Gedanken- & Spaziergänge im Park: Der neunte Oktober

Je näher der 30. Jahrestag des Mauerfalls rückt, desto mehr bewegt Gerd und mich dieses Thema auf unseren Spaziergängen. Ich hörte damals erst am anderen Morgen in den Nachrichten davon und sagte mit Tränen in den Augen zu meiner Frau: „Und wir haben das verschlafen!“ Aber so bewegend diese Bilder waren und heute immer noch für mich sind, so bin ich mir mit Gerd doch insofern einig, dass der wichtigere Tag eigentlich der 9. Oktober 1989 war, als nämlich die große Demonstration in Leipzig friedlich und ohne Blutvergießen stattfand. An diesem Tage hatten sich die Menschen von der Angst vor der Macht und der Gewalt des DDR-Staates befreit, von der sie vorher oft beherrscht wurden. Bekanntlich ist ja das wichtigste Herrschaftsinstrument einer Diktatur die Erzeugung von Angst, die das Misstrauen zwischen die Menschen sät. Die Staatsgewalt wirkte nun wie eine alte klapprige und uniformierte Vogelscheuche, die ihre abschreckende Wirkung verloren hatte und auf der die Vögel jetzt angstfrei zwitschern. Das war keineswegs so vorauszusehen. Wenige Monate vorher hatte Egon Krenz noch die blutige Niederschlagung der Demonstrationen auf dem „Platz des himmlischen Friedens“ Anfang Juni in Peking bejubelt. Als die Züge mit den Botschaftsflüchtlingen aus Prag durch die DDR fahren mussten, wurden am 3. und 4. Oktober am Hauptbahnhof Dresden Demonstranten niedergeknüppelt und über 200 von ihnen verhaftet. Zumindest mitverantwortlich dafür war übrigens der damalige erste Bezirkssekretär des Bezirkes Dresden, der „freundliche“ Hans Modrow.

Ich erzählte Gerd, dass ich am 7. Oktober 1989 zu einer Geburtstagsfeier eines Klassenkameraden in Leipzig eingeladen war. Dessen Frau war Ärztin an der Universitäts-Frauenklinik in Leipzig und berichtete voller Erschütterung und Angst, dass die Kliniken freie Betten und einen größeren Posten von Blutkonserven für den kommenden Montag bereitzuhalten hätten, da eine gewalttätige Demonstration zu erwarten wäre. Wir befürchteten das Schlimmste, die „chinesische Lösung“.

Gerd nickte und sagte, dass er Ähnliches in Magdeburg erlebt hätte. Damals arbeitete er an einer Klinik der Medizinischen Akademie und hatte vom 8. zum 9. Oktober Nachtdienst. Zu seiner Überraschung kam die Parteisekretärin der Klinik, eine Ärztin, schon kurz nach 6:00 Uhr zum Dienst und sagte zu ihm, dass sie zu einer wichtigen Information gerufen worden wäre. Um 7:30 Uhr wurde die ganze Belegschaft der Klinik zusammengetrommelt. Die Parteisekretärin warnte in ihrer kurzen Ansprache alle Mitarbeiter davor, am Abend zu dem Montagsgebet in den Dom zu gehen. Die staatlichen Organe wären darüber informiert, dass Provokateure gewalttätige Ausschreitungen planten. Durch diese Provokateure könnte es zu Gewaltakten kommen, so dass die „staatlichen Organe“ dann energisch, notfalls auch mit Waffengewalt einschreiten müssten. „Also auch in Magdeburg, obwohl es dort bisher keine großen Demonstrationen gegeben hatte“, sagte ich. In der Tat waren weder Gerd noch ich montags in den Dom gegangen, da nach unserem damaligen Wissen sich dort lediglich Menschen trafen, die eine Ausreise beantragt hatten. „Warte“, sagte Gerd „es geht noch weiter“. Er wohnte in der Geißlerstraße und sah von seinem Fenster aus, wie am späten Nachmittag des 9. Oktober, es war noch hell, eine größere Anzahl von dunkelgrünen Fahrzeugen von dem Polizeigelände aus der Straße „Am Buckauer Tor“ gefahren kamen. Sie überquerten die Sternstraße, fuhren durch die Geißlerstraße und bogen nach links auf die Hegelstraße in Richtung Dom ein. Es waren Mannschaftswagen, Wasserwerfer und Lastwagen mit großen Gittern vor dem Kühler, sogenannten „Schneeschiebern“, zum Zurückdrängen von Menschen gedacht. Auf den Mannschaftswagen befanden sich bewaffnete Volkspolizisten und Kampfgruppen. Es habe recht gefährlich ausgesehen. In banger Erwartung blieb Gerd am geöffneten Fenster.

Dann kam die Überraschung: vielleicht eine halbe Stunde später oder etwas mehr sah er zwei blankgeputzte Jeeps der Roten Armee, die durch die Geißlerstraße in umgekehrter Richtung zu den hell erleuchteten Polizeigebäuden fuhren, wo sich anscheinend das „Lagezentrum“ befand. Deutlich zu erkennen waren in den Jeeps mehrere hohe sowjetische Offiziere mit goldenen Schulterstücken. Ob ein General dabei war oder ob es Oberste waren konnte er nicht genau erkennen. Wie dem auch sei, diese hohen sowjetischen Offiziere waren kaum eine halbe Stunde in dem Polizeigebäude – da begann der Rückmarsch von Volkspolizei und Kampfgruppen in umgekehrter Richtung aus der Hegelstraße zum Buckauer Tor! „Das heißt doch nichts anderes, als dass die sowjetische Generalität bzw. die sowjetische Führung energisch jede Art von Waffengewalt gegen die friedlichen Demonstranten untersagt hatte“, meinte ich dazu. „Genauso sehe ich das auch“, erwiderte Gerd, „und das würde auch genau zu der politischen Haltung Gorbatschows passen.“ Möglicherweise gab es Ähnliches auch in anderen Städten? Magdeburg war diesbezüglich sicher keine Ausnahme. Von diesem 9. Oktober an ging es mit der DDR rapide bergab. Die Menschen hatten die Angst verloren und begannen sich immer lauter zu artikulieren. Der Dom füllte sich von Montag zu Montag immer mehr und bald gingen auch die Magdeburger aus dem Dom auf die Straße.

Etwa eine Woche später wurde der starrsinnige Honecker entmachtet und Krenz verkündete am 18.10. die „Wende“ in der Hoffnung, die im Sterben liegende DDR wiederbeleben zu können. Ich mag diesen Begriff „Wende“ nicht, denn er täuscht etwas vor, was nicht stattfand. Wer die Nachkriegszeit noch kennt, der weiß, dass damals alte Jacken oder Mäntel „gewendet“ wurden, d. h. die Stoffseite, die vorher innen war, kam nach außen. Das Stück sah zwar fast aus wie neu, bestand aber nach wie vor aus dem gleichen alten Stoff! Insofern ist der Begriff „Wende“ vielleicht doch gar nicht so falsch, wenn er auch von Krenz anders gemeint war.

Es ist gut, dass in wenigen Tagen in Leipzig an diesen denkwürdigen Tag, den 9. Oktober 1989, erinnert wird. In der dortigen Peterskirche führt die Philharmonie Leipzig, nicht zu verwechseln mit dem Gewandhausorchester, Beethovens IX. Symphonie auf. So weit, so gut. Aber Gerd ist dennoch über diese Veranstaltung empört. Warum? Als Festredner haben die Veranstalter Gregor Gysi engagiert. „Ausgerechnet der!“, wettert Gerd, „der stand doch damals auf der anderen Seite der Front! Hat dann aktiv daran gearbeitet, dass auch die SED „gewendet“ wurde einschließlich des Namensetiketts. Leipzig war einer der ersten Schritte zur Wiedervereinigung unseres Vaterlandes, vor der der Genosse Gysi mit den Worten warnte, dass er kein neues Großdeutschland möchte!“ Gerd sagte weiter, dass er mit seinem Ehrgefühl an Gysis Stelle solch einen Auftrag nicht angenommen hätte. Es müsste ihm doch selber widersinnig oder peinlich vorkommen. „Hast du eben von Ehre gesprochen“, fragte ich ihn, „seit wann ist denn Ehre eine politische Kategorie? Ist das nicht eher ein Begriff aus vergangenen Zeiten? Noch feudal oder schon fast völkisch?“

Peter Gauweiler von der CSU hatte zu seinem 70. Geburtstag im Juni neben vielen anderen auch Egon Krenz nach München eingeladen. Und der fuhr auch hin zu dem so oft verteufelten Klassenfeind! Gerd winkte ab und sagte resigniert: „Letzten Endes halten die Herrschenden immer zusammen, auch wenn sie sich früher bis aufs Blut bekämpft hatten.“ Dabei fiel uns der Schluss des lesenswerten Romans „Die Farm der Tiere“ von George Orwell ein: Die ausgebeuteten Tiere einer Farm hatten unter Führung der Schweine (tut mir leid, aber Orwell hatte tatsächlich die Schweine zu den revolutionären Führern gemacht) die besitzenden und ausbeutenden Bauern vertrieben. Nun herrschten die Schweine im Menschenhaus und die anderen Tiere mussten weiter schuften wie vorher, während die Schweine mit den Menschen Handel trieben. Am Ende des Romans schauten die Tiere fassungslos durch die Fenster in das Gutshaus, wo Schweine und Menschen zusammen feierten und sich besoffen.

Allen, die noch von einer sozialistischen DDR oder gar einem sozialistischem Deutschland schwärmen, soll hier der deutsche Film „Und der Zukunft zugewandt“ empfohlen sein, der z. Z. mit großem Erfolg im Studiokino läuft. Ein des Nachdenkens werter Satz aus diesem Film kam auf die Frage der weibliche Hauptfigur, was denn die Wahrheit sei: „Wahrheit ist das, was uns nützt!“, lautete die Antwort des SED-Funktionärs. Sind wir heute davon wirklich so weit entfernt? Paul F. Gaudi

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