Von Magdeburg nach Brüssel und zurück

Am 26. Mai werden hierzulande Kommunal- und EU-Parlament gewählt. Die Zustimmung zu gemeinsamen europäischen Institutionen scheint zu schwinden. Doch vielleicht ist das Negativ-Orakel mehr eingeredet als echt. Bis auf die EU-Anfangsjahre hatten Wahlen selten hohe Bürgerbeteiligungen. Das könnte Gründe in mancher rechtlicher Konstruktion haben.

Der 26. Mai erscheint so etwas wie ein Schicksalsdatum zu sein. Jedenfalls bekommt man den Eindruck, weil häufig von Politikern beschworen wird, dass mit dem Vormarsch rechter Parteien der europäische Untergang, zumindest der für die Europäische Union, bevorstünde. Zweifelsfrei ist die Idee einer EU mit Freizügigkeit im Reisen, für wirtschaftlichen und kulturellen Austausch sowie für Flexibilität bei Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten eine vorzügliche. Doch so positiv solcherlei Errungenschaften daherkommen, so treten eben auch Schattenseiten zutage. Wer ausschließlich die guten Seiten betont, vernachlässigt Ungleichgewichte und wird damit selbst zum Förderer seiner Kritiker.

Brüssel ist weit, mag man von Magdeburg aus denken. Schließlich wählen die Bürger der Landeshauptstadt am selben Wahltag zum europäischen Parlament einen neuen Stadtrat. Genauso wie sich in vielen anderen sachsen-anhaltischen Kommunen neue Ortschafts- und Gemeinderäte formieren sollen. Die Kopplung von Europa- mit Kommunalwahlen oder auch anderen Abstimmungsterminen fußt darauf, dass die Bürgerbeteiligung am Urnengang zu gering ausfallen würde. Und tatsächlich sank die Beteiligung über die Jahre. 1979 fanden in neun Ländern (Belgien, Dänemark, Deutschland, Irland, Frankreich, Italien, Luxemburg, Niederlande, Großbritannien) erstmals Wahlen statt. Die durschnittliche Beteiligung lag bei 61,99 Prozent. Mit 91,36 Prozent war sie in Belgien am höchsten, mit 32,35 Prozent in Großbritannien am niedrigsten. Deutschland war mal mit 65,73 Prozent gestartet. Seit 1999 lag die Wahlbeteiligung immer unter 50 Prozent, zuletzt 2014 bei 48,1 Prozent. In vielen osteuropäischen Staaten lag sie meist unter 30 Prozent (2014: Tschechien 18,2 Prozent, Ungarn 28,7 Prozent, Polen 23,8 Prozent, Slowakei 13 Prozent). Eine so oft beschworene EU-Befürwörterschaft drückt sich jedenfalls kaum in den Zahlen der einzelnen Wahlvölker aus. Nur in Belgien mit der Brüsseler EU-Zentrale liegt die Wahlbeteiligung regelmäßig bei rund 90 Prozent. Vor allem in Ländern, die hohe Zuweisungen von der EU erhalten, ist der Zuspruch in der Bevölkerung offenbar relativ gering. Litauen erhielt 2017 pro Einwohner 451 Euro, aber nicht einmal die Hälfte macht sich dafür auf den Weg zur Abstimmung. Auch Ungarn gehört mit 321 Euro pro Einwohner zu den größten Nettoempfängern, doch nur gut ein Viertel der Ungarn beteiligt sich am Urnengang.

