Sie wissen, was sie tun, aber das wissen sie nicht

Der Wahlkampf tobt als laues Lüftchen durchs Land oder als bunter Plakatwald. Politiker sagen, wie die Zukunft werden würde. Der Wähler beobachtet das Treiben skeptisch. Eine Polemik zu offenbar überholten Wahlwerbemechanismen.
Das Wahlkampfgetöse bestimmt die politischen Debatten im Land. Parteien und Kandidaten werben beim Bürger mit Plakaten, Losungen, Infoflyern, Auftritten auf Straßen und Plätzen um Aufmerksamkeit und Gunst. Am Ende sollen möglichst viele Stimmen eingefahren werden. Das Prozedere ist dem erfahrenen Wahlberechtigten hinlänglich bekannt. Doch wirkt sich das vielfache Tamtam tatsächlich aus? Und was außer kurzen Informationsschnipseln aus der Parteiprogrammatik, die meistens allseits bekannt sind, beantwortet die komplizierten Fragen zum Zeitgeschehen?
Eigentlich weiß man in den Parteizentralen um die Wirkungslosigkeit eines bunten Plakatwaldes. Menschen, die politisch interessiert sind, holt man mit keinen Worthülsen ab und erzeugt auch keine Einstellungsänderung. Wer sich gänzlich vom politischen Geschäft abgewendet hat oder sich gar nicht dafür interessiert, wird wahrscheinlich eher noch durch die Werbeflut abgeschreckt. Noch so schöne makellos fotografierte Gesichter sind keine Sympathieerzeuger. Dass sich Porträts und Namen einprägen würden, um daraus in der Wahlkabine eine erinnernde Rückkopplung zum Namen auf dem Stimmzettel zu erzeugen, ist doch nur eine Binsenweisheit. Das wissen Politiker und Wahlkampfmanager und dennoch bleibt alles beim Alten. Neu ist natürlich die vielfache Nutzung digitaler Informationskanäle. Da mag zwar der Transportweg modern aussehen, ob jedoch ein stimmentscheidendes Potenzial gewonnen werden kann, erklären wortgewaltig Wahlgewinner und -verlierer den Wählern nach dem Urnengang. Geglaubt wird viel, aber das weiß man ja.
Die Grünen präsentierten jüngst ein Mobilitätskonzept. 6.000 Euro Prämie soll der Staat so lange als Kaufanreiz für ein Elektromobil zahlen, bis in Deutschland eine Million solcher Fahrzeuge zugelassen sind. Außerdem ist die Förderung des Öffentlichen Personennahverkehrs geplant und weitere Aktionen, um schadhafte Emissionen zu vermeiden. Klingt gut, ist prinzipiell gut, lässt aber die andere Seite der Medaille außen vor. Die Unabhängigkeit vom Öl schafft andere Abhängigkeiten, beispielsweise die von Lithium. Die acht größten Rohstofflieferanten sind Chile, China, Argentinien, Australien, Portugal, Brasilien, die USA und Simbabwe. Lithium wird aus der Natur gewonnen – in erster Linie aus Salzseen – und kommt in einigen Ländern zwar in großen Mengen vor, ist grundsätzlich aber ein seltener und daher wertvoller Rohstoff für die Auto- und Elektro-Industrie. Welche Umwelteinflüsse sich aus steigender Gewinnung, einem noch nicht ausgereiften Recycling und der Entsorgung ergeben, bleibt unklar. Grünen-Spitzenkandidat Cem Özdemir proklamierte bei den jüngsten Demonstrationen zum Ausstieg aus der Braunkohle, dass Deutschland mittlerweile mit 56 Terrawattstunden mehr Strom exportiere als importiere. Wie die Bilanz ohne Braunkohle aussähe, sagte er nicht. Welcher Strombedarf mit steigender Elektromobilität einhergeht, bleibt ebenso im Nebel. Die Förderung von E-Autos proklamieren mittlerweile viele Parteien und versprechen gleichsam Investitionen in das Netz von Ladestationen. Dass die Stromnetze in den Kommunen die Leitungskapazitäten für eine flächendec-kende Ladeversorgung derzeit nicht ausreichen, wird in keiner Wahlkampfdiskussion behandelt.
Biologisch und ökologisch sind wundervolle Begriffe, doch was wird aus Trends, wenn sie von Millionen Menschen oder gar Milliarden gelebt und konsumiert werden? Rückt das positive Nischendasein am Ende nicht wiederum in industrielle Massenfertigung und erzeugt in anderen Sphären eine einseitige Gewichtung? Sagen das die Grünen auch oder wissen sie es nicht?
Die FDP gibt im Wahlkampf ein großes Comeback und kann mit dem Wiedereinzug in den Bundestag laut aktuellen Umfragen mit zehn Prozentpunkten rechnen. „Digital first, Bedenken second“ lautet einer ihrer Slogan, die ihr Zukunftspotenzial untermauern soll. Das Wort Digitalisierung wird derzeit von allen Parteien wie eine Monstranz umhergetragen. Dass das Informationsmonopol bei US-amerikanischen Konzernen liegt, weder Europa geschweige denn ein Nationalstaat Einfluss auf die Geschicke von Datenverwendung und -verbreitung nehmen kann, bleiben ungesagte Tatsachen. Ob in diesem Bereich langfristig überhaupt noch eine politische Steuerung möglich ist, weiß offenbar keine Partei, aber sie wissen ja, was sie tun.
