Goethe, der widerliche Sexist

Goethe war vielleicht nicht der schlimmste Mensch der Weltgeschichte, er spielt in der deutschen Kultur aber eine wichtige Rolle. Daher kam uns die Idee, uns auch mal kritisch mit seiner Arbeit auseinanderzusetzen.“ Damit erklärte ein Mitglied des Künstlerkollektivs „Frankfurter Hauptschule“ die Aktion, Goethes Gartenhaus in Weimar mit Klopapier zu bewerfen. Die Kritik der Studenten aus dem Raum Frankfurt richtete sich gegen das Gedicht „Heidenröslein“, in dessen letzter Strophe es heißt: „Und der wilde Knabe brach / ’s Röslein auf der Heiden; / Röslein wehrte sich und stach, / Half ihm doch kein Weh und Ach, / Mußt’ es eben leiden.“ „Entweder streicht man es aus dem Lehrplan oder man sagt dazu, dass das ‘humoristische Vergewaltigungslyrik’ ist“, sagt das Kollektiv-Mitglied, dessen Name nirgends genannt wird.

Johann Wolfgang Goethe ist vielleicht der erste Mensch, der nicht mehr überblicken konnte, was bereits zu seinen Lebzeiten über ihn publiziert wurde. Kritik und Interpretationen über sein Werk reichen bis in die heutigen Tage und werden fürderhin nicht abreißen. Das beweist einmal mehr, welche Wirkung von seinen Schriften ausgeht. Nun könnte man unter dem Postulat von künstlerischer Freiheit so eine Kollektiv-Aktion aushalten. Im Prinzip dürfte man über die dümmliche Interpretation der Studenten noch nicht einmal eine Zeile verlieren, wenn es da nicht einen größeren Zusammenhang gäbe.

„Er (Goethe) war mehr für Burgfrieden als für Revolution – in den gesellschaftlichen Besitzverhältnissen, und auch was althergebrachte Geschlechterrollen angeht. Wir haben eben das Gefühl, es gibt einen scheinheiligen Umgang mit Goethe“, sagt der Vertreter der „Frankfurter Hauptschule“ im Interview mit „bento.de“, einer Internetseite von „Spiegel online“ für junge Leute. In dieser Sichtweise zeigt sich, wie historische Zusammenhänge aufgelöst und rückwärts moralisiert werden. Folgte man der Argumentation der Kunststudenten konsequent, wäre die Auslöschung aller großen Männer aus Geschichtsbüchern naheliegend. Schließlich lebte damals jeder unter „sexistischen Bedingungen“ und „Machtverhältnissen zur Frauen-Unterdrückung“.

Wer gesellschaftliche Evolution unter ein intellektuelles Moralprädikat – gestriger wie heutiger Entwicklung – stellt, bewegt sich in den Mechanismen einer Diktatur. Die Nationalsozialisten als auch die kommunistische DDR-Führung einte die Anmaßung, darüber entscheiden zu können, welche Einstellung abzulehnen oder gar in Feindbilder einzuordnen wäre. Entsprechend wurden Menschen diskriminiert, verfolgt oder sie verloren gar ihr Leben. Die Machthaber der Diktatur schwangen sich über Denken und Meinungen auf und richteten über Andersdenkende. Es ist genau diese Analogie, die heute häufig unter höherer Moral sichtbar wird, unter der selbsternannte Progressive andere ins Reich von gestern definieren. Wer heute Goethe aus der Schule verbannen will – was einer Bücherverbrennung gleich käme –, wird morgen sicher neue Auslöschungen fordern. Ich halte das nicht für Humor, sondern im Gegenteil für sehr gefährlich. Die Zurückverurteilung eines zeitgeschichtlichen Geistes trägt faschistoide Züge. Aus einem Rückwärtsmoralisieren über den Judas-Verrat haben die Nazis unter anderem einen Keim für Juden-Hass gelegt.

Unsere Gesellschaft mag heute pluralistisch erscheinen, doch unter dieser Zerfaserung von Weltbildern, Einstellungen und Meinungen ist offenbar eine Tendenz hervorgegangen, unter der versucht wird, das Band zwischen kulturellen Wurzeln und gelebten Traditionen per Übermoral zu durchschneiden. Ich will den Teufel nicht an die Wand malen und hoffen, dass ein Goethe-Bashing, das heute noch als Kunstaktion durchgeht, morgen nicht Furore über anderes macht. Doch es ist eben eine Tendenz erkennbar, unter der Personen oder Ereignisse aus ihrem historischen Zusammenhang gerissen werden. Die einen machen dann einen „Vogelschiss der Geschichte“ daraus, die anderen tribunalisieren rückwirkend alles und jeden, der heutigen Moralmaßstäben nicht genügt. So wird Otto Hahn dereinst wegen der Atomforschung verurteilt, Gottlieb Daimler als Mitschuldiger am Klimawandel vom Sockel gestoßen. Wer die eigene Geschichte umdeutet und abzustreifen versucht, verliert die Fähigkeit verantwortlich mit ihr umzugehen. Thomas Wischnewski

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