Profilumkehr
Unterdrückte Wissenschaftsdebatten, Kunst unter Sexismusverdacht und Ignoranz gegenüber Forschungsergebnissen – wenn Argumente ausgeblendet werden, dreht sich manches in eine ungwollte Richtung.
Der Begriff „Profilumkehr“ kommt eigentlich aus der Geologie. Beispiele für das erdgeschichtliche Phänomen lassen sich in Thüringen finden. Bei Jena und im Eichsfeld wird die Landschaft durch Höhenzüge aus Kalkgestein geprägt, die sich im Erdmittelalter im Flachmeer gebildet haben. Hier gab es tiefe Bodensenken, in denen sich Muschelkalk als Sediment abgelagert hat. Danach erfolgten Bodenerosionen. Die zuvor höher gelegene Erde wurde weggespült, der härtere Kalk blieb erhalten. Was ursprünglich erhöht war, wurde zum Tal, die mit Muschelkalk gefüllten Täler bildeten Berge. Profilumkehr! Ohne dass ein sachlicher Zusammenhang bestünde, taugt dieses Bild von der Profilumkehr auch für die Beschreibung von Geschehnissen in menschlichen Gesellschaften. Das Römische Reich war eine Hochkultur und in Europa und im Nahen Osten absolut dominierend, doch die herrschende Schicht verlor den Bezug zur Realität und zu den gesellschaftlichen Erfordernissen. Grenzenlose Verschwendungssucht gepaart mit extremer sozialer Ungerechtigkeit und Missmanagement führte zum ökonomischen Desaster und zum Verlust der Macht. Völkerschaften, die die Römer als Barbaren bezeichneten und die zuvor wirtschaftlich, kulturell und militärisch unterlegen waren, gewannen die Oberhand und das Römische Reich brach in sich zusammen. Profilumkehr.
Um so etwas zu beobachten, müssen wir gar nicht in die Antike zurückblicken. Wir erleben es gegenwärtig. In Deutschland steht die Wiege der Immunisierung gegen Infektionskrankheiten. Der erste Nobelpreis für Medizin, der überhaupt vergeben wurde, ging 1901 an den Begründer der Serumtherapie Emil von Behring. Danach gründete er die »Behring-Werk oHG«, die Impfstoffe gegen Infektionskrankheiten produzierten und in Deutschland und in der ganzen Welt Millionen von Menschenleben retteten. Wesentliche Impulse für die Immunisierung der Menschen kamen aus anderen Ländern dazu. Eine Vakzine gegen Masern wurde in den USA entwickelt.
Noch vor wenigen Jahren war die Bevölkerung in Deutschland gegen die wichtigsten Infektionskrankheiten geimpft und somit immun. Pocken, Kinderlähmung, Keuchhusten und Masern traten bei uns nicht mehr bzw. höchst selten auf. Aber in einer Bevölkerung, die die Schrecken von Seuchen nur noch aus Romanen kennt, machte sich ein „neues Denken“, oder richtiger gesagt, ein „neues Bauchgefühl“ breit. Eine mit erschreckendem Unwissen geschlagene aber wohlorganisierte Impfgegnerschaft, angeführt von manchen Heilpraktikern, die häufig einer esoterischen Naturromantik alla Rudolf Steiner huldigen, redet den Menschen ein, dass es nur natürlich sei, wenn Kinder Infektionskrankheiten durchmachen und sie davon im weiteren Leben profitieren würden. Aber solche Vorteile lassen sich nicht nachweisen, hingegen sagen seriöse Statistiken aus, dass auf etwa tausend Maserninfektionen ein Todesfall kommt, Komplikationen wie Erblindung, Taubheit und Hirnhautentzündungen, die bis zur völligen Bildungsunfähigkeit und Pflegebedürftigkeit führen können, kommen hinzu. Aber man lässt sich von Fakten nicht verunsichern.
Die Impfgegnerschaft speist sich zusätzlich aus der Kapitalismuskritik. Die bitterböse Pharmaindus-trie verdiene damit Geld, und das ist nach Meinung der entsprechenden Bevölkerungsgruppe verwerflich. So kommt es dann, dass die Impfbereitschaft immer mehr nachlässt und dass das Robert-Koch-Institut für das erste Halbjahr 2017 (Stichtag 9. Juli) 801 Masernfälle gemeldet hat. Welche Gegenden in Deutschland davon besonders betroffen sind, lässt sich daran ablesen, wo die Hochburgen bestimmter Parteien sind. Welche gemeint sind, kann jeder selbst herausfinden. Es ist noch nicht lange her, da galt bei uns die Regel, dass man seinen Impfstatus überprüfen solle, wenn man in ein Entwicklungsland reist. Man könne sich dort infizieren. Aber nun ist es umgekehrt. Guatemala und die Nachbarländer sind 2016 von der Weltgesundheitsorganisation als masernfrei erklärt worden, in Guatemala hat es seit 1998 keinen Fall mehr gegeben. Das ist einem hohen Immunisierungsgrad zu verdanken. In Guatemala sind die Masern zurückgekehrt. Nach einem Schüleraustausch gibt es den ersten Masern-Fall seit 20 Jahren. Ein Jugendlicher hat nach einem Aufenthalt in Deutschland die Masern in sein Land gebracht! Lehre: Wer aus einem Entwicklungsland nach Deutschland, einem ehemals hochentwickelten Land, reist, sollte zuvor seinen Impfstatus überprüfen. Profilumkehr!
