„Haben Sie noch alle?“
Früher war alles besser. Man kennt den Spruch oft von Menschen, die einen Vorsprung an Lebensjahren genießen und Vergleichsmaßstäbe aus der Mottenkiste der Vergangenheit zaubern. Früher war sicher alles früher und vieles gewiss anders. Doch wirft man einen Blick auf die politische Debattenkultur in Parlamenten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und vergleicht diese mit dem Einfallsreichtum heutiger Redegewandheit, möchte man doch gern ein wenig in alten Zeiten schwelgen. Während der letzten Zusammenkunft der Parlamentarier im Magdeburger Landtag wurde die Sitzung für eineinhalb Stunden unterbrochen. Für Aufregung hatte der AfD-Abgeordnete Robert Farle gesorgt. In Richtung des SPD-Kollegen Andreas Schmidt hatte er ausgerufen: „Haben Sie noch alle?“ Provokationen, sprachliche Verkürzungen und irritierende Begriffsverwendungen mögen AfD-Vertretern wesensinhärent sein. Allerdings verwundert andererseits die Erregung über manchen Ausspruch. Cornelia Lüddemann von den Grünen attestiert nach Rechts ein „unerträgliches, niedriges Niveau“. Also noch einmal ein Blick in die Historie: Da gab es im Deutschen Bundestag bei der SPD einst den Abgeordneten Herbert Wehner. Der hatte es in Bonn auf immerhin 58 Ordnungsrufe gebracht. Mit der Bezeichnung „Übelkrähe“ für einen CDU-Vertreter schrieb er sich in die Parlamentsanalen ein. „Sie sollten einmal zum Arzt gehen, Sie platzen ja“, empfahl er einem anderen Unions-Kollegen. Begriffe von anderen wie „kläffende Goldhamster“, „Betonbolschewist“, „Beamtenkuh“ oder die Bezeichnung als „Weihnachtsgans“ schafften es in die Redeprotokolle. Ob also mit „haben Sie noch alle“ die parlamentarische Redekultur einen Tiefpunkt erreicht hätte, dürfte bezweifelt werden. Zum Maßstab einer Schimpftirade gehören bekanntlich zwei Seiten. Eine, von der sie verkündet wird und eine andere, die sich davon belästigt fühlt. Die Sensibilität gegenüber Äußerungen scheint zugenommen zu haben, weil so ein Halbsatz des Herrn Farle für Empörung sorgen kann. Welche Niveauabsenkung sollte überhaupt in einer fast inhaltslosen Bemerkung spürbar werden? Egal wie zugespitzt eine Formulierung daherkommt, die am Ende verabschiedeten Gesetze werden dadurch weder besser noch schlecher. Da war früher nichts besser, noch nicht einmal als CDU-Mann Heiner Geißler einen Parteifreund „christliche Dreckschleuder“ genannt hatte. Möglicherweise ist die Aufregung bei SPD, Grünen und Linken eine gewisse Unterhaltungsstrategie, um der sonst eher langweiligen Redekultur Farbe zu geben. Diesbezüglich war wohl früher doch einiges besser oder sogar mehr Redekultur. Vielleicht haben da Parlamentarier heute einfach nicht mehr alle. Thomas Wischnewski