Utopie trifft auf Realität Что делать?

Vor 100 Jahren ergriffen die Kommunisten in Russland die Macht und revolutionierten die Gesellschaft nach den Ideen des geistigen Vaters Karl Marx. Die Macht im Staat sollte von den Arbeitern und Bauern ausgehen. Die Herrschaft der Massen mündete in Diktatur und Bevormundung. Volkseigentum vor Privateigentum sollte eine gerechte Verteilung der wirtschaftlichen Früchte ermöglichen. Gerechtigkeit war der Leitgedanke für alles. Sind marxistische Ideen zukunftstauglich und können sie einer ungerechten Vermögensverteilung etwas Realistisches entgegenhalten?

Gerechtigkeit ist ein großes Wort und sich dafür engagieren zu wollen ein zutiefst humanistisches Anliegen. Spätestens mit Immanuel Kant, der aus der Aufklärung heraus eine Ethik der Vernunft formulierte, wurde der Gerechtigkeitsbegriff vom Himmel zurück auf die Erde geholt. Verstand man bei den alten Griechen darunter noch eine menschliche Tugend, war man im Mittelalter eher der Auffassung, es mit einer göttlichen Größe zu tun zu haben. Nichtsdestotrotz erfuhr das Wort unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen immer wieder eine Neubewertung. Vor allem Karl Marx mit seiner Definition von Klassengesellschaften und der Analyse kapitalis-tischer Produktionsverhältnisse formulierte im Modell des Kommunismus die Vision einer Gerechtigkeitserfüllung.

Als am 25. Oktober 1917 (nach Julianischem, 7. November nach Gregorianischem Kalender) die kommunistische Bolschewiki als eine Minderheit die Macht an sich riss, glaubten deren Protagonisten, nun am Anfang einer gerechten Gesellschaftsordnung zu stehen. In den Morgenstunden des 26. Oktobers 1917 verkündete der 2. Allrussische Sowjetkongress das Dekret über Grund und Boden und damit die entschädigungslose Konfiszierung aller Ländereien von Gutsherren, Kirchen und Staatsdomänen inklusive lebendem und materiellem Inventar dar. Dies war de facto die Nationalisierung des Landes (150 Mio. Hektar). Der Privatbesitz an Fabriken und Unternehmen blieb zunächst (bis Mitte 1918) bestehen. Volksherrschaft und damit einhergehend sollten die Früchte jeder Produktion nicht einzelnen zugute kommen, sondern eine Teilhabe aller daran ermöglichen. Die Geschichte mit der Installation einer Diktatur mit verheerenden Unterdrückungsmechanismen bis hin zu Verfolgung, Folter und Massenmord hat die Utopie ad absurdum geführt. Um die Vision, die sich mit dem Wort Kommunismus verband, nicht ganz zu verlieren, verweisen heutige Marxismusbefürworter darauf, dass der so genannte real existierende Sozialismus ja gar nichts mit der Vorstellung einer kommu-nistischen Gesellschaft zu tun gehabt hätte.

Blicken wir indes auf den offensichtlichen Siegeszug des Kapitalismus und dessen heutige Erscheinungen, treten ungerechte Entwicklungen enormen Ausmaßes zutage. Aber hilft eine kommunistische Utopie wirklich, um den Maßstäben von Ungerechtigkeit eine realistische Idee entgegenzusetzen? Что делать, (russ. tschto delat, was tun?), müsste man heute fragen, so wie es einst Lenin 1902 in seinem Hauptwerk tat, das die Theorie der „Avantgarde des Proletariats“ manifestierte. Aber das Problem fängt schon an der Stelle an, eine „Vorhut“ zu definieren und zu glauben, dass diese wüsste, wie sie allen Gerechtigkeit angedeihen lassen könnte. Vielleicht liegt bereits in der Annahme, die Verhältnisse der Menschen zueinander in einer bipolaren Trennung in Kapitalismus und Kommunismus begreifen zu können, das Missverständnis. Gehen wir noch einmal zu Marx zurück. Er entwickelte seine Kritik an den kapitalistischen Bedingungen zu einer Zeit, als die Industrialisierung noch am Anfang stand. Die Weltbevölkerung bestand 1850 aus etwa 1,26 Milliarden Menschen. Obwohl er für die Entwicklung des Finanzkapitals schon damals eine beispiellose Prognose abgab – nämlich über einen weltweiten Aktionsradius, der sich jeder nationalen Steuerung entzieht – passen seine Klassenbegriffe und die darauf begründeten Ableitungen für eine Neuordnung von Herrschaftsbedingungen nicht auf die Moderne.

