Freie Meinung oder frei von Meinung?
In den 1960er Jahren gab es in der Bundesrepublik zwei Fernsehsender, ein paar Radioanstalten und zahlreiche Zeitungen. Dies galt in damaliger Zeit als Beleg für Meinungs- und Pressefreiheit. Versucht man heute, im Zeitalter des Internets, den Umfang möglicher Veröffentlichungskanäle zu fassen, wird man schnell scheitern. Dennoch verbreitet sich mehr und mehr die Auffassung, dass sich Diskursräume verengen würden. Es ist gar von gleichgeschalteten Medien, Lügenpresse und einem Meinungsmainstream die Rede. Nie zuvor verfügte die Gesellschaft über so viele Möglichkeiten, Öffentlichkeit herzustellen. Man müsste annehmen, dass überall ein Loblied auf die Meinungsfreiheit gesungen würde. Doch Fehlanzeige. Obwohl die krausesten Gedanken geäußert werden können, sich Verschwörungen, alle möglichen Glaubensrichtungen oder gar Lügen verbreiten, erklären viele Leute, dass man nicht mehr alles sagen dürfe.
Die Grünen-Politikerin Renate Künast scheiterte gerade vor dem Landgericht Berlin, weil sie sich Schmäh-Kommentare bei Facebook nicht gefallen lassen wollte. Die Zuckerberg-Firma sollte die Beschimpfungen löschen und die Adressaten herausgeben, damit sie wegen Beleidigung angezeigt werden könnten. Die Wortwahl war wirklich von der übels-ten Sorte. Doch die drei Berufsrichter – zwei Frauen und ein Mann – entschieden anders. Frau Künast müsse die Wortwahl aushalten. Die Äußerungen seien von der Meinungsfreiheit gedeckt.
Ausdrücke des Hasses, Diffamierungen, Fake News, Täuschungen, linke als auch rechte Propaganda oder ungedeckte Behauptungen können meist ohne Einschränkung verbreitet werden. Was erzeugt dann den Eindruck sich verengender Debatten? Der Mechanismus einer fortschreitenden Polarisierung spielt dabei eine wichtige Rolle. Entgegen häufiger Äußerungen in etablierten Medien sind dafür jedoch nicht allein rechte Positionen und sogenannter Populismus verantwortlich. Vielfach sind es eben die Akteure in der klassischen Medienwelt, Journalisten und Politiker selbst, die diese Entwicklung mit befördert haben. Die Abgrenzung von einem nicht akzeptierten Spektrum und die permanente Zurückweisung oder der Versuch, inhaltliche Gegengewichte aufzubieten, sind dabei nur ein Aspekt. Ein weiterer ergibt sich aus einem Deutungsverlust der klassischen Presseeinrichtungen. So spielte sich die öffentliche Debatte bis vor 20 Jahren noch ausschließlich in TV- und Radiosendungen oder auf Zeitungsseiten ab. Mittlerweile sind neue Plattformen entstanden, auf denen halt jeder eigene Überzeugungen ungefiltert herauslassen kann. Obwohl die Medienbetriebe die Ausbreitung der Vernetzung selbst enorm befeuert haben, in dem sie sich dort als maßgebliche Inhaltserzeuger präsentierten, wurde eben sichtbar, dass es gegenteilige Meinungen gibt. Da Medien aufgrund ihrer Historie ein relativ stabiles Meinungsspektrum entwickelt haben, stecken sie eben vielfach inhaltlich fest. Was den eigenen Horizont überspringt wird häufig abgewehrt. Auf diese Weise sorgen Vertreter einer bröckelnden Deutungshoheit ebenso für eine Kanalisierung von Meinungen. Und sie haben teilweise die Chance verspielt, sich unabhängig zu zeigen und politische Spektren aufzuzeigen, anstatt sie sofort abzuurteilen. Den Rezipienten die Ereignisse einordnen – so wird es medial verklausuliert. Als ob die Öffentlichkeit zu blöde wäre, Zusammenhänge zu verstehen. Jegliche Kritik an politischer Programmatik wurde zu schnell in die Populis-tenecke verbannt. Differenzierungen, die heute oft wieder versucht werden, scheitern in der Regel bereits an einstiger Etikettierung. In Selbstbekundung reden sich Zeitungen und Rundfunk ein, Qualitätsmedien zu sein. Doch mediale Qualität misst sich nicht an Standpunkten, sondern realisiert sich in politisch zurückhaltender, aber vielseitiger Darstellung von Entwicklungen, Positionen und Beispielen. Im Selbstverständnis, die vierte Macht im Staate zu sein, agieren Journalisten der öffentlich-rechtlichen Anstalten häufig wie Politiker, obwohl sie von niemandem demokratisch dazu legitimiert wurden. Es ist quasi ein angemaßtes Recht.
Sprachvorschriften, die sich seit einigen Jahren unter dem Anspruch, mehr Gerechtigkeit zu schaffen, verbreiten, engen ebenfalls die Debattenräume ein. Wer nicht im Code verordneter Schreibregeln agiert, wird per se als ungerechter Akteur abgeurteilt. An Hochschulen werden Arbeiten minder bewertet, wenn sie die Sprachvorschriften nicht erfüllen, obwohl sie vielleicht wissenschaftlich brilliant sind. Die Schriftstellerin Olga Martynova drückt ihre Erfahrung so aus: „Wenn ich von Kulturbeamten unterschriebene Flyer bekomme, wo Dichter*innen und Teilnehmende begrüßt werden, fühle ich mich unter Druck gesetzt. Für mich als jemanden, der in der Sowjetunion aufgewachsen ist, ist das besonders seltsam, eigentlich ein Déjà-vu: Ich als Autorin bekomme absurde sprachliche Empfehlungen von einer Kulturbehörde! Die Ähnlichkeit wird leider dadurch verstärkt, dass ich einige der Verfasser jener Texte privat sagen höre, sie fänden genderangepasste Sprache absurd. Das erinnert wieder an sowjetische Kulturverantwortliche, die eine private Meinung für die Freunde und eine ganz andere öffentliche Position hatten. Hilfe, will man rufen, aber wer kann helfen, und gegen wen? Die aufrichtigen Menschen, die glauben, dass sie auf diese Weise zur Gerechtigkeit beitragen, sollten jedoch eine Regel beachten: Immer, wenn man der Sprache Gewalt antut, verletzt man die Menschlichkeit. Das heißt, es stimmt da etwas nicht.“
Es gibt also doch wieder Meinungen, die man öffentlich äußert und solche, die im Privaten die Runde machen. So war es zu DDR-Zeiten. Dass dies möglich geworden ist, liegt eben an der Zurückweisung missliebiger Argumente in öffentlichen Diskursräumen. Bei allem Verständnis für eine Renate Künast, die sich tatsächlich schlimmste Unworte gefallen lassen muss, sind es offenbar die Richter, die der Meinungsfreiheit das Fundament sichern. Es ist eben nur nicht die Vielzahl an Kanälen. Olga Martynova bleibt in ihrer Kritik an verordneter Sprache optimistisch: „Zwanzig oder dreißig Jahre später werden die jungen Menschen den ergrauten Gendersternchenfreaks mit nachsichtiger Ironie begegnen, wohl wissend, dass Gleichberechtigung und Respekt auf Kosten der Sprache nicht zu erreichen sind.“ So ist es auch mit Meinungsfreiheit, die nicht per vorgekauter, journalistischer Einordnung zu haben ist. Thomas Wischnewski