Vormarsch der Vorurteile
Es strebt der Geist danach, Unfassbares fassbar zu machen. Die Welt erscheint uns erschlossen. Selbst dem Universum entlockt der Mensch manches Geheimnis. Doch brechen in der Gesellschaft politische Ansichten aus bisher sicher geglaubten Bahnen, erzeugt das vielfach Fassungslosigkeit. Reaktionen darauf münden in Vorurteile. Ein Versuch, die Unfassbarkeit vorurteilsfrei fassbar zu machen.
Der Mensch ist voller Vorurteile. Niemand kann sich anmaßen, davon frei zu sein. Individuelle Erfahrungen und persönliches Wissen sind stets begrenzt. Und deshalb fällen wir im Alltag häufig Urteile, ohne zuvor Menschen, Sachverhalte oder Situationen einer gründlichen und umfassenden Untersuchung unterzogen zu haben. Meistens ist das auch gar nicht möglich. Grundsätzlich sind Vorurteile nichts Schlimmes, auch wenn ihnen im Kern überwiegend eine negative Bedeutung beigemessen wird. Allerdings zeigt das gesellschaftliche Klima im Land eine Tendenz, die auf eine quantitative Zunahme und qualitative Verengung von Vorurteilen hindeutet.
Ein Blick in die Zeit der Aufklärung offenbart, dass dort Vorurteile gegen die Aristokratie schon als als Kampfbegriffe genutzt wurden. In politischen und ideologischen Auseinandersetzungen bestimmen eben vorauseilende Verallgemeinerungen jede Debatte. Genau in einem solchen sich weiter zuspitzenden Zustand scheinen sich unterschiedliche geistige Strömungen in Deutschland einzunisten. Als Ausgangspunkt kann man die Kritik an der Zuwanderungs- und Flüchtlingspolitik festmachen. Selbstredend wurden in dieser Phase vorrangig durch Pegida und AfD fortwährend die zu Hundertausenden – zumeist Menschen mit muslimischem Glauben – in die Bundesrepublik geströmten Menschen, mit Vorurteilen überschütet. Die Kritiker der Flüchtlingspolitik wurden indes von den Befürwortern ebenso mit Bezeichnungen überzogen, die genauso vorteilsbehaftet waren. Das ist allseits bekannt und führt heute regelmäßig zu Wir-sind-mehr-Bewegungen oder genau in die Sammlung von deren Gegnerschaft.
Betrachtet man heute die Kritik, die vorrangig an der auf Bundeskanzlerin Merkel reduzierte Verantwortung, bleibt festzustellen, dass die Ablehnung kaum an den Flüchtlingen, sondern vielmehr an den politischen Entscheidungen festmacht. Dennoch wird jede kritische Sichtweise häufig schon fast wie eine allergische Reaktion mit Kampfbegriffen wie „Rassisten“ oder gar „Nazis“ beantwortet. Rechte und Linke bewerfen sich gegenseitig mit Extremismusvorwürfen. Eine echte politische Mitte wird selten sichtbar, erscheint unter dem Vorurteilsgeschützdonner zu verstummen oder dringt gar kaum irgendwo durch. Jede noch so kleine Parteinahme in irgendeine Richtung wird diffamierend vom jeweiligen politischen Lager in die eine oder andere Gegenposition gedrängt.
Etiketten für Rechtsextremismus, Rassismus und Faschismus werden übrigens schnell jedem angeheftet, der offenbar nicht bunt und weltoffen auf der Stirn stehen hat. Damit blenden diejenigen, die solche Vokabeln verwenden, eigentlich aus, dass 85 Jahre deutsche Geschichte in Menschen überhaupt nichts bewegt hätten. Die Gleichsetzung von Menschen mit der Programmatik der Nationalsozialisten ist fatal. Nicht die Kritiker an der Zuwanderungspolitik machen sich zu „Nazis“ und „Rassisten“, sondern sie werden von der Gegenseite dazu abgestempelt und im Auge unbeteiligter Dritter – womöglich noch Heranwachsenden mit wenig gesellschaftspolitischer Erfahrung – mit einer Vernichtungs-Ideologie gleichgesetzt.
Mit umgekehrten politischen Vorzeichen wird aber genauso verfahren. Jedes Argument, das ideologisch links verortet wird, steht auf der rechten Vorurteilsseite sofort unter dem Verdacht, kommunistische Propaganda zu sein, die unweigerlich in eine Vernichtungsmaschinerie à la Josef Stalin oder Mao Zedong führen würde. Es zeigt sich ergo: Das eine Voruteil ist genauso schlecht wie das andere. Ein echter inhaltlicher Streit findet allzu selten statt. Die Gräben werden tiefer und es zählt letztlich nur noch, welche Fronteinheit mehr Köpfe zählt, aber nicht, wer die besseren Lösungen offeriert. Am Ende wartet nur jeder darauf, in seinem Vorurteil Bestätigung zu finden. Und mit jedem Ereignis, dass eine befangene Meinung stützt, wird letztlich jedes Vorurteil nur verstärkt. Der Journalismus der vergangenen Jahre hat diesbezüglich keine rühmliche Rolle gespielt. Denn zu oft spiegelten die Darstellungen in vielen Medien ebenso einseitige Vorurteile wieder. Der Prozess eines differenzierten Umgangs mit Meinungen steht vielleicht erst am Anfang, wenn nicht mehr einseitig von „Abgehängten“, „Unwissenden“ oder gar „Nazis“ die Rede ist.