Überhaupt ist es fraglich, ob man die Welt von heute mit aktuell 7,55 Milliarden Menschen, mit extremen Einkommensunterschieden, mit radikaler Ressourcenvernichtung und einem kaum mehr überblickbaren Waren- und Informationsaustausch noch in ein einziges theoretisches Modell pressen kann, das diesem Interaktionspotenzial gerecht würde. Möglicherweise ist die Ohnmacht gegenüber dem Ausmaß internationaler Akteure, die sich heute global bewegen, sogar ein wesentlicher Grund für das Wiedererblühen nationaler Sehnsüchte und das damit einhergehende Erstarken rechter Parteien. Das Koordinatensystem Menschheit erscheint einfach zu gewaltig, als dass man deren Interaktionen ein bloßes Theoriegebäude überstülpen könnte.

Ein paar Fakten: Wir sehen in Deutschland eine sich stärker öffnende Schere zwischen Arm und Reich. Um eine höhere Besteuerung hoher Einkommen und großer Vermögen wird politisch gestritten. Und es klingt nur allzu gerecht und vernünftig, hier einen Hebel zugunsten des sozialen Ausgleichs anzusetzen. Aber man muss zugleich fragen, was wir mit deutschen internationalen Wirtschaftsakteuren machen, wenn wir sie im weltweiten Wettbewerb mit ihresgleichen beschneiden. Kaufen dann noch schneller ausländische Investoren deutsche Firmen bzw. deren Know-how auf und nutzen dies für eigene Interessen? Wie geht man mit der Gerechtigkeitsfrage bei Einkommensunterschieden um, wenn man eine Weltbrille aufsetzt? Im weltweiten Einkommensvergleich steht Deutschland mit 39.443 Euro pro Jahr und Kopf auf Rang 18 gleichauf mit Kanada und gefolgt von Hongkong (39.064 Euro). Unter den 1,3 Milliarden Indern beträgt das durchschnittliche Pro-Kopf-Jahreseinkommen 1.518 Euro. Wollte man bei gleichbleibender Bevölkerung eine ausgleichende Steigerung anstreben, was wären die Folgen?  Wohlstand wird – jedenfalls bei uns – vorrangig als Kaufkraft begriffen. Braucht es, um die Lebensbedingungen auf dem Planeten nicht vollends zu zerstören – bei einer annähernden Einkommensgerechtigkeit – etwa ein Diktat gegen Bevölkerungswachstum?

Wir wissen, dass europäischer Wohlstand viel mit dem ungerechten Gefälle in der Welt zu tun hat und natürlich mit Kapitalflüssen und Produktionsverlagerungen in Ländern mit niedrigsten Arbeitskosten. Einerseits ermöglichte dies Wohlstandsteilhabe für Menschen in solchen Staaten, andererseits ist jeder Versuch, darunter Gerechtigkeitsmaßstäbe anzulegen, ein absurder. Marx entwickelte den Begriff der „entfremdeten Arbeit“. Demnach wäre Privateigentum Produkt der entfremdeten Arbeit, wie auch Mittel, durch welches sich die Entäußerung der Arbeit beständig weiter realisiert. Der Arbeiter produziert in seiner Tätigkeit nicht nur eine anwachsende Zahl ihm fremder Waren, mit ihnen reproduziert er auch zugleich das ihn ausbeutende Lohnarbeitsverhältnis selbst und die Warenförmigkeit seiner Arbeit. Der Arbeiter werde umso ärmer, je mehr Reichtum er produziert. Das mag theoretisch schlüssig klingen. In Deutschland beträgt der Anteil der Beschäftigten in produzierenden Tätigkeiten noch 24,9 Prozent. Der überwiegende Teil, über 74,2 Prozent arbeitet in Dienstleistungsbereichen. Und wie soll man einen Begriff der Entfremdung im fortschreitenden Digitalzeitalter verstehen, wenn zunehmend Informationen den Austausch zwischen den Menschen bestimmen?

