Hurra, wir werden internationaler

Neulich war ich Zeuge eines Gesprächs. Eine junge Frau fragte einen Herrn: „Sie, als Dozent an der Fachhochschule, wissen doch, wie viele internationale Studenten dort eingeschrieben sind.“ Die Antwort war dann, dass aus Spanien zwei Studenten kämen, aus Polen drei usw.

Mich interessierte vor allem die Fragestellung, und, zugegeben, ich war irritiert. Ich dachte an meine Studienzeit in Leipzig zurück. Im Studienjahr vor uns gab es einen Türken, Mademoiselle Bôland gab Unterricht in Französisch Konversation, Mister Taylor unterrichtete in Englisch, und Frau Uschakowa war aus der Sowjetunion. In den anderen Fakultäten lernten junge Männer aus Honduras, aus Guinea und vielen anderen neuentstandenen Nationalstaaten. Wir Deutsche bezeichneten die Studenten aus anderen Ländern als Ausländer. Und wenn ein Ausländer in der DDR studierte, dann war er eben ein ausländischer Student. Vielleicht war er auch ausländischer Student, wenn er in Heidelberg oder in Hamburg studierte; genau weiß ich das nicht, denn aufgrund des Eisernen Vorhangs hatte ich keine Kontakte zu solchen Kreisen. Aber ganz sicher bin ich mir, dass es zu meiner Zeit in Leipzig keine internationalen Studenten gab, es gab neben den deutschen nur ausländische Studenten. Jetzt gibt es aber internationale Studenten! Leichte Zweifel hatte ich, ob die oben erwähnte junge Frau vielleicht nicht so gut die deutsche Sprache beherrscht, denn sie ist in der Ukraine geboren, lebt zwar schon lange in Deutschland und spricht deutsch ohne jeglichen Akzent. Ich hatte mich geirrt. „Starthilfe für Start-ups. Universität unterstützt internationale Studierende“, so lautet die Überschrift eines Artikels in einer Magdeburger Zeitung. Die Otto-von-Guericke-Universität hat demnach eine Start-up School weiterentwic-kelt, in der internationale Studierende (Achtung! Es heißt jetzt „Studierende“, um nicht „Studentinnen und Studenten“ schreiben zu müssen. Auch eine Form des Genderwahnsinns!) die Basis für ein Netzwerk internationaler Gründerinnen und Gründer entstehen lassen. Ebenso wird gesagt, dass zu den über 2.500 internationalen Studierenden an der Uni viele Inder und sogar ein Masterstudent aus Nepal gehören. Sie können in „CoWorking-Spaces“ und „MakerLabs“ Ideen testen, Prototypen herstellen und Businesspläne entwickeln. Also Internationalität, wohin man überall blicken mag.

Internationale Studenten? Was bedeutet international? Sehen wir uns dieses Wort näher an: „inter“ als sog. Präfix, also erster Teil eines zusammengesetztes Wortes, bedeutet so viel wie „zwischen“: Interaktion (Wechselwirkung, wechselweises Vorgehen, z. B. zwischen Mensch und Maschine), Intercity-Zug (zwischen Großstädten verkehrender Eisenbahnzug), Interregio (Zug zwischen Regionen), interkantonal (zwischen Kantons in der Schweiz), Intermezzo (musikalisches Zwischenspiel), interministeriell (zwischen Ministerien bestehend), interkostal (medizinisch: zwischen den Rippen liegend) usw.

Der andere Bestandteil „national“ ist von Nation mit der Bedeutung Volk, Land, Staat abgeleitet. „International“ bedeutet also – und es ist hier ganz gleich, ob ich in den DDR-Duden von 1967 oder in das Wahrig-Fremdwörterlexikon aus der Jetztzeit schaue –: „international = zwischenstaatlich, überstaatlich, nicht na-tional begrenzt, mehrere Staaten bzw. Völker oder ihre Beziehungen zueinander betreffend“.

Einige Beispiele mit für die Zwecke dieses Beitrages gekürzten Sätzen: „Die Trump-Regierung kündigt internationale Vereinbarungen.“ „Die WTO ist eine internationale Handelsorganisation (World Trade Organisation).“ „Größte internationale Organisation ist die UNO“. „Der Siemens-Konzern ist auch international tätig.“ („international“ ist hier Adverb.) „Meter und Kilogramm sind internationale Maßeinheiten“, also zwischen Staaten vereinbarte Messgrößen. Als „international“ werden nicht nur Verträge, Vereinbarungen o.ä. zwischen Regierungen von Staaten bezeichnet, sondern auch die Ländergrenzen überschreitenden Zusammenschlüsse von Privatpersonen, z. B. „Ärzte ohne Grenzen“. Oder die Internationale (Kampflied: „Die Internationale erkämpft das Menschenrecht“) als Zusammenschluss von kommunistischen Parteien mehrerer Länder.