Bis vor kurzem galten Universitäten und Hochschulen als Orte der geistigen Auseinandersetzung, Quellen von Kreativität und Erneuerung. Wenn man von den zwölf dunklen Jahren der Naziherrschaft absieht, gilt dies besonders für Deutschland und Europa. Was hat man seit Newton disputiert über die Natur des Lichtes? Wie haben sich die Anhänger des Kreationismus, des Lamarckismus und des Darwinismus in die Haare gekriegt? Und ähnlich war es in den Geisteswissenschaften: Kant, Hegel, Marx usw. Jede Seite hat jeweils mit Experimenten und Beobachtungen Auffassungen überprüft bzw. versucht, Beweise für die eigene Überzeugung zu erbringen. So hat man auf vielen Feldern die wissenschaftliche Wahrheit gefunden, aber immer kommen neue Konfliktthemen auf.
In den Jahren um 1968 fielen allerdings die Universitäten der BRD auf einen Tiefpunkt. Professoren, die nicht der sozialistischen Weltsicht des Allgemeinen Studentenausschusses (AStA) folgten, wurden bedroht und deren Vorlesungen gestört. Institute wurden besetzt und an manchen Unis wurden Brandanschläge verübt. „High sein, frei sein, Terror muss dabei sein“, lautete eine Studenten-Losung in den späten 60er Jahren. Da war von produktivem Gedankenaustausch nichts mehr zu spüren. Aber nachdem der Linksterrorismus mit dem Wüten der RAF seinen Höhepunkt erreicht hatte, gab es doch ein Erwachen. Nicht nur die akademischen Angestellten, sondern auch die Studenten wollten zu dem zurückkehren, was einmal akademische Freiheit genannt wurde.
In der DDR waren die gesellschaftlichen Verhältnisse sowieso anders. Die Universitäten und Hochschulen waren nicht frei, sondern unterlagen dem SED-Diktat. Aber dennoch erkämpften sich das akademische Personal und die Studentenschaft Freiräume. An der Berliner Humboldt-Universität musste selbst die Stasi die systemkritischen Vorlesungen eines Prof. Robert Havemann eine längere Zeit dulden. Auch wenn man sich damit in Gefahr begab und seine Zwangsexmatrikulation riskierte, haben Studenten kritisch diskutiert, versucht die Sprengung der Universitätskirche in Leipzig zu verhindern und nach dem 21. August 1968 Solidarität mit den Tschechoslowakischen Völkern zu zeigen. Ich erinnere mich an meine frühe Zeit in der Humangenetik ab 1970. Die Frage, ob Intelligenz genetisch oder sozial (oder beides) bedingt ist, wurde auf unseren Tagungen heftig diskutiert. Die SED-Getreuen, zunächst noch befangen im Lyssenkoismus, zeigten sich später dann doch für wissenschaftliche Argumente offen. In der späten DDR-Zeit beschloss die Regierung wissenschaftsgeleitet ein Programm, wonach Studentinnen und deren Partner, die während des Studiums Kinder bekommen, in jeder Hinsicht (auch finanziell) großzügig zu fördern sind. Man hatte erkannt, dass es gut für ein Land ist, wenn viele Kinder geboren werden, die aufgrund ihrer genetischen Anlagen das Potential besitzen, eine hohe Intelligenz zu entwickeln.
Wissenschaftliche Erkenntnisse in Politik umzusetzen ist heute undenkbar, wenn es dem Mainstreamdenken widerspricht. Akademische Diskussions(un)kultur an unseren Universitäten bewegt sich wieder auf das Niveau zu, das wir 1968 in der BRD und in der DDR zur Ulbrichtzeit hatten. Diskurse in akademischer Freiheit sind unerwünscht. An der Goethe-Universität Frankfurt wurde der Vorsitzende der Polizeigewerkschaft Rainer Wendt, der ursprünglich einen Vortrag halten sollte, ausgeladen, weil dem AStA missfiel, dass seine Statistiken über Straftaten in Deutschland Immigranten nicht ausblenden. Der renommierte Historiker Prof. Jörg Baberowski, ein exzellenter Osteuropa-Kenner und Gewaltforscher an der Humboldt-Universität Berlin, musste ein international besetztes Kolloquium an einen geheimen Ort verlegen, weil es von linken Studenten mit Gewalt bedroht wurde. Die Philipps-Universität Marburg hatte den Kasseler Evolutionsbiologen Prof. Ulrich Kutschera eingeladen, den Eröffnungsvortrag zum „Studium generale“ zu halten. Aber weil seine kritische Einstellung zu Lehren der Genderforschung bekannt war, wurde er auf Drängen des AStA und der Frauenbeauftragten wieder ausgeladen.
