Falsch ist das neue Richtig!
Der extreme Vertrauensverlust
Endlich sind die Kartellabsprachen unter den deutschen Automobilkonzernen entlarvt. Vertreter der Unternehmen sollen sich seit mehr als zwei Jahrzehnten regelmäßig in Arbeitskreisen getroffen haben, um sich über die Technik der Fahrzeuge, über Kos-ten, Zulieferer, Märkte und Strategien abzusprechen. Auch die Abgasreinigung mit dem Zusatz von AdBlue sowie um die Größe der dafür nötigen Tanks hätte man sich abgestimmt. Aus diesen Treffen könnte die Dieselmanipulation entstanden sein. Als stereotypische Reaktion der Verantwortlichen folgt meistens die Selbstverpflichtung nach brutalstmöglicher Aufklärung. Was bleibt in den Köpfen der Autokunden hängen? Man würde so oder so über den Tisch gezogen. Heute sind es die Autobauer, morgen kommen Enthüllungen über andere Branchen ans Licht. Vertrauen und Glaubwürdigkeit in Unternehmen bröckeln zusehens.
Existiert eigentlich ein Bereich, in dem es anders zugeht? In der Medienbranche wird gern gebetsmühlenartig der Anspruch nach inhaltlicher Qualität und Wahrhaftigkeit heruntergeleiert. Eine Studie der gewerkschaftsnahen Otto Brenner Stiftung bescheinigt überregionalen und lokalen Medien nun eine verengte, einseitige Berichterstattung während der Flüchtlingskrise. Transportiert wurden vor allem elitäre Meinungen und Kritik wurde diffamiert. Darauf wird noch zurückzukommen sein.
Wenn es eine objektive Skala zum Vertrauen gegenüber politischen Parteien und Akteuren gäbe, würde die Anzeige sicher einen tiefen Punkt markieren. Die Lebenserfahrung von Wählern schwankt zwischen höchstmöglich Versprochenem und marginaler Veränderung. Das Wahlkampfgetöse verstummt nach der Stimmabgabe hinter kleinmütigen Prozentkorrekturen hinter dem Komma staatlicher Fiskalsteuerung. In ideologischen Politiksphären braust dagegen manche Entscheidung wie ein Sturm über den Bestand bewährter Begriffe hinweg. Energie kann nur gut sein, wenn sie erneuerbar ist. Dabei ist Strom immer noch Strom und es geht eigentlich um dessen Erzeugung. Wenn nicht Bio oder Öko vor einem Produkt steht, haftet ihm automatisch eine schlechtere Eigenschaft an. So muss man das heute im politisch korrekten Sprech verstehen. Gehen Sie mal in ein Geschäft und fragen dort nach Gentomaten. Sie werden ein entrüstet verständnisloses Kopfschütteln sowie ein „Haben-wir-nicht“ ernten, so als ob Gemüse genfreie Pflanzen seien.
Jeder Lebensbereich ist streng nach falsch und richtig getrennt. Ernährung, Lebensweise oder Fortbewegung stehen unter permanentem Verdacht, nicht angemessen umgesetzt zu werden. Diese gesellschaftliche Lebensverbesserungspädagogik strahlt seit Jahren aus allen Rohren. Die sozialen Medien haben diesen Trend ins Unermessliche gesteigert, weil es dort quasi keine Veröffentlichung gibt, die nicht irgendwie einen Verhaltenskodex manifestieren würde, sei es in täglich geteilten Lebensweisheiten, Anleitungen über Dies und Das oder in zurechtweisenden oder gar sprachstrafenden Kommentaren. Ursprüngliche, tiefe Überzeugungen mutieren darunter, dass viele ihren Senf zu allem abgeben müssen, vom Richtigen zum Falschen. Und da man sich persönlich kaum dem imaginären Überwachungsdruck entziehen kann – nicht nur im Internet, auch im TV, im Radio oder in Zeitungen und Zeitschriften – verschärft sich die sprachliche Bewertung als mögliche Folge individueller Hilflosigkeit. Es zeigt sich in aktuellen Bewertungsmaßstäben ein Trend, als wohnte uns Deutschen ein Hang zum Extremen inne, der aber auch alles in richtig und falsch aufspalten will.
Als Anfang 2015 in Dresden Pegida-Demonstrationen aufzogen, war das teibende Motiv schnell ausgemacht: Fremdenfeinde, islamophobe Menschen schlossen sich extremistischen Botschaften an. Während im September 2015 in München Tausende jubelnd Flüchtlinge willkommen hießen, kletterte die veröffentlichte Fieberkurve an Herzlichkeit auf Höchsttemperatur. Durchaus damals schon existente Alltagsprobleme in großstädtischen Vierteln mit hohem Migrantenanteil wurden vom Jubel ausgeblendet. Kritische Stimmen erhielten fix die Stempelfarbe braun verpasst oder das Stigma von Rassismus. Genauso wenig passt andererseits die Pauschalisierung und Kriminalisierung gegenüber Asylbewerbern.
Von den Demonstrationen in Hamburg während des G20-Gipfels bleiben in der allgemeinen Berichterstattung dagegen fast nur linksextreme Gewalttäter über. Die Mehrheit der Demonstrationsteilnehmer war wie ein zartes Flöckchen vom Aufschrei weggeweht. Warum müssen wir heute offenbar Entwicklungen, kritische Einwände oder scheinbar abweichende Meinungen gleich unter den Generalverdacht extremer Gesinnungen stellen? Die eine Antwort könnte lauten: Dies ist Folge des „extremen“ Vertrauenverlustetes gegenüber wirtschaftlichen, politischen und medialen Akteuren. Eine andere Antwort ist komplizierter und hat etwas mit einer unsäglichen Umklammerung von Begriffen zu tun.