Die Sozialdemokraten entdeckten für ihren Wahlkampf mit Martin Schulz das Feld Gerechtigkeit neu und pochen auf ein höheres Engagement. Die Wirtschaftskennziffern für Deutschland klettern von einem Höchststand zum nächsten. Beschäftigungsrekorde und Steuereinnahmen überspringen ständig alte Marken. Gleichfalls waren die Sozialausgaben mit 918 Milliarden Euro für 2016 noch nie höher. Für 2017 wird gar mit Kosten von 961 Milliarden gerechnet. Vor allem steigende Ausgaben in der Renten- und Krankenversicherung und für Pensionen treiben die Sozialausgaben in die Höhe. Dass außerdem eine wachsende Anzahl Menschen Hilfen zum Lebensunterhalt benötigen und keine Profiteure deutscher Wirtschaftsprosperität sind, wird zwar oft genug betont, ob dieser Trend jedoch einzig durch eine höhere Besteuerung Gutbetuchter lösbar ist, bleibt fraglich.
Es nutzt auch wenig, wenn in Debatten auf diverse Umfragen zu Einkommenssituationen oder Wohlfühlergebnissen verwiesen würde. Statistische Abstraktionen haben am Ende nichts mit einer individuellen Lage eines Menschen zu tun. Doch dies ist genau der Maßstab, den ein Wähler anlegt. Politische Zukunftsorakel geben beispielsweise noch immer keine fassbare Auskunft über die Rentensicherung für künftige Ruhestandsgenerationen. Über diesem Bereich schwebt eine gewaltige Unsicherheit. Ein Großteil befürchtet mit Preisentwicklung und Absenkung des Netto-Rentenniveaus bis 2030 auf 43 Prozent des letzten Einkommens ein Leben in Altersarmut.
Möglicherweise sind die Auswirkungen eines globalen Handels, ungezügelter Finanzströme und die jahrzehntelange Verlagerung von Produktionskapazitäten in so genannte Schwellenländer gewichtigere Einflüsse im deutschen Beschäftigungs- und Sozialgefüge als man durch die nationale Brille sehen könnte. Wirtschaftsexperten und Politiker wissen das. Bürger sind vielleicht genau deshalb sehr skeptisch gegenüber rosa-roten Zukunftsverheißungen. Doch das weiß man in den Führungsetagen offenbar nicht. Des Weiteren ist der Parteienstreit von einem Zahlenspiel und Statistikdschungel geprägt, unter dessen Undurchsichtigkeit sich jegliches Verständnis auflöst.
Überhaupt vermitteln politische Redner gern den Eindruck, als hätten sie mit ihren Konzepten alles im Griff bzw. verweisen sie auf ihr Programm, das Antworten auf alle Lebensfragen geben soll. Man müsste gar mutmaßen, vom deutschen Bundestag oder dem Bundeskanzleramt aus ließe sich  die Welt steuern. In der Flüchtlings- und Asylpolitik wird dies besonders deutlich. Ob die Forderung der AfD „Grenzen dicht“, „Abschieben“ oder die der Linken „Fluchtursachen bekämpfen“ heißt, es wird der Anschein erzeugt, als könne man von Berlin aus Millionen menschliche Schicksale auf dem afrikanischen Kontinent bestimmen. Selbst der Kanzlerin Maxime „Wir schaffen das“ erweist sich angesichts nicht abebbender Krisen in der Welt als inhaltsleeres Wunschdenken. Die Forderung, deutsche Waffenlieferungen in Konfliktregionen einzustellen, ist eine humanistisch gebotene, dies würde jedoch den weltweiten Waffenhandel nicht beenden. Ganz sicher haben amerikanische Einflussnahmen, europäische und auch deutsche Interessen oder sogar unsere Lebensweise auf Krisen in unterschiedlichen Ländern mitgewirkt. Dies allerdings als maßgebliche Ursache hinzustellen, was oft mit Flüchtlingsströmen zusammengebracht wird, erscheint hinsichtlich historischer Wurzeln, religiöser, wirtschaftlicher und machtpolitischer Zusammenhänge in diesen Regionen geradezu infantil. Hier kann mancher Stammtisch auf dem Niveau von Wahlkampfdebatten gut mitdiskutieren.
Die internationale Staatengemeinschaft erweckt aktuell keineswegs die Empfindung, als würde Vernunft eine tragende Säule für mehr Harmonie sein und Lösungsprozesse zwischen den Völkern in Gang setzen. Machtvolle Worthülsen mancher Parteienvertreter wollen der Bürgerschaft jedoch offensichtlich weißmachen, dass vieles im Lösungsgeschick deutscher Politik schlummere. Der kluge Bürger sieht solches Trommeln eher mit größerer Skepsis.
An vielen Stellen hinterlässt der Wahlkampf den Eindruck, dass Politiker in der Regel nicht mehr wissen und selten schlüssigere Antworten auf die Fragen zur Zeit haben als aufmerksame Wähler auch. Trotzdem vermitteln sie häufig den Anschein, es besser wissen zu wollen. Je mehr Wahlkampf in vielfacher Phrasenverbreitung als eine Art Werbeveranstaltung daherkommt, umso mehr sinkt die Glaubwürdigkeit gegenüber der Politik. Da sowohl durch Staatsfunk als auch Privat-TV entweder eine zu schlichte Vermittlung oder eine inhaltslos-wortreiche ihre massenhafte Verbreitung findet, bleibt bei vielen Menschen hängen, dass Politik und Medien in Oberflächlichkeit und Erzählweise an einem Strang ziehen. Wenn am Wahlabend des 24. Septembers dann wieder solche Sätze fallen wie: Wir konnten unsere guten Konzepte den Bürgern nicht ausreichend vermitteln – dann schütteln Zuschauer vielfach die Köpfe. Keine Frage bringt Politiker in Verlegenheit um eine Antwort. Sie wissen genau, was sie tun. Aber sie wissen nicht, wie sie damit ankommen. Der Wähler schon. Thomas Wischnewski

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