Noch krasser verlief eine Auseinandersetzung zum Genderthema an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Der renommierte Hirnforscher Prof. Gerald Wolf war auf Einladung der AfD-nahen Hochschulgruppe Campus Alternative angetreten, in einem Vortrag den Wissensstand über männliche und weibliche Gehirne darzulegen. Aber dazu kam es nicht. Der vollbesetzte Hörsaal verhinderte mit Randalen den Vortrag und es gab sogar Gewalt gegen Personen und Lehrmaterial. Naturwissenschaftliche Fakten waren für das Auditorium, das man in diesem Fall vielleicht besser durch das Wort Clamartorium (audire = hören; clamare = schreien) ersetzen sollte, von vornherein nicht von Interesse. Als die Veranstalter mit ihrer Polizeibegleitung abziehen mussten, riss der Dekan der humanwissenschaftlichen Fakultät Prof. Michael Dick jubelnd die Arme empor. Er sagte der Mitteldeutschen Zeitung: „Unsere Studierenden zeigen Flagge und Haltung. Darauf bin ich stolz“. Damit hat der Dekan Prof. Dick die Profilumkehr von einer wissenschaftlichen Fakultät zu einem ideologischen Bollwerk gegen die Wissenschaft vollzogen. Hätte er seinen Lehrauftrag erfüllt und seinen Studenten das Wesen der Akademischen Kultur und der Demokratie vermittelt, hätte er dies mit einem Verweis auf Voltaire tun können. Der hatte seinem schärfsten Widersacher zugerufen: „Sire, ich lehne Ihre Auffassung ab und bekämpfe sie, ich würde aber mein Leben dafür geben, dass Sie Ihre Meinung öffentlich äußern dürfen“.
Die Beschneidung der eigentlich im Grundgesetz garantierten Freiheit von Kunst, Wissenschaft, Forschung und Lehre zeigt sich in unserer Gesellschaft und besonders an deren akademischen Einrichtungen am krassesten dort, wo Genderthemen berührt werden. Schlagzeilen machte die Berliner Alice Salomon Hochschule. Die lässt an ihrem Hauptgebäude ein völlig unspektakuläres, aber schönes Gedicht von Eugen Gomringer übermalen, weil es nach Meinung des AStA sexistisch sei.
Mit der Ächtung des Gedichts schaden der AStA und die Hochschulleitung nicht nur ihrer eigenen Einrichtung, sondern sie treten auch einen bedeutenden Teil des Weltkulturerbes in die Tonne. Die Verehrung der Frauen, durchaus auch als erotische Wesen, war immer und überall ein Thema der Kunst. Mein Rückblick beginnt mit der Bibel bei „Das Hohe Lied Salomonis“, inkludiert die Skulpturen der griechischen und römischen Kulturen, lässt die Epik, Lyrik und Dramatik von der Antike bis zur Gegenwart nicht außer Acht und denkt an die Gemäldegalerien, in der es gähnende Leere gäbe, würden die Kulturrevolutionäre vom AStA ihre Vorstellungen von politischer Korrektheit durchsetzen. Welches Frauenbild darf Kunst überhaupt noch vermitteln? Sind nur noch Gemälde von gesichtsverhüllten Araberinnen, Frauen auf Traktoren oder an Werkbänken zulässig? Finden jetzt vor allem die Abbildungen der Judith und der Salome, bei denen ein abgetrennter Männerkopf in der Schale liegt, den Gefallen der feministischen Bewegung? Darf man sich noch an Botticellis Venus, Degas Ballerinen oder an da Vincis Mona Lisa freuen? Wann wird es soweit sein, dass ein junger Wissenschaftler, der auf eine Karriere an der Uni gehofft hatte, seine Pläne begraben muss, weil er unvorsichtigerweise im Kollegenkreis, der leider nicht verschwiegen war, erzählt hatte, dass er bei seinem Spanienurlaub in einer Gemäldegalerie war und sich auch „Die nackte Maja“ von Goya angesehen hatte.
Längst gibt es im Hochtechnologieland Deutschland auch Angriffe auf neue Technologien: Gentechnik, Fracking, Nanotechnologie u. a. m. Aber noch hat die Bevölkerung darunter kaum zu leiden. Deutschland lebt zurzeit noch recht gut von den hohen Exportüberschüssen aus der Chemieindustrie, dem Maschinenbau und besonders der Autoindustrie. Aber was unsere Industrie angeht, ist die Axt schon an die Wurzel gelegt. Somit kommt ein weiteres Mal eine Profilumkehr auf uns zu. „Die Ersten werden die Letzten sein“ steht in der Bibel und in Bertolt Brechts Lied von der Moldau heißt es „Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine“. Hoffen wir, dass sich auch die Metapher, die sich in der nächsten Zeile des Liedes findet, erfüllt: „Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag.“ Prof. Dr. Reinhard Szibor