Prüfen Sie einmal selbst, womit Sie die politischen Reizworte „rechts“ oder „links“ verbinden. Welche Analogien fallen Ihnen dazu ein? Wer heute rechts sagt, verknüpft das Wort – Hand aufs Herz – irgendwie sogleich mit Rassismus, Nazis, Faschismus, Holocaust und ähnlichem. Links wird dagegen selten oder fast nie mit Gewalt (vielleicht außer nach Hamburg) in Zusammenhang gebracht. Geschichtlich waren Stalin, Mao Tse-tung Linke aber ebenso Massenmörder wie Hitler. Die einen Verbrechen gegen die anderen aufzuwiegen, wäre scheinheilige Relativierung.
Noch einen Schritt zurück in die Geschichte: Die Benennung von rechten oder linken politischen Positionen hat ihren Ursprung in der Französischen Nationalversammlung von 1789. Dort wurde die linke Seite „le côté gauche“ als revolutionäre, republikanische Stoßrichtung bezeichnet, während „le côté droit“ die eher zurückhaltende, der Monarchie freundlich gesinnte Vorstellung war. Diese Orientierung galt fürderhin als politische Einteilung. Wer sich inhaltlich zwischen diesen Seitenbewegte, in der Argumentation mal in die eine oder die andere Richtung tendierte, stand in der Mitte. Die sofortige Begriffsverkettung dieser politischen Flügel mit extremen Positionen findet eine wesentliche Wurzel in der Bewertung der deutschen Geschichte mit den schrecklichen Folgen der Nazidiktatur. Wir haben aber keine neuen Worte für das politische Spektrum erfunden. Also müssen wir mit links und rechts umgehen, sollten aber kritischer und zurückhaltender mit sofortigen Einordnungen in extreme Haltungen sein. Leider ist das mit der Berichterstattung zur Flüchtlingskrise verloren gegangen. Während jede Mahnung vor möglichen Konflikten und Problemen mit Zuwanderung reflexartig mit Fremdenfeindlichkeit oder gar Rassismus besetzt wurde, wehrten sich derart diffamierte Stimmen vielfach mit dem Vorwurf über so genanntes linkes Gutmenschentum. Die Debattenkultur, ein beherztes Streiten um Standpunkte und Meinungen erstarb unter einer Links-Rechts-Arithmetik mit dem Hang dazu, die jeweilige Ansicht zu extremisieren.
Vertrauensauflösung zeigt sich auch in kuriosen Widersprüchen manch politischer Äußerung: Der Anteil an Geringverdienern in Ostdeutschland – und damit an Menschen mit erhöhtem Armutsrisiko – liegt in Sachsen-Anhalt bei über 30 Prozent. Die Partei Die Linke fordert deshalb konsequent gegen „Lohndumping durch Leiharbeit und Werkverträge, Minijobs und unfreiwillige Teilzeit sowie die Tarifflucht von Unternehmen“ vorzugehen. Unter diesem berechtigten Gerechtigkeitsanspruch verwundert allerdings der stete Verweis auf ein reiches Deutschland und seine Möglichkeiten für weltweite Solidarität und vor allem unbegrenzte Aufnahmefähigkeit für Zuwanderer, die genau diesen Armutsbereich erweitern würden. Ein anderes begriffsverirrendes Beispiel: „Der Streckenabschnitt der A 14 von Magdeburg bis zur Landesgrenze Brandenburgs, der nun weiter gebaut wird, ist die grünste Autobahn Deutschlands. So wird es beispielsweise auf der 97 Kilometer langen Autobahntrasse durch den Norden Sachsen-Anhalts vier Wild- und Grünbrücken geben, vier Wildunterführungen, 14 Fledermausquerungen und 30 Fischotterübergänge.“ So argumentiert das sachsen-anhaltische Ministerium für Landesentwicklung und Verkehr. Eine Autobahn ist eine Autobahn. Der Trasse ein Öko-Etikett anzuheften, als hätte deren Bau weder etwas mit einem Zubetonieren von Naturraum zu tun und mit Abgasentwicklung durch Autoverkehr, soll das Bauwerk wohl mit einem vernebelten Umweltbegriff verbessern. Das Gewissen von Reisenden auf Langstreckenflügen steigt anscheinend ebenso in einen guten Himmel auf, weil die Triebwerke weniger Schadstoffe ausschütten. Weltweit steigt jedoch die Anzahl der Flüge und Passagiere. Wie ist da die Gesamtumweltbilanz?
Man bekommt den Eindruck, als würden wir Deutsche extrem gut sein können, weil wir mit den falschen Worten – natürlich mit Benennungen, die eine positive Ausstrahlung besitzen – letztlich das Richtige tun. Oder ist es gar umgekehrt? Falsch ist das neue Richtig, weil man unter der Verdrehung vieler Wortbedeutungen gar nichts Angemessenes mehr tun kann. Doch lehnen Sie sich zurück und lassen Sie sich die Botschaften, die in den nächsten Wochen wie ein Feuerwerk eine bessere Zukunft, mehr