Gefahren aus der Vergangenheit
Als sich beim Ergebnis der Europawahl die Deutschlandkarte im Gebiet der ehemaligen DDR weitgehend blau färbte, kam dies nicht aus dem blauem Himmel. Ursachen stammen aus unterschiedlichen Epochen. Beginnen wir mit einem Blick weit zurück: Dass wir Menschen bei unserem Hervortreten aus dem Tierreich nicht nur unseren Körper mitbringen, sondern auch eine Fülle von Verhaltensmustern, das ist für Fachleute natürlich ein alter Hut. Volkstümlich hat es sich vielleicht nicht so recht herumgesprochen, weil die Abstammung aus dem Tierreich von manchen bestritten oder zumindest als peinlich empfunden wird. Von alten und damals durchaus erfolgreichen Verhaltensweisen fallen uns heute aber einige auf die Füße.
Aktuell belastet uns folgendes Muster: Unsere Vorfahren – auch bis ins Tierreich – lebten in Gruppen mit klarer Struktur. Ein Alphatier – später ein Häuptling – führte die Gemeinschaft. Die Mitglieder kannten sich gut und stimmten im Aussehen überein. Innerhalb der Gruppe unterstützte man sich, nach außen hin aber grenzte man sich scharf ab. So markieren auch Tiere ein Revier und verteidigen es. Nähert sich ein fremdes Tier der Reviergrenze, wird es weggebissen. Das wirkt bis heute. Es wird derzeit praktiziert im Mittelmeer bei der Verteidigung der „Festung Europa“. Dieses Muster – Fürsorge nach innen, Abgrenzung und Hass nach außen – kann von geschickten Propagandisten prächtig genutzt werden zur Erringung eigener Macht. Wenn dann der Häuptling brüllt: „Ausländer raus!“ oder „America first!“, dann fällt das bei Stammesangehörigen auf fruchtbaren Boden und Wahlen werden gewonnen. Hier zeigt übrigens die Demokratie ihre Achillesferse. Sie ist durch emotional aufgeladene Impulse manipulierbar. So wurde ein Trump gewählt. So lief es beim Brexit. Auch ein Hitler kam durch eine demokratische Wahl an die Macht.
Man sollte für folgenden Reflex Verständnis zeigen: Wenn sich fremde Menschen begegnen, besonders von verschiedener Hautfarbe, dann kommt es im ersten Augenblick zu einem kurzen Erschrecken und erst im zweiten Augenblick zum Gedanken: Das ist ein Mensch wie du und ich, er sieht nur etwas anders aus. Für den ersten Augenblick kann man nichts. Der geschieht automatisch. Man muss sich dafür nicht in die rechte Ecke gestellt fühlen. Zum zweiten Augenblick kommt es leider nicht bei allen. Stattdessen treten oft Ängste auf, die von Scharfmachern genutzt werden können. Wenn eine Partei mit dem Slogan wirbt „Hol dir dein Land zurück!“, dann hat sie damit Erfolg. Sie sammelt zunächst die Stimmen von Ängstlichen ein, aber auch die der Zornigen und Frustrierten. Auch Aggressivität imponiert vielen. Dass Menschen dort ihren Frust abladen, wo sie „die da oben“ am meisten ärgern können, mag einesteils verständlich sein. Sie bedenken aber nicht, welche Gefahr dieser „Racheakt“ mit sich bringen kann. Warum tritt dieser Effekt besonders stark im Osten Deutschlands auf? Eine Ursache ist Hitlers Krieg und seine Folgen. Zwar gab es zunächst in ganz Deutschland Not und Niedergang. Dann aber wurde der Westen von den Westalliierten besetzt, der Osten von der Sowjetunion. Diese zog mit direkten, später mit indirekten Reparationen einen Großteil des Erwirtschafteten aus dem Land und ihre Ideologie verordnete neue Besitzverhältnisse an „Produktionsmitteln“. Kurz: Das Land kam auf keinen grünen Zweig. Jenseits des „antifaschistischen Schutzwalls“ dagegen prosperierte die Wirtschaft und erwarb eine stabile Basis.
Dann kam die Wende. Nach Artikel 23 trat die DDR der Bundesrepublik bei. Es galt nun auch im Osten nur das, was im Westen schon über vierzig Jahre gegolten hatte – mit ungeheurer Wirkung, besonders auf psychischem Gebiet. Alles, was es im Westen nicht gab, wurde liquidiert: Polikliniken, „Volkseigene“ Betriebe, Fachschulen, Ausbildungswege, Berufsabschlüsse, bisherige juristische Regeln und Besitzverhältnisse. Hier in Magdeburg wurden allein durch die Zerschlagung des Schwermaschinenbaus 30.000 Menschen arbeitslos. Damit mündete die kurze Euphorie des Anfangs in große Enttäuschung. Es kam – worunter viele schon vorher gelitten hatten – zu erneuter Demütigung. Vom Lebensrahmen blieb kein Stein auf dem anderen. Ich schrieb in mein Tagebuch: „Wenigstens die Jahreszeiten finden noch statt.“ Im Westen dagegen änderte sich nichts. Lediglich die fünfstelligen Postleitzahlen erregten Unmut. Dort hatte man sich übrigens längst an Ausländer gewöhnt. Westdeutsche kauften Gemüse und Döner beim Türken, aßen beim Griechen und Chinesen und hatten durch ihre Freizügigkeit weltweiten Kontakt zu verschiedensten Volksgruppen und Mentalitäten. Das alles hatten „eingesperrte“ DDR-Bürger nicht. Als nun in den noch längst nicht bewältigten Wendeschock kurzfristig und in großer Zahl Flüchtlinge kamen, machte das vielen Angst.
Was ist zu tun? Menschen und ihre Angst müssen unbedingt ernstgenommen werden, aber gegenüber denen, die auf diesem Weg zur Macht kommen wollen, ist Vorsicht geboten. Es wäre gut, sich die Wurzeln aus der Vergangenheit bewusst zu machen und insgesamt weiter im Gespräch zu bleiben. Dieter Müller