Rock – oder der Glaube, die Welt zu verändern

Am Vorabend zum Tag der Deutschen Einheit will das Team der Magdeburger Festung Mark den Freunden handgemachter Rockmusik ein besonderes Schmankerl präsentieren. Die gebürtige Hamburgerin Inga Rumpf spielt mit ihrer Band auf. Bereits Anfang der 1960er Jahre in einer Bluesformation. 1965 wurde sie die Sängerin der Folk-Rock-Gruppe „Die City Preachers“. In dieser Formation spielte zeitweise Udo Lindenberg als Schlagzeuger. Der Blues-Rocker Jürgen Kerth, geboren 1948 in Erfurt, steht ebenfalls an diesem Dienstagabend auf der Bühne. Seine 1964 gegründete Schülerband „Spotlights“ musste sich dem Druck der Kulturtechnokratenbeugen und in „Rampenlichter“ umbenennen und wurde 1966 ganz verboten. Hans-Jürgen Ludwig, der 1979 als Gitarrist zur legendären Gruppe „Magdeburg“ stieß, wird mit Sänger Hannes Andratschke als „Duo L.A.“ aufspielen. Auch Ludwig, besser unter dem Vornamen Charlie bekannt, muss sich wie Kerth als Rebell gesehen haben, als die Band 1980 vor einem Auftritt bei der damaligen Jugendsendung „rund“ im DDR-Fernsehen nach Hause geschickt wurde. Sänger Hans-Joachim „Hajo“ Kneis war aufgefordert worden, sich die Haare zu schneiden. Er weigerte sich jedoch. Ein Jahr später stellte die Band geschlossen einen Ausreiseantrag. Auf die bis dahin einmalige Aktion reagierten die DDR-Behörden mit Lizenzentzug, der einem Berufsverbot gleichkam. Die Bandmitglieder wurden einem unerhörten psychischen Druck ausgesetzt. Schließlich zogen Hans „die Geige“ Wintoch, Schlagzeuger Bernd Schilanski und Charlie Ludwig ihre Anträge zurück. Dietrich Kessler und Hans-Joachim Kneis gingen für 18 Monate ins Gefängnis und wurden anschließend von der Bundesregierung freigekauft.  

Die Wurzeln der Protestbewegung
Das sind Geschichten, wie sie zum Rock passen. Schließlich war das gesamte Genre anfangs ein Keim des Aufbegehrens, des Protests und tief mit der Hippie-Bewegung der 1960er und 1970er Jahre verwoben. Die Wurzeln des Rocks liegen wie der Name verrät im Rock’n’Roll. Allerdings unterschied sich der neue Stil wesentlich durch den Rhythmus. Im Rock werden die Achtelnoten binär gespielt, also „gerade“, so wie man es aus der lateinamerikanischen und europäischen Musik kennt. „The Beatles“ und „The Rolling Stones“ spalteten das Genre auf, sind aber die bekanntesten Vertreter dieser damals neuen musikalischen Richtung. Bands wie „Cream“, „The Who“ oder „The Jimi Hendrix Experience“ bereicherten kurz darauf die Szene mit technisch anspruchsvolleren Parts und endlosen Gitarrensoli. Legenden der Rockmusik  wie Led Zeppelin, Deep Purple oder Jeff Beck waren davon inspiriert.

Schon der Erfolg der Beatles stieß in der damaligen Erwachsenengeneration auf Kopfschütteln. Die Musik wurde laut, Mädchen kreischten, Massen drängten in die Konzerte und tumultartige Szenen, bei denen Polizei für Ordnung sorgen musste, zeugten von einem kulturellen Beben, wie das noch keine Stilrichtung zuvor in dieser Weise erzeugt hatte. Neue Musikrichtungen sind in ihrer Anfangszeit oft umstritten. Und das Auftreten der Rock-Protagonisten mit langem Haar und obszön lauter Musik kam einem Skandal gleich. Das Establishments reagierte und versuchte die Szene mit dem Satanismus in Verbindung zu bringen. Aber diese starke Ablehnung trug wahrscheinlich wesentlich dazu bei, dass sich die Rockszene selbst als Rebellen und Revolutionäre sahen. Schließlich erlebten die Musik und ihre Akteure ihren Höhepunkt in der Friedensbewegung gegen den Vietnamkrieg. Rockmusik und Hippie-Szene waren damals fest miteinander verbunden. Die Folk-orientierte Rockmusik von Bob Dylan, Crosby, Stills & Nash (& Young) sowie Creedence Clearwater Revival (CCR) spielte politische Protestsongs, mit der sich die Bewegung in den USA und Westeuropa  identifizierte.