Deutlich wird unter den Entwicklung auch, dass die sogenannten „Sozialen Medien“ eben kein geeigneter Ort für differenzierte Debattten sind. Hier trifft in der Regel unter den Debattierenden nur Vorurteil auf Vorurteil. Das trägt zur Abgrenzung und Spaltung bei, aber nicht zur Öffnung für Argumente. Einer versucht nur, dem anderen mit seinen Wortkeulen eins überzuhelfen. Hier findet – man muss schon Gott sei Dank sagen – nur ein „Stellvertreterkrieg“ statt. Allerdings wird sich emotional aufmunitioniert, sodass die Gefahr für eine Entladung auf der Straße wächst. In den Begegnungen zwischen Links- und Rechtsextremen wird dies zunehmend sichtbar. Darin zeigt sich die eigentlich destruktive Kraft eines Aufeinandertreffens und Schürens an Vorurteilen. Die Mehrheit schüttelt dann fassungslos die Köpfe, hat aber letztlich wenig zur Debatte beigetragen, sondern allen Vorverurteilungen nur ihren Lauf gelassen.
Im Kern eines jeden Vorurteils steckt der Versuch, eine Aussage über die Zukunft machen zu wollen. Es geht darum, aus Wissen und Erfahrungen eine Prognose für das unfassbar Kommende abzugeben. Wir benötigen so etwas wie eine prophetische Natur, um das gegenwärtige Handeln für seine möglichen Ergebnisse auszurichten. Allerdings bleibt dies oft ein untaugliches Unterfangen. Überhaupt erweist sich das Weltgeschehen als ein undurchschaubares Geflecht. Deshalb münden Vorurteile manchmal in Verschwörungstheorien. Auf der Weltbühne treten Ereignisse und Prozesse zutage, die nur allzu widersinnig erscheinen. Der Verstand möchte sie dennoch durchschauen und erklären. Schnell ist dann davon die Rede, dass ein paar wenige Mächtige im Hintergrund die Fäden zögen und Herde der Schäfchen ins Unglück oder in Abhängigkeiten lenkten. Hierbei zeigt sich ein Paradox: So überzeugend die Abhängigkeit von Beeinflussungen aufgetrumpft wird, so frei schwebend und unabhängig ist die angebliche Einsicht vom erkannten Gängelband entfernt.
Doch zurück zum Vorurteil. Sie beherrschen uns in jeder Phase unseres Lebens. Die älteren Generationen trauen den Jungen wenig zu und junge Menschen verabscheuen häufig alles, was ihre Vorfahren getan haben, unter dem Vorhaben es künftig viel besser machen zu wollen. Die Zeitgenossen der Industrialisierung tragen für die Mieseren der Umweltzuerstörung, am Ressourcenraubbau und natürlich am Klimawandel die Schuld. Für welche Machenschaften einst die Nachfahren des heutigen Nachwuchses ihre Eltern und Großeltern zur Rechenschaft ziehen werden, steht noch in den Sternen. Dieses Phänomen soll nicht den kritischen Umgang mit der eigenen Lebensweise unterlaufen, sondern nur aufzeigen, dass es keine Befreiung von den Vorurteilen zwischen den Generationen geben kann. Ähnlich ist es zwischen unterschiedlichen Geschlechtern, Kulturen, Ethnien, Unternehmen, staatlichen Gebilden, Gruppenzugehörigkeiten etc. Niemand kann die vielen anderen in ihren Beweggründen komplett durchschauen. Von daher bleiben Vorurteile ein beherrschendes Element.
Gegenüber einer fortschreitenden Automatisierung, Digitalisierung und dem Einsatz sowie der Entwicklung Künstlicher Intelligenz existieren allerhand Vorurteile. Ob berechtigt oder nicht sei dahingestellt. Es gibt aber keine andere Chance, als Neuem sowohl mit Offenheit als auch mit Skepsis zu begegnen. Wer nur Vorteile predigt oder ausschließlich den Teufel an die Wand malt, stellt sich auch nur als Vorverurteilender ins Rampenlicht. Künftige Generationen werden lernen, mit den Gegebenheiten ihrer Zeit umzugehen, zumal die Mahner der Vergangenheit, deren Erfahrungen noch aus anderen Bedingungen herrührten, nicht mehr mitreden und mitgestalten können.
Es gilt aber, aus dieser Erkenntnis gelassener mit dem Vorurteil anderer umzugehen. Denn Gleiches mit Gleichem zu vergelten, führt eben nicht in einen Lösungsprozess. In jeder Situation Vorurteilsfreiheit zu fordern, ist eine genauso oberflächliche Sichtweise wie das Vorurteil selbst. Da sich niemand Voraussagen entziehen kann, haben Untergangsprophezeiungen Hochkonjunktur. Gegenseitige Vorurteile mehr und mehr zu schüren, treibt jeder Seite nur noch mehr Jünger in die Arme.
Zum Schluss sei hier ein Vorurteil gewagt: Der Vorschmarsch der Vorurteile führt letztlich in die selbsterfüllende Prophezeiung. Politisch gesprochen orakeln jene, die eine offene Gesellschaft propagieren und anderen das Mitspracherecht an der Debatte darüber absprechen und durch diese die Demokratie in Gefahr sehen, einen Untergang. Genauso sehen die anderen unter einer Angst vor einer Islamisierung auch nur eine Gefährdung bisher gekannter kulturell-tradierter Freiheiten im Land der Aufklärer mit christlichen Kulturfundamenten. Beide Seiten propagieren dasselbe vom jeweils anderen Betrachterstandpunkt aus. Nicht die einseitige Schuld, sondern beide Voraussagen über den Verlust an Demokratie führen am Ende zur erfüllten Prophezeiung. Wer für Freiheit ist, darf nicht im Kampf für eine Sache gefangen sein. Thomas Wischnewski