Als vor zwei Jahren die Briten über den Austritt abstimmten, sparten Politiker aller Parteien nicht mit Selbstkritik. Europa ja, aber nicht einfach weiter so, lautete eine oft gebrauchte Beschreibung. Wo sind inzwischen Veränderungen spürbar geworden? Ein Untergangsszenario, wie es manchmal prophezeit wird, bleibt doch eher unwahrscheinlich. Ein europäischer Einigungsprozess und identitätsstifende Entwicklung kann kein Automatismus sein, der sich in Institiutionen ausdrückt. Zur Wahl stehen Parteien mit ihren Kandidaten für das EU-Parlament. Weder wählt der Bürger die Europäische Kommission und schon gar nicht den Europäischen Rat, in dem die Regierungschefs der Mitgliedsstaaten sitzen. „Das Parlament ist Mitgesetzgeber, d. h. es verfügt über die Befugnis, Rechtsvorschriften der EU anzunehmen und zu ändern, und es entscheidet – in gleichberechtigtem Zusammenwirken mit dem Rat – über den Jahreshaushalt der EU … Der Rat ist zwar nicht rechtlich verpflichtet, der Stellungnahme des Parlaments zu folgen, muss jedoch abwarten, bis diese vorliegt, bevor er einen Beschluss fassen darf“, heißt es auf der Internetseite des Parlaments. Damit sind die entsendeten Abgeordneten gar nicht einzige Vertreter eines europäischen Souveräns, der aber mit der Wahl irgendwie ständig vermittelt wird. Die nationalen Interessen – also der Einwand vieler Kritiker, dass daran ein Mangel wäre – prallen im Euroäischen Rat aufeinander, in dem ohnehin maßgeblich die Ausrichtung und Gesetzgebung bestimmt werden.

Was aus deutscher Sicht häufiger zu Irritationen führen kann, ist das europäische Verwaltungsrecht. Das folgt nämlich der französischen Rechtsdogmatik, wonach Verordnungen eher Ziele vorgeben. In unserem Rechtsverständnis sind Normen nämlich der Rahmen, in dem Handeln möglich ist. Wahrscheinlich stoßen europäische Erlasse und Gesetze deshalb häufiger auf Unverständnis, weil sie eher Zielvorgaben formulieren als Handlungsspielräume zu eröffnen. Darin könnte ein Grund liegen, warum Europapolitik oft zentralistisch und wirklichkeitsfremd gegenüber regionalen Bedingungen erscheinen mag. Die europäische Bürokratie wird oft als übergewaltig und zentralis-tisch wahrgenommen. Dabei sind im Verwaltungsappart der EU-Kommission etwa 32.000 Mitarbeiter beschäftigt. Allein in München arbeiten 38.000 Mitarbeiter für die Stadtverwaltung. Detaillierte örtliche Belange können in der EU also kaum Berücksichtigung finden. Menschen leben aber vor allem konkret unter realen Bedingungen innerhalb ihres Lebensumfeldes und weniger unter allgemeinen und abstrakt formulierten Zielsetzungen höherer Ebenen. In dieser Diskrepanz kann ebenfalls eine Ursache für Distanzierungen gegenüber der EU liegen. Je höher und weiter die Ebene einer Normsetzung delegiert wird, je größer die Anzahl zu organisierender Individuen, umso mehr Ohnmacht gegenüber einer Institution entsteht. Über solche Phänomene findet sich selten etwas in politischen Reden. 512 Millionen Menschen leben in den derzeit 28 EU-Mitgliedsstaaten. Wie viele Partikularinteressen in einem nur gesetzgebungsbegleitenden Parlament mit 751 Abgeordneten berücksichtigt werden können, ist in der Tat fraglich.

Dabei brauchte es innerhalb der weitweiten Entwicklungen eine starke europäische Stimme. Auch die wird gern politisch gefordert und herbeigesehnt. Nur war sie offenbar in der bisherigen  EU-Konstruktion gar nicht  wirklich vorhanden. Das Bruttoinlandsprodukt der USA lag 2018 bei ermittelten 17,35 Billionen Euro, das der EU-Länder bei ca. 15,67 Billionen Euro. China erzielte rund 11,36 Billionen Euro. Während die Chinesen auf dem Vormarsch sind und von der US-Administration unter Donald Trump mit Zöllen behindert werden sollen als auch die eigene Wirtschaft vor asiatischen Warenfluten zu schützen, geben EU-Länder eher ein kleinstaatlich zerrissenes Bild auf der Bühne der Weltpolitik ab. Jeder europäische Regierungschef fährt noch am liebsten selbst in der Welt herum und handelt im nationalen Interesse, nur wird das eben kaum kommuniziert. Im Gegenteil, es wird der gemeinsame europäische Gedanke gepredigt, obwohl er offenbar selten das tragende Verhandlungsmotiv ist. Was den Bürgern also mit ihrer politischen Stimme an europäischen Gemeinschaftsbekenntnisses abverlangt wird, hält die Regierungsebene offenbar selbst kaum ein. Die komplexen Auswirkungen einer europäischen Währungspolitik und -lenkung können hier noch nicht einmal angerissen werden, um das nationale Driften auf dem Kontinent verstehen zu können.