Ein anderes Feld: Rund zwei Millionen Menschen leben derzeit in Deutschland von Arbeitslosengeld, 4,4 Millionen beziehen das sogenannte Arbeitslosengeld II, auch Hartz IV genannt. Dazu kommen über eine Millionen Menschen, die Hilfen zum Lebensunterhalt bekommen. Außerdem beziehen 25,5 Millionen Menschen Renten. Man könnte diese Zahl zusammenfassen und sagen, dass rund 30 Millionen Menschen in diesem Land bereits ein bedingungsloses Grundeinkommen erhalten. Die Bedingung, die an Nicht-Rentner gestellt wird, ist, dass sie nichts tun dürfen. Ist es gerecht, dieses brach liegende millionenfache Potenzial an Ideen und Schaffenskraft vom gesellschaftlichen Nutzen abzuschneiden, vor allem vor dem Hintergrund eines proklamierten Arbeitskräftemangels in vielen Bereichen? Und diese Tatsache hat noch nicht einmal etwas mit einem kapitalistischen Ausbeutungsaspekt zu tun. Braucht es einen Marx, um über solche Fragen zu debattieren? Nein, es bedarf eines politischen Anstoßes, um die Realität angemessen zu analysieren und zu bezeichnen, um vielleicht freiwillige Motivation zu erzeugen. Über die Theorie eines bedingungslosen Grundeinkommens wird viel diskutiert, insbesondere von Linken, dabei sind die Möglichkeiten, mit dem Phänomen umzugehen, längst gegeben. Was passiert mit dieser Gesellschaft, werden aufgrund fortschreitender Digitalisierung und Automatisierung noch mehr Menschen von Lohnarbeit freigesetzt? Und zeigen die Tendenzen des digitalen Wandels nicht eher in eine Richtung, dass darunter – neben allen Erleichterungen und Annehmlichkeiten – wahrscheinlich eine Art Online-Prekariat entsteht? Man kann es heute schon gut beobachten, wie eine zunehmende Anzahl junger Menschen der Illusion nacheifert, sich als Influencer selbst zu vermarkten, in der Hoffnung, sie würden sich damit ein Einkommen aus der Werbebranche sichern. Und die nachwachsende Gemeinde steht bereits Schlange, obwohl das wirklich nur ganz wenige schaffen.

Die damalige und auch heute noch existierende Utopie des Kommunismus rangiert auf einer viel zu intellektuell abgehobenen Ebene, als dass eine Mehrheit darin ein lebensnahes Konzept begreifen könnte. Akademiker und Studenten diskutieren derart abs-trakte Begriffe, die kaum zu einer wirklichkeitsnahen Komplexität passen. Was sich aus heutiger Sicht wirklich als Dilemma für die Menschheit herausschält, ist die Tatsache, dass als einziger Vergleichsmaßstab für alles Geldwert herhalten muss. Ob jedoch die menschliche Vorstellungskraft in der Lage ist, über die unmittelbare Lebenswirklichkeit einen fassbaren Maßstab zu finden, ist derzeit auch nur theoretisches Orakel. Der Mensch scheitert schon vielfach daran, dass er die Macht von großen Konzernen anprangert, ob-wohl die Macht eigentlich direkt von den zahlenden Kunden, also von genau von jedem selbst abhängt. Würden viele ein bestimmte Ware verschmähen, wäre es mit der Konzernmacht schnell vorbei. Was dadurch sichtbar wird, ist vielmehr die Ohnmacht vor der Unkalkulierbarkeit menschlichen Verhaltens, vor dessen Unmöglichkeit einer ideologisierten Steuerung. Genau das ist eines der wesentlichen Erkenntnisse aus dem historischen Sozialismusexperiment. Genauso wenig hilfreich oder zukunftsweisend sind scheinbar diametral dazu aufkeimende rechte Theorien. Auch solche werden von einer sich als intellektuell begreifenden Avantgarde proklamiert. Und sie genügen weder einem modernen Gerechtigkeitsaspekt noch der Komplexität in einer multipolaren Welt.

Was wirklich fehlt, ist der kontroverse und offene Diskurs über die Entwicklungsfacetten dieser Zeit. Was können wir national und international fassen und bewegen, muss im Mittelpunkt jeder Frage stehen. Keine Utopie oder Illusion. Wenn linke Politik hier wirksam werden will, muss sie ihre Koordinaten neu bestimmen. Eine vereinfachende bipolare Einteilung der Verhältnisse in gute, gerechte Utopie und böse, ungerechte Kapitalinteressen ist wenig hilfreich. Das sollte eine wesentliche Erkenntnis zum Gedenken an 100 Jahre Oktoberrevolution sein. Was einzig bleibt, ist die Frage: Что делать? Thomas Wischnewski

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