Und jetzt kommen die internationalen Studierenden. Nicht nur in Magdeburg. Im Videotext zu einer Sendung des TV-Senders RBB konnte ich lesen, welche Sehenswürdigkeiten internationale Studierende in Potsdam zu Gesicht bekommen können. Und in einem Werbeprospekt zu Kreuzfahrten wird „Internationaler Gästeservice an Bord“ angeboten. Ob damit gemeint ist, dass auf den Kreuzfahrtschiffen Kellner aus Malaysia die Passagiere bedienen, Chinesen die Bettwäsche waschen usw., also Menschen aus verschiedenen Ländern an der Betreuung der Gäste arbeiten? Oder verbirgt sich dahinter sogar eine kleine Warnung? Denn bei einem anderen Schiff, wo zwar auch internationales Unterhaltungsprogramm angeboten wird, lese ich „Deutschsprachiger Gästeservice“. Ist bei dem ersten Schiff, mit dem „internationalen Gästeservice“, vielleicht gemeint, dass die Servicekräfte nur Fremdsprachen und nicht die deutsche Sprache kennen?

Ja, also immer mehr Internationales. Mit dem Angeben von Internationalität scheint man Ansehen und Prestige zu erhöhen. So konnte ich auf einem Werbeschild für ein Motorradrennen lesen: „Mit internationaler Beteiligung!“ Klar, die Veranstalter freuen sich und sind stolz, dass sich auch Fahrer aus dem Ausland beteiligen. Und wenn ich nicht irre, hat auch schon mal ein Moderator in einer TV-Talkshow einen ausländischen Gast so angekündigt: „Wir freuen uns, dass wir in unserer Runde auch einen internationalen Gast begrüßen können. Es ist Frau X aus den USA.“ Da kann man sich mit dem Glanz der weltweiten Bekanntheit schmücken oder zumindest Gefühle in dieser Richtung beim Zuschauer oder Zuhörer hervorru-fen, ähnlich denen, die die Zigarettenfirma Reemtsma mit ihrer Marke Peter Stuyvesant in ihrer Werbung bewirken wollte: „Der Duft der großen weiten Welt …“ (Gerade wir Ostdeutschen, zumindest die älteren, kennen diesen Slogan gut.)

Nun ich frage mich, ob Menschen wirklich international sein können? Staatenlose – die gibt es. Wie ist es aber mit Luciano Pavarotti? Der 2007 gestorbene italienische Opernsänger trat in seinem Leben auf vielen Bühnen der Welt auf. Kann man ihn deswegen als internationalen Sänger bezeichnen? Wenn Sie das bejahen, dann wahrscheinlich aufgrund seiner zahlreichen Auftritte in zahlreichen Ländern. Aber die junge Frau, die aus Portugal nach Deutschland zum Medizinstudium kommt, ist sie wirklich eine internationale Studentin, Pardon!, Studierende? Oder einfach eine ausländische Studentin? Dann müsste man denjenigen, der 2017 beim Weihnachtsmarkt in Berlin auf dem Breitscheidplatz zwölf Menschen tötete, einen internationalen Verbrecher nennen.

Wie dem auch sei, wir haben es, nüchtern gesagt, bei „international“ mit einer Verschiebung des Gebrauchs eines Wortes in der deutschen Sprache zu tun. Und je häufiger ein Wort in neuen Verbindungen mit anderen Wörtern auftaucht, umso weniger fällt dies uns auf. Wir gewöhnen uns einfach daran. Es existiert keine staatliche oder nichtstaatliche Institution, die hier einschritte und Vorschriften setzte.

Es bleibt abzuwarten, ob und wie „international“ als Ersatz für „ausländisch“ zusammen mit anderen Wörtern, quasi in Analogiebildung, genutzt wird. Beide Wörter haben im Gebrauch ihre Berechtigung, sie können jedoch nicht beliebig ausgetauscht werden. Bei „international“ spielt auch der Hang zur Verwendung von Fremdwörtern eine Rolle. Dagegen ist noch kein Kraut gewachsen. Vielleicht verstärkt sich dieser Trend sogar bei solchen Menschen, die besonders national sein wollen. Ganz auszuschließen wäre dann nicht, dass Fremdenfeinde anstelle von „Ausländer raus“ rufen: „Internationale raus!“ Dieter Mengwasser, Dipl.-Dolmetscher u. -Übersetzer

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