Beim Festival 1969 in Woodstock wurde unter Drogen und Alkohol die Utopie einer neuen Gesellschaft gefeiert. Von den geschätzten 400.000 Besuchern wurden die 32 Bands und Solokünstler wie Anführer gefeiert. Die Vorstellung, mit Musik die Welt zu verändern, war damals in vielen Köpfen. Genau dieser Spirit übertrug sich auch auf den Ostblock. Die Nachrichten von den Festivals, den ausverkauften Stadien, die von den Weltstars des Rock gefüllt wurden, schwappten über den Eisernen Vorhang und begeisterten die Musikerszene hierzulande. Rebellisch zu sein, sich unangepasst und als progressive Bewegung zu fühlen, mischte den behäbigen staatlichen Kulturbetrieb auf. Walter Ulbricht (1893-1973), damals Generalsekretär des Zentralkommites der SED, schimpfte 1965 auf dem 11. Plenum der Partei gegen die westliche Rockmusik: „Ist es denn wirklich so, dass wir jeden Dreck, der vom Westen kommt, nu kopieren müssen? Ich denke, Genossen, mit der Monotonie des Je-Je-Je, und wie das alles heißt, ja, sollte man doch Schluss machen.“

Die Mächtigen der DDR hatten keine Macht über den Rock
Gerade, weil die Mächtigen des diktatorischen DDR-Systems nichts gegen den Erfolg dieser Musik auszurichten vermochten, fand die Jugend umso mehr Protestidentifizierung im Rock. Die Strahlkraft der amerikanischen, britischen und westdeutschen Protagonisten war natürlich wesentlich größer als die von DDR-Musikern. Und weil der Kulturbetrieb ein staatlich gelenkter blieb, Musiker existenziell von Lizensierung und Auftritten in den staatlichen Kulturpalästen abhängig waren, erschienen sie nie so unabhängig und revolutionär wie westliche Kollegen, obwohl sie vielfach qualitativ gleichwertige Musik produzierten. Die Jugend war links und vielfach wurde eben auch die Rockmusik als links zugehörig betrachtet. Schließlich hatte das Klima der 68er in vielen Musikern in Westdeutschland den Drang, nicht mehr über knallrote Gummiboote singen zu wollen, beflügelt, sondern sich in politische und soziale Verhältnisse einmischen zu wollen. In der DDR war dieses Selbstverständnis der Musiker ein Paradox. Die sozialistische Ideologie war selbst im linken Lager verortet. Wie sollte da ein musikalischer Protest politisch links sein können? Im Jargong von SED-Funktionären wurden Künstler, die sich gegen staatliche Gängelung äußerten, als vom Westen verseuchte oder gar als Konterrevolutionäre betrachtet. SED-Altkader sahen die mit dem Rock verbundene Jugend als eine verlotterte Generation, die nicht konsequent am Aufbau des Sozialismus mitwirken wollte. Daher sicher auch die Aufforderung an den Sänger der Gruppe „Magdeburg“, sich vor besagtem „rund“-Auftritt die Haare abzuschneiden.

Herausragend musikalischer Kritker war in Ostdeutschland die „Klaus Renft Combo“, später nur „Renft“. Bereits 1958 gegründet, zählte sie zu den bekanntesten der DDR-Bands. Systemkritische Texte brachten der Formation um den Leipziger Klaus Jentzsch immer wieder Auftrittsverbote ein. 1975 verfügten die DDR-Behörden schließlich die Auflösung der Band. Das Lied „Glaubensfragen“ thematisierte die staatlicherseits weitgehend totgeschwiegenen Bausoldaten der NVA. In der „Rockballade vom kleinen Otto“ wurde gar die missglückte Flucht ebenjenes Ottos thematisiert. Der Song führte zum Verbot.

In Magdeburg war vor allem das „Café Impro“ der Treffpunkt der Rock-Szene. Alles, was in der DDR irgendwann Rang und Namen hatte, gab  seit 1965 am Hasselbachplatz ein Stelldichein. Und jede Formation, die in der Elbestadt ins Leben gerufen wurde, wollte genau dorthin. Allein die Enge des Klubs und zu wenig Platz für Publikum erzeugte wegen des knappen Angebots nur noch mehr Anziehungskraft.