Zurück nach Magdeburg. Im neugewählten Stadtrat soll über die Ausrichtung der weiteren Entwicklung der Landeshauptstadt diskutiert und abgestimmt werden. Doch das kommunale Parlament ist in seiner Rechtsstellung ähnlich aufgestellt wie das EU-Parlament. Hier kann über Bebauungspläne abgestimmt werden, über manche Verordnung und Gebühren, die Prioritäten für den städtischen Haushalt werden gesetzt und Personalentscheidungen für städtische Betriebe getroffen. Doch der Stadtrat ist kommunalrechtlich „nur“ ein Organ der Stadtverwaltung und selbst der Oberbürgermeister hat Rechte und Funktionen, in die ein ehrenamtlicher Stadtrat nicht hineinreden darf. So muss der OB beispielsweise Aufgaben im sogenannten übertragenen Wirkungskreis für Bundesregelungen übernehmen. Beispielsweise bei der Organisation von Sozialgeldansprüchen oder für Asylantragssteller erfüllt die städtische Verwaltung Aufgaben, für die der Stadtrat kein Mitsprachrecht hat. Selbst bei der Aufstellung von Verkehrsschildern in Magdeburg gilt die Straßenverkehrsordnung als Bundesrecht. Da kann das Kommunalparlement gar keine Vorschriften machen. Wenn es um Umweltpolitische Aspekte, Energiepolitik, Verbraucherschutz oder wirtschaftliche Ordnungspolitik geht, greifen vielfach sogar europäische Vorgaben.

Dennoch gehen vom Stadtrat wichtige Impulse für die Entwicklung aus. Die Pätze für die Kinderbetreuung, Schulstandortplanung, die Stadtplanung mit Verkehrsadern, Parkflächen und Freizeitangeboten werden im Rathaus unter den vertretenden Stadtärten ausgehandelt. Vergessen werden darf dabei nicht, dass jedes politische Engagement im Kommunalparlament ein ehrenamtliches ist. Oft genug sitzt da ein Bürger dem geballten Sach- und Rechtsverstand der Verwaltung gegenüber. Ideen, die also aus der Bürgerschaft über Fraktionen oder einzelne Stadträte in die Debatte eingebracht werden, scheitern manchmal daran, dass Verwaltungsmitarbeiter übergeordnete Rechte einwenden können oder gar wollen, unter denen kommunalpolitische oder Stadtteilziele aufgerieben werden. Allein das Vergaberecht für öffentliche Aufträge, das insbesondere für große Vorhaben europäischen Regeln gerecht werden muss, ist oft genug ein kompliziertes Verwaltungskonvolut, das den hiesigen Bedingungen in keiner Weise gerecht wird.

Kommunales und Europa ist also nicht nur an einem Wahltag miteinander verknüpft, sondern vielfach mit allen gesellschaftlichen Steuerschrauben verzahnt. Allerdings hatten sich 2014, bei der vergangenen Kommunal- und Europawahl nur 38,6 Prozent (74.684 Wähler von 193.706 Wahlberechtigten) der Magdeburger zur Stimmabgabe bereitgefunden. Sowohl die örtliche Maßgabe als auch die europäische Indentifikation genießt offenbar bei vielen nicht den angemessenen Stellenwert, obwohl in beiden Ebenen viel Positives als auch Negatives erzeugt wird, das in jedem Leben wirkt. Thomas Wischnewski

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