anliegen kleiner Dorfgemeinschaften. Immerhin besuchte Staatsminister Rainer Robra am 18. Juli Werben und überreichte einen Fördermittelbescheid für die Sanierung des mächtigen Kirchendachs. Vielleicht sollte manche Förderung in der Magdeburger Landesregierung überdacht werden, solche, die Millionengelder in waghalsige Unternehmungen spülen und die am Ende meistens verloren sind. In Werben zeigt sich, welche Wirkung von selbstorganisierenden Kräften ausgeht und welche Anziehung das auf Menschen in Berlin, Hamburg, Köln oder Magdeburg besitzt. Solche tummeln sich mittlerweile in spürbarer Anzahl in der Altmark. Vielleicht macht so ein Konzept häufiger Schule im Land, weil das Buhlen um große Industrieansiedlungen oft ein erfolgloses Unterfangen bleibt. Werben könnte ein Gegentrend zur Verstädterung sein und zeigt, dass Menschen abseits der Betriebsamkeit von Metropolen andere Pläne zum Leben schmieden, solche die vom Fall zum Werden erzählen. Thomas Wischnewski

Werben – ein Ort ist aus dem Schlaf gerissen

Bürgermeister Wolfgang Tacke.

Steckbrief Werben

  • Ersterwähnung als Burg Werben im Jahre 1005
  • Fläche: 53,39 km²
  • 649 Einwohner, mit Eingemeindungen 1.106 (Stand 31.12.2016)
  • 17 eingetragene Vereine
  • Bürgermeister: Wolfgang Tacke (seit 06.12.2016, parteilos)
  • Besonderheiten: Biedermeier-Sommer jeweils im Juli und Biedermeier-Christmarkt immer am 3. Adventswochenende

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