Multimoralismus
Wie man faktisch richtig handelt oder was in konkreten Situationen von anderen erwartet wird, misst sich an moralischen Maßstäben. Im Zeitalter einer vernetzten Welt stoßen Verhalten und Meinungen fortwährend an Bewertungsgrenzen. Es scheint, als könne sich niemand mehr angemessen durchs Leben bewegen, ohne dabei anderen auf die Füße zu treten. Überall trifft man auf Urteile und Verurteilungen. Der moderne Mensch leidet an einem selbst erzeugten Multimoralismus.
Vom 6. bis zum 17. November tagt in Bonn die 23. UN-Weltklimakonferenz. 25.000 Teilnehmer sind dafür in die einstige Bundeshauptstadt gereist. Nur wenige verhandeln wirklich. Die meis-ten sind als Beobachter gekommen. Im Ansinnen das Ruder beim „menschengemachten“ Klimawandel herumzureißen, sind die Anwesenden vereint. Manchmal zeigen die Verlautbarungen regelrecht religiöse Züge, denn es wird maßregelnd heruntergebetet, dass die Menschheit eine weitere Erwärmung der Erdatmosphäre verhindern könne. Vor allem der Ausstoß des schrecklichen CO2, das wir alle als Verbrennungsprodukt ausatmen, müsse dringend zurückgefahren werden. Wer etwas anderes sagt oder auf immer noch nicht bewiesene Zusammenhänge verweist, gehört in die Kategorie Klimawandelleugner. Unsere Luft besteht zu 78 Prozent aus Stickstoff, zu 21 Prozent aus Sauerstoff, 1 Prozent sind Edelgase und zu 0,038 Prozent aus CO2. Davon produziert die Natur selbst etwa 96 Prozent. Der Anteil des Menschen beträgt also rund 4 Prozent, also 0,00152 Prozent. Deutschlands CO2-Anteil beträgt 3,1 Prozent. Damit beeinflussen wir die CO2-Weltproduktionen mit 0,0004712 Prozent. Die Medienwelt ist voll von erhitzenden Berichten über zunehmende Unwettererscheinungen und abschmelzende Polkappen. Ein derartiger Informationsdruck schafft eine allgemeine Glaubensmacht, die jede andere Stimme erdrückt und die Hölle im Himmel verspricht. Zweifler und Kritiker stehen an der Wand und werden moralisch geächtet. Und das einzig, weil eine übergroße Mehrheit unablässig weiterträgt, was behauptet wird. Mit welcher CO2-Bilanz – wenn doch die Situation so ernst ist – sind wohl die 25.000 Teilnehmer nach Bonn gereist und wie oft tun sie das jedes Jahr?
Ein anderer Aufschrei ging die Tage durchs Land, als sich Tausende Frauen unter der Kampagne #MeToo meldeten, Opfer sexistischer Übergriffe zu sein. Selbstredend sind Angriffe auf die sexuelle Selbstbestimmung eines Menschen zu ächten. Doch was erzeugt eine Debatte, die durch jede TV-Talkrunde gezerrt wird, hunderte Zeitungsseiten füllt und in sogenannten Sozialen Medien hoch und runter gerissen wird, wirklich? Es bleibt nur der Eindruck, dass sich ein unflätiges, sexgesteuertes männliches Geschlecht fortwährend mit Gewalt über die weibliche Tugend erhebt. Offensichtlich gibt es überhaupt nur den einen weiblichen Maßstab über angemessenes Verhalten. Noch einmal: Hier sollen keine wirklichen Übergriffe relativiert werden, sondern auf ein Moralübergewicht aufmerksam gemacht werden. Haben Sie schon einmal etwas über Studien und Lebensbeichten von Männern gehört, die während der Pubertät vor allem wegen Zurückweisung einem psychischen Mobbing gleichaltriger junger Frauen ausgesetzt waren, weil sich diese naturgemäß den etwas reiferen Jünglingen zuwandten? Das Phänomen ist allgegenwärtig. Aber es existiert keine moralische Instanz, die das in die Öffentlichkeit zerrt. Übrigens, wenn Millionen junger Frauen mit Fotos auf ihre weiblichen Reize in Selbstdarstellungen auf sich aufmerksam machen, hat das nichts mit Sexismus zu tun. Anderenfalls wäre es sicher nur ein männlicher Moralmangel. Obwohl es auch genügend Prediger gibt – die USA sollen ja voll davon sein – die ein derartiges Verhalten weiblicher Jugendlicher an den Pranger stellen.
Ein paar andere Moralitäten, unter denen Gewissenslasten verbreitet werden: Bei der Auswahl von Speisen kann man eigentlich nur Fehler machen. Von der einen Seite ertönt der Veganer-Ruf für das Tierwohl gegen jeden, der Fleisch verzehrt. Auf jeden Fall müssen Mastbedingungen auf den Prüfstand, wenn sie keine angemessene Haltung gewährleisten. Doch wie steht es mit der Moral der Veganer, wenn es um den Welthunger geht und das Leben von Millionen Menschen, vor allem Kindern, die an Unterernährung leiden? Im Gesundheitsbereich herrscht ebenfalls ein enormer Druck, unter dem man fortwährend erhobene Zeigefinger spürt, wenn man sich nicht der Norm entsprechend verhält.
