Was ist eigentlich Toleranz?

In Naturwissenschaft und Technik ist der Toleranzbegriff sehr zentral. Toleranz ist die Abweichung von einem definierten Nennwert. Ist z.B. ein Längenmaß, sagen wir mal 50 mm an einem Werkstück einzuhalten, dann weiß jeder Ingenieur, dass das exakte Fertigen von 50 mm unmöglich ist. Man muss also eine Toleranz, d.h. eine Bandbreite angeben, in der das reale, gefertigte Maß liegen darf, um akzeptiert zu werden. Beispielhaft gelte 50 ± 0,5 mm, d.h., das gefertigte Maß darf sich zwischen 49,5 und 50,5 mm befinden. Die Festlegung einer Toleranz, d.h. einer zulässigen Abweichung, setzt immer die Definition eines Bezuges (hier des Nennmaßes) voraus. Nehmen wir andere physikalische Eigenschaften, z.B. Temperatur, Geschwindigkeit usw., so gilt das Gesagte sinngemäß. Etwas komplizierter wird es, wenn wir in den politisch-sozialen Bereich wechseln. Wenn hier stets von Toleranz gesprochen wird, muss zuerst klar sein, welche Eigenschaft toleriert werden soll. Inwieweit kann man z.B. eine Ausdrucksweise tolerieren, die permanent Fäkalbegriffe enthält, die die sogenannte „Hate speech“ benutzt, um Andersdenkende zu diffamieren oder sagen wir mal, weil das im Augenblick wichtig erscheint, die nicht „politisch korrekt“ ist. Genau das hängt eben von der Bandbreite der Abweichung, also von der Toleranz ab. Den Begriff der Toleranz ohne die Vorgabe einer Bandbreite zu benutzen ist vollständig unmöglich, es sei denn, die Toleranzgrenzen werden aufgehoben. Im obigen Beispiel würde das bedeuten, dass z.B. die Länge von 50 mm beliebig über- oder unterschritten werden darf, wie jeder sofort merkt, eine völlig sinnfreie Maßnahme, die mit Sicherheit nicht zu dem gewünschten Werkstück führt. Man kann nun feststellen, dass das im gesellschaftlichen Bereich völlig anders ist, da der Begriff „Toleranz“ heutzutage gerade mit seiner Entgrenzung einhergeht. Damit besteht aber überhaupt keine Möglichkeit mehr, sich in einem konträren Gespräch anzunähern und einen Kompromiss zu schließen, der von beiden Seiten verlangt, die Toleranzgrenzen ggf. zu korrigieren. Wenn also heute apodiktisch, im Sinne einer Erziehungsaufgabe für Teile der Bevölkerung davon gesprochen wird, dass sie Toleranz erlernen müssen, dann ist das eine sinnleere Formel, unspezifisch, unkontrollierbar und vor allem sachlich falsch. Die Apologeten derartiger Erziehungsziele müssen sich also erst einmal selbst mit dem Thema beschäftigen, bevor sie anderen mangelnde Toleranz vorwerfen dürfen. Man könnte meinen, dass wir die Sache hier zu reduktionistisch sehen, zu sehr an ein überschaubares technisches Beispiel gebunden. Das ist aber nicht so. Wir greifen hier auf die Erklärung von Prinzipien der Toleranz, wie sie auf der 28. Generalkonferenz (Paris, 25. Oktober bis 16. November 1995) von den Mitgliedstaaten der UNESCO verabschiedet wurden, zurück und zitieren aus § 1.4: „In Übereinstimmung mit der Achtung der Menschenrechte bedeutet praktizierte Toleranz weder das Tolerieren sozialen Unrechts noch die Aufgabe oder Schwächung der eigenen Überzeugungen. Sie bedeutet für jeden einzelnen Freiheit der Wahl seiner Überzeugungen, aber gleichzeitig auch Anerkennung der gleichen Wahlfreiheit für die anderen. Toleranz bedeutet die Anerkennung der Tatsache, daß alle Menschen, natürlich mit allen Unterschieden ihrer Erscheinungsform, Situation, Sprache, Verhaltensweisen und Werte, das Recht haben, in Frieden zu leben und so zu bleiben, wie sie sind. Dazu gehört auch, daß die eigenen Ansichten anderen nicht aufgezwungen werden dürfen“. Insbesondere der letzte Satz sollte allen Tole-ranzeiferern zu denken geben, die nur dann tolerant sind, wenn ihr Gesprächspartner ihre Meinung „toleranzfrei“, d.h. absolut akzeptiert. Beobachten wir deshalb mal einige unserer politischen und medialen Wortführer und prüfen, ob sie bei der Akzeptanz anderer Meinungen nicht toleranter sein müssten, weil gerade ihre Intoleranz die Gesellschaft spaltet. (VIO)

Zurück