Im Himmel ist Jahrmarkt

Geglaubt wird viel und gern. Wohin man schaut und hört, geht es eher weniger um Wissen, weit mehr um Glauben, um Illusion. Für Religionen versteht sich das von selbst, für Politik ebenso, genauso für Medien und erst recht, wenn es sich um Empfehlungen handelt, die der Erhaltung und Wiederherstellung von Gesundheit dienen sollen. An uns selbst glauben wir, mehr oder weniger und zumindest ebenso bereitwillig an die an die Unglaubwürdigkeit anderer. Sogar in wissenschaftlichen Abhandlungen wird auf Glauben gesetzt, weit mehr, als manch einer glauben möchte.

Wahre Meister in Sachen Glauben und Illusion sind die Werbefachleute. Zwar haben wir uns gegen deren Attacken auf unsere Aufmerksamkeit eine Art von Schutzschicht zugelegt, aber diese ist alles andere als vollkommen. Fast mühelos dringt hindurch, wer sich einen Knaller einfallen lässt, oder wer auf Penetranz setzt. Jeder kennt den Spot: Mit wogendem Busen im signalgelben Top werben eine Brünette und ihr hechelnder Mops für ein Schlankheitsmittel. Dazu flötet eine Frauenstimme in dem über GEZ finanzierten Fernsehen: „Entdecken Sie das einzigartige Almased-Phänomen!“ Und das seit einem halben Jahrzehnt Abend für Abend kurz vor der Tagesschau. So was, das kommt an. Millionen von Breithüftigen und Bierwampigen blicken täglich in den Spiegel und bereuen. Sie sind dann auch bereit, an ein derartig aufdringlich beworbenes Mittel zu glauben und für die Hoffnung auf etwas weniger Speck schönes Geld auszugeben. Selbst wenn die Nachbarin sagt, sie wäre von dem Zeug eher noch dicker geworden. Könnte doch sein, dass es mir hilft, speziell mir, einfach weil ich daran glaube. Zugegeben, ohne zu wissen, warum. Leichtgläubigkeit ist das. Und die macht sich verdient. Jedenfalls für den Anbieter. Es heißt, 52.200 Euro koste ein solcher 30-Sekunden-TV Spot in der „Best Minute“ kurz vor abends acht.

Glauben, Leichtgläubigkeit oder gar Blindgläubigkeit – schön und gut, oder auch nicht. Aber was schon weiß unsereiner denn genau? Einiges durchaus, zumindest im Sinne von hinlänglich. Das reicht von der frühen Erfahrung der Rundheit eines Balls und der Eckigkeit eines Würfels über die Muttersprache in Laut und Schrift und all die komplizierten Formen des menschlichen Mit- und Gegeneinanders bis hin zum schulischen und beruflichen Wissen und Können, dem Autofahren, Kaffeekochen … – ja, wo soll man da anfangen, wo aufhören? Dennoch ist das, was der Einzelne von uns wirklich weiß – prüfbar genau weiß –, eher wenig. Jedenfalls, wenn man es an dem misst, was es heutzutage alles zu wissen gibt.

Ein Beispiel: Allein das Wissen auf dem biomedizinischen und klinischen Sektor wächst von Jahr zu Jahr um mehr als 60.000 Forschungsarbeiten, veröffentlicht in Fachjournalen. Einfach lächerlich, wenn da einer so tut, als wisse er rundum Bescheid. Bei solchem Entwicklungstempo gilt das noch nicht einmal für sein Spezialgebiet. Und selbst wenn, kann er nicht wirklich wissen, ob das, was da in den Fachzeitschriften an Neuem angeboten wird, auch stimmt. Und wie erst sieht es dort aus, wo der Mensch an Grenzen kommt, von denen wir nicht einmal wissen, ob es welche sind! Dort z. B., wo Astrophysiker orakeln, dass es unendlich viele Universen gibt, die durchaus grundverschiedene Naturkonstanten und -gesetze aufweisen können und sich daher gegenseitig aufzufressen vermögen. Vorstellungsmäßig gefangen in einer 3-dimensionalen Welt, fällt es uns schon schwer, eine vierte Dimension hinzuzudenken – die der Zeit, das Denken in der Raumzeit also. Wie erst sieht es dann mit einer fünften oder sechsten Dimension aus? Oder mit einer 11-dimensionalen Supergravitation und wie mit Zeitschleifen und henkelförmigen oder löchrigen Raumzeitgestalten? Kein Mensch kann sich so etwas vorstellen, auch diejenigen können es nicht, die darüber arbeiten.
 
Was kann ich wissen?

Der deutsche Philosoph Immanuel Kant (1724 – 1804) hat vier Grundfragen hinterlassen, von denen eine lautet: „Was kann ich wissen?“ Sehr wenig, viel zu wenig, klar. Nicht nur für den Einzelnen gilt das, sogar für die Menschheit schlechthin. Allein die Berechenbarkeit setzt Grenzen, theoretische und allzumal praktische. Denken wir an die Wechselbeziehungen der etwa 10.000 Molekülarten in einer einzelnen Zelle unseres Körpers. Nie und nimmer sind diese exakt berechenbar, mithin präzise vorhersehbar. Selbst ein Computer von der Größe des von uns erfahrbaren Weltalls wäre da überfordert, auch wenn jedes seiner Teilchen (1080, oder bisschen mehr oder bisschen weniger) in die Informationsverarbeitung einbezogen wäre, und das mit jeweiliger Maximalgeschwindigkeit (1023 Operationen pro Sekunde, oder bisschen mehr oder bisschen weniger). Denken wir gar an das menschliche Gehirn mit seinen 100 Milliarden Nervenzellen und den hunderten oder tausenden informationellen Kontakten (Synapsen) zu anderen solchen Zellen. Da hat ein Schweizer Hirnforscher (H. Markram) das 1,2 Milliarden Euro schwere EU-Unternehmen „Human Brain Project“ auf die Beine gestellt mit dem Anspruch, in einem überschaubaren Zeitrahmen das Gehirn mittels moderner Computertechnik „entschlüsseln“ zu wollen. Wenige Wissenschaftler glauben daran (die leichtgläubigen), die meisten nicht, tun aber so und greifen zu den Forschungsgeldern, die ihnen bei Beteiligung winken. Nein, wenn es um eine höhere Komplexität geht, hier wie auch in ganz anderen Wissensbereichen, müssen wir uns mit Prinziplösungen begnügen. Und diese reichen für gewöhnlich recht weit, oft sogar ausreichend weit. Aber auch nicht, wenn wir z. B. an Prognosen des Marktes oder des Wetters denken. Ausnahme: das Klima in 20, 30 oder 50 Jahren(!).

Unwissen oder mangelnde Wissenschaftlichkeit erfreuen sich großer Beliebtheit in den Domänen von Politik, Religion und Ideologie, vor allem wiederum in der Werbung. Auch wenn es zumeist „nur“ halbwegs versteckter Betrug ist, kaum jemals interessiert sich die Staatsanwaltschaft dafür. Warum wohl? Ähnlich schlimm ist es, wenn in der Wissenschaft und der Lehre unwissenschaftliche oder gar antiwissenschaftliche Behauptungen aufgestellt werden – oft genug wider besseren Wissen –, allein um damit bestimmte Theorien oder Ideologien zu bedienen. Der Kreationismus zum Beispiel, der sich mit „wissenschaftlich“ aufpolierten Schöpfungsmythen bemüht, der Lehre von der biologischen Evolution Paroli zu bieten. Besonders in den USA ist er verbreitet. Aber auch anderswo in der Welt werden kreationistische „Argumente“ zur Stützung von Religionen herangezogen. Oder denken wir an die DDR-Zeit, in der man, basierend auf dem „wissenschaftlichen Kommunismus“, die Mär vom „Menschen neuen Typs“ verbreitete. Freilich, geglaubt wurde sie von nur wenigen. Überhaupt die damalige Propaganda, denn Fernsehen und Radio aus Deutschlands Westen boten Alternativen. Genau das ist es, woran es heute oft fehlt. Kein Problem für die Leichtgläubigen unter uns. Sie nehmen einfach das, was sie aus manchem Gesinnungskorridor eines staatsnahen Mediums her anweht. Wozu Alternativen? Die Kritischeren hingegen wünschen sich eine objektivere bzw. zumindest differenziertere Berichterstattung, dazu durchaus Kommentare, aber eben auch Gegenmeinungen, deren Pros und Cons in breit angelegten öffentlichen Diskursen zu erörtern sind. Die eigene Meinung, die will man sich, bitteschön, lieber selber bilden.

Der öffentliche Diskurs

Zum Beispiel den über Klimaänderung und deren Verursachung. Was spricht für CO2, für menschengemachtes, und was dagegen? Diesel oder Nicht-Diesel oder nur noch E-Mobile? Integrierbarkeit und Integrationswillen der Menschen, die aus den ärmeren Ländern zu uns kommen, wie viele noch und wie lange sollen sie bleiben dürfen? Der Euro, weitere Stützung? Auch ein Diskurs über die Geschlechtlichkeit und das Geschlechtsverhalten des Menschen ist vonnöten. Was davon ist biologisch bedingt, was durch die Umwelt. Was berechtigt die sogenannte Genderforschung, offenkundig wichtige biologische Faktoren außer Acht zu lassen? Alles kaum ein Problem für die Leichtgläubigen unter uns und die Blindgläubigen gar, ebenso nicht für jene, die das alles ohnehin nicht interessiert. Da wird eben akzeptiert, was eine tatsächliche oder angebliche Mehrheit denkt, und basta.  Die anderen aber geben keine Ruhe. Was ist mit Bezug auf die Erblichkeit bzw. Nichterblichkeit von Persönlichkeitsmerkmalen, fragen sie, was mit der Intelligenz? Oder was eigentlich ist ein Neonazi? Fällt das Kampfwort „Rassismus“, was soll man darunter verstehen, was hat das mit Rassen zu tun? Mit Genen? Auch fragt man sich, warum und mit welchem Recht im Bereich der Humanwissenschaften (klassisch „Geisteswissenschaften“) eine so ausgeprägte „Genetikophobie“ herrscht? Gleichermaßen unter den dortigen Studenten und den aus ihnen hervorgehenden Politikern und Medienleuten? Haben sie in der Schule Bio abgewählt und heute keinen Schneid, über saure Wochen hin den Stoff nachzuholen? Fast schon verständlich, solange ihnen genügend Leichtgläubige oder gar Blindgläubige Gefolgschaft leisten. Und mit denen lässt sich im Himmel herrlich Jahrmarkt feiern..

Wie nun, gehörte die Leichtgläubigkeit besser abgeschafft, allzumal die Blindgläubigkeit? Insofern ja, als sie leicht in die Irre führt, und das mit schlimmen und schlimmsten Folgen, wenn sie in existenziellen Fragen die Massen ergreift. Andererseits ist Leichtgläubigkeit ein doch recht sympathischer Wesenszug. Wie schrecklich wäre unser Miteinander, sollte alles und jedes auf die Goldwaage gelegt werden, um stets und ständig den Wahrheitskern zu hinterfragen. Selbst bei Belanglosigkeiten? Das hat was von Verbissenheit. Menschen, denen mangelndes Vertrauen zur Maxime geworden ist, nennt man in Sachsen „verknippelt“ oder „verknisselt“ – alles andere als eine Adelung ist das. Mir persönlich jedenfalls ist ein ordentlicher Schuss an Ur-Vertrauen lieber. Ja, auch eine Prise Leichtgläubigkeit. Mit Leichtgläubigen lässt sich für gewöhnlich leichter umgehen. Nur eben mir selbst, mir will sie nicht so leicht gelingen, die Leichtgläubigkeit. Gerald Wolf

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