Standpunkt Breiter Weg: Platz für eine Volkspartei?
Selten haben Landtagswahlkämpfe so viel bundesweite Aufmerksamkeit erfahren wie die diesjährigen Wahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen. Obwohl diese Bundesländer nicht zu den bevölkerungsreichsten in Deutschland gehören, werden die 2019er Wahlen doch als Schicksalswahlen gedeutet. Nun, da in zwei von drei Ländern die Ergebnisse bekannt sind, zeigt sich, dass die dramatischsten Prognosen nicht eingetroffen sind. Die CDU ist in Sachsen als stärkste Partei aus den Wahlen hervorgegangen, die SPD in Brandenburg. Realisierbare Konstellationen stehen zur Regierungsbildung bereit.
Trotzdem wäre es unangebracht, die Zäsur zu bestreiten, die diese Wahlen bringen. Das hieße, die Situation der Volksparteien gesundzubeten. Natürlich, die SPD war in Sachsen schon immer schwach, die CDU in Brandenburg. Trotzdem kulminiert in diesen Landtagswahlen eine Tendenz, die sich schon seit Jahren abzeichnet: Beide Volksparteien werden sukzessive schwächer, noch schwerwiegender ist aber: Eine von ihnen muss sich im Wahlergebnis unter die kleineren Parteien einreihen, während die andere immer noch meist unangefochten die Führungsrolle beanspruchen kann. Die SPD ist hiervon unzweifelhaft stärker betroffen, aber die Annahme, die Union sei von dieser Entwicklung unbeleckt, wäre ein Fehlschluss aus der gegenwärtigen noch vorhandenen relativen Stärke.
Diese Tendenz ist nicht erst bei diesen Landtagswahlen zu Tage getreten. Schon bei den Landtagswahlen der vergangenen Jahre in Süd- und Ostdeutschland ist sie sichtbar geworden. Weniger ausgeprägt ist sie im geographischen Westen und Nordwesten der Bundesrepublik, vom Stadtstaat Hamburg einmal abgesehen. Obwohl sich hier die klassischen Verhältnisse der alten stabilitätsgesättigten Bundesrepublik sehr viel tiefer eingegraben haben und noch lange fortwirken werden, zeigt sich ansatzweise schon derselbe Trend.
Trotzdem wäre es verfehlt, eine Jeremiade anlässlich des Niedergangs der alten schwarzgelb-rotgrün-Dichotomie anzustimmen. Denn die derzeitige Umgestaltung der Parteienlandschaft muss nicht als Niedergang begriffen werden, sondern spiegelt den gesellschaftlichen Wandel in einer funktionierenden repräsentativen Demokratie wider. Milieus lösen sich auf, Ideologien verlieren ihre Bindekraft zugunsten ganz verschieden zusammengesetzter Identitäten, der Einfluss der Kirchen hat sich verringert und die Digitalisierung wirkt als Katalysator des Ganzen. Die bekannte betriebswirtschaftliche These vom „Long Tail“, demzufolge durch die Umwälzungen des digitalen Zeitalters Nischenprodukte bedeutsamer und Marktanteile gewinnen werden, findet hier ihre politische Entsprechung. Im Verhältniswahlrecht ist eigentlich also gar kein anderes Ergebnis zu erwarten. Die Niederlande oder Skandinavien, deren gesellschaftliche Verhältnisse den unseren ja oft ein Stück voraus sind und die über ein ähnliches Wahlrecht verfügen, demonstrieren dies. Nur das Mehrheitswahlrecht zwänge alle zusammen. Aber wäre die politische Szenerie tatsächlich attraktiver, wenn das komplette deutsche Parteienspektrum in 2 Parteien aufgehen müsste?
Was aber folgt aus diesem Befund für die Zukunft? Das Volksparteienkonzept ist noch nicht tot, die alte Totaldominanz aber vorüber. Ein klassisches Volksparteienergebnis ist bei den meisten künftigen Wahlen lediglich noch für einen der beiden Berliner Großkoalitionäre zu erwarten. Es ist nur noch Platz für jeweils eine der traditionellen Volksparteien. Welche allerdings, hängt von der Region ab, in der gewählt wird. Für den Abgesang auf SPD und CDU ist es also zu früh, neue „Catch-all“-Parteien sind überdies durchaus denkbar.
Das Ergebnis dieser Wahlkämpfe ist eine nicht unerfreuliche Re-Politisierung. Die Wahlbeteiligung ist erheblich gestiegen, Politik wieder in der Fläche präsent und ein Top-Thema. Landtagswahlen erfahren auch deswegen neuerdings so viel Aufmerksamkeit, weil die Vielfalt der Länderkoalitionen die beschaulichen Zeiten von A-Ländern der SPD und unionsgeführten B-Ländern beendet hat. Auch auf bundespolitischer Ebene wird also über den Bundesratshebel das stumpfe Abstimmen entlang der Grenzen monolithischer Koalitionsblöcke durch eine inhaltsorientierte Verhandlungsdemokratie abgelöst. Bei allem Stress, den diese neuen Verhältnisse mit sich bringen: Politikverdrossenheit jedenfalls ist passé. Verschiedene Politikwissenschaftler, beispielsweise Karl-Rudolf Korte, Werner Patzelt oder Christian Stecker, haben in den letzten Wochen dazu geraten, die neue Parteienvielfalt für die Belebung der Demokratie dienstbar zu machen und es mit Minderheitenregierungen zu versuchen. Ihre Argumente sind ausgezeichnet und sollten gehört werden. Denn es ergibt keinen Sinn, eine Uniformität und Kontinuität des Parteiensystems zu simulieren, die es gar nicht mehr gibt und die die Wählerschaft oftmals gar nicht mehr möchte. Das heißt nicht, dass Mehrheitskoalitionen nicht auch in einer Zukunft mit wachsender politischer Vielfalt sinnvoll sein können. Sie aber als Selbstzweck zu verstehen, ist eine Sackgasse. Schließlich sind auch weder die Niederlande noch die skandinavischen Länder instabil. Markus Karp