Rock hat die Welt verändert, ohne sie auf den Kopf zu stellen
Die internationale Rockmusik war inzwischen von zahlreichen neuen Stilistiken bereichert worden. Sogenannte „Pop-Metal“-Bands machten in den 1980er Jahren von sich reden. Dazu zählten Namen wie „Bon Jovi“, „Def Leppard“, „Europe“ und die erfolgreichste deutsche Band, „Scorpions“. Der Welterfolg hatte eine gewaltige Musikindustrie hervorgebracht. Alben-Verkauf und Massenkonzerte in Fußball-Arenen sorgten für klingende Kassen bei Künstlern, Produzenten und Platten-Labels. Punk, Indipendent, Heavy Metal und Pop oder die „Neue Deutsche Welle“ (NDW) haben die ursprünglich relativ homogene Fangemeinde aufgespaltet. Um alle Richtungen und unterschiedliche Verschmelzung einzelner Stile sichtbar machen zu wollen, müsste man mindestens ein dickes Lexikon vorlegen.

Die Kraft, die der Ausgangsphase der Rockmusik innewohnte, konnte danach nie wieder ein neues Genre erzeugen. In Musik wird zwar auch heute noch vielfach Protest und Kritik an sozialen Verhältnissen ausgedrückt, doch der große Mainstream dient eher der Unterhaltung und des Freizeitvertreibs. Selbst solche großen Heavy-Metal-Festivals wie in der kleinen Gemeinde Wacken in Schleswig-Holstein, zu dem jährlich rund 75.000 Metal-Anhänger pilgern, ist von politischer Kultur, revolutionären Ansprüchen oder ähnlichen Vorstellungen nichts mehr vorhanden.

Es geht um Musik, deren emotionale Wirkung, um den Rausch von Lautstärke und Menschenmassen. Techno, Rap oder Hip-Hop sind ähnlich wie der Rock einst als subkulturelle Genre entstanden und mittlerweile etabliert und durch Vermarktungskanäle kommerzialisiert mitten in der Gesellschaft angekommen. Jedoch nirgends ploppte aus Musik eine  bedeutsame politische Bewegung auf.

Die Musik der Moderne hat die Welt verändert, ohne die Verhältnisse auf den Kopf zu stellen. Auch heute verstehen sich Musiker – häufig am Anfang ihrer Karriere – gern als Protestler. Doch mit dem Erfolg kommt die Vereinnahmung und der Hang, der Fangemeinde neue Songs immer wieder schmackhaft zu machen. Insofern kann man festhalten, dass es nach dem Rock nie wieder einem musikalischen Genre gelungen ist, eine vergleichbare Bewegung und ähnliche Vorstellungen für ein rebellisches oder revolutionäres Selbstverständnis zu entfachen. Dieser Mythos bleibt den damaligen Akteuren und ihren weltweit verbundenen Anhängern vorbehalten.

Die Einzigartigkeit musikalischer Neuschöpfungen unterlaufen
Natürlich darf mit dem Aufkommen des Rocks auch die damals technische Entwicklung nicht unberücksichtigt bleiben. Die elektronische Indus-trie entwickelte in rasanter Geschwindigkeit Musik- und Beschallungsequipment, das Konzerte vor großen Menschenmengen ermöglichte. Außerdem verfeinerte sich die Studioaufnahmetechnik, mit der die Musik in die Schallplattenläden gebracht wurde. Radio und Fernsehübertragungen und ständige Berichte über Star-Allüren befeuerten ebenso die schnelle Verbreitung der Musik als Massenerscheinung. Diese Mechanismen erscheinen heute irgendwie ausgereizt. Und die ständige Verfügbarkeit von jeglicher Musik aller Genres hat offenbar den Kultcharakter der damaligen Entwicklung aufgelöst. An den Möglichkeiten, die Musik rein mathematisch bietet, kann es eher nicht liegen, dass von keiner neuen Stilistik eine Initialzündung für einen Musikhype ausgeht. Wenn man einen einfachen 4/4 Takt als Basis nimmt und die Kombination von unterschiedlichen Notenwerten bis zu zehn Oktaven ansetzt, kommt man auf die unwahrscheinliche Zahl von 12061440 Möglichkeiten Musik zu erzeugen. Aufgrund des akkordischen Aufbaus könnten zusätzlich unzählige Querverbindungen erschaffen werden. Auch weil es heute für jeden leicht ist, am Computer selbst Musik und Rhythmen zusammenzusetzen, ohne ein Instrument zu beherrschen, hat vielleicht die Einzigartigkeit musikalische Neuschöpfung unterlaufen und Musik zur schnelllebigen Verbrauchsware gemacht. Castingshows, Musikstreamingdienste und YouTube sorgen für eine Taktung permanenter Songfluten. Das Rockkonzert am 2. Oktober in der Festung Mark kann man deshalb auch wie eine Hommage an die gute alte Zeit eines rebellischen Musikaufbruchs begreifen. Thomas Wischnewski

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