Achten Sie auf die unerschöpflichen Weisungen, die anprangern, was in der Kindeserziehung alles falsch gemacht werden kann. Da zeigen Eltern auf Pädagogen und umgekehrt, Verwandte und Freunde mischen sich ein. Die Anzahl medialer Ratgeber als Bücher, Zeitschriften und TV-Sendungen sind schier nicht mehr zu überblicken. Überhaupt sollte man das eigene Leben nie ohne Selbstbeobachtung durchschreiten. Es bestünde die Gefahr, kein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft zu sein, weil man nicht engagiert genug die Selbstverwirklichung angegangen ist oder die Persönlichkeit nicht unter Optimierungsansprüchen weiterentwickelt.
Passen Sie vor allem darauf auf, was Sie jemandem sagen oder gar andern in öffentlichen Netzwerken zur Kenntnis geben. Immer und ständig könnte sich darunter jemand unangenehm berührt oder verletzt fühlen. Mit welcher Macht stürzen Verurteilungen und Ächtungen bei Facebook, Twitter & Co auf andere ein. In manchen Sphären wird nicht gendergerechtes Schreiben oder Reden unter einen chauvinistischen Generalverdacht gestellt. Übrigens hört man aus Universitäts- und Hochschulbereichen, dass sich Professoren und Dozenten kaum noch trauten, mal eine Studentin oder einen Studenten bei mangelnder Leistung über die sprichwörtliche Klinge springen zu lassen, ihnen das Prüfungsbestehen zu verwehren, weil sie Klagen wegen ungerechten Beurteilens fürchten müssten. Solche Tatbestände gibt es tatsächlich. Am Ende geht es gar nicht mehr um die eigentliche Leistung, sondern vorrangig um das gegenseitige Wohlwollen. Fraglich ist, ob bei so viel moralischem Anspruch überhaupt noch kantige Typen, die unbeirrt ihren Weg in der Wissenschaft verfolgen, zum Vorschein kommen oder ob wir Persönlichkeiten nicht generell durch überbordende Zurechtweisung „glattbügeln“.
Überhaupt scheinen wir zur einer Art Grenzwertgesellschaft herangereift zu sein, die alles und jeden in einen Übertretungsverdacht drängt. Blickt man auf politische Auseinandersetzungen erlebt man Vorwürfe von Unmoral oder Übermoral. Abzockermentalitäten existieren allerorten. Am Anfang der menschlichen Zivilisation stand wohl ein überschaubarer Verhaltenskodex, nach dem man sich leicht richten konnte. Da gab es beispielsweise zehn Gebote, die ein grundlegendes Zusammenleben ermöglichen sollten. Natürlich gab es stets auch Überschreitungen. Doch die moralischen Pranger sind heute derart individuell und ausdifferenziert, sodass überall Fettnäpfchen stehen oder man sich ständig mit irgendeinem Verhalten auf glattes Eis begibt. Unterschiedliche Moralvorstellungen stehen sich heute vielfach diametral gegenüber. Während Umwelt- und Klimaschutz vorrangige Ethikziele sind, sollen zugleich Wachstum und Wohlstand verbreitet werden. Dies unter einem Dach zu denken oder gar umsetzen zu können, muss an den moralischen Ansprüchen scheitern, weil weltweite Lebensverbesserungen mit Produktionssteigerungen und Ressourcenverbrauch einhergehen.
Freiheit und Demokratie sind Begriffe, die zu unserem modernen Lebensverständnis gehören. Aber unter solchen Begriffen greifen Staaten, selbst westliche Demokratien, in die Belange anderer Völker ein, weil sich diese antidemokratisch und antifreiheitlich geben. Gewalt muss als ein taugliches Mittel für eigene Moralansprüche herhalten? Das dürfte höchst fraglich sein. Wie steht es mit unserer eigenen Freiheit, wenn doch innerhalb unserer Gesellschaft die Grenzziehungen für Beurteilungen über Einzel- oder Gruppenverhalten immer engmaschiger werden? Kann man den Kategorischen Imperativ heute noch so verstehen, wie es Kant seinerzeit wissen wollte? „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Das war im System Immanuel Kants das grundlegende Prinzip der Ethik. Heute, da sich jede noch so kleine Lebensbewegung in einem Gesetzesguss wiederfindet, da Schranken und Verhaltensnormierungen bis hin in wirklich lebensferne Bereiche reichen, kein Individuum in der Lage ist, eine allgemeine Handlungsrichtschnur aufzudröseln, der sich viele anschließen könnten, da ist zu bezweifeln, ob man überhaupt noch Land im Meer der unendlichen Moralitäten sieht.
In diesem Beitrag sind nur einige wenige Moralbeispiele angerissen und aufgeführt. Jeder, der sich ernsthaft die Mühe machen wollte, einen Leitfaden moralischen Verhaltens aufzustellen, würde sich bei der Veröffentlichung schnell im Kreuzfeuer zahlreicher Kritiker wiederfinden, die jeweils andere Schwerpunkte setzten oder gesetzte als unmoralisch bezeichneten. Ob unter einer solchen Entwicklung der bisherige Freiheitsbegriff unserer Kultur noch dieselbe Bedeutung kennt, wie zu Zeiten der Aufklärung oder der Väter der Französischen Revolution, muss in Zweifel gezogen werden. Rosa Luxemburg prägte einst den Satz: „Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden.“ Vielleicht muss der Ausspruch unter der heutigen Entwicklung anders formuliert und konkretisiert werden: Freiheit scheitert immer an der Moral der anderen. Offenbar leidet die Gesellschaft heute an einem Multimoralismus, unter dem sich ein Verhaltenskorsett immer enger um jeden zieht. Zunehmende Wut und mehr Protest, was sich vielschichtig äußert, dürfe eigentlich niemanden wirklich verwundern. Thomas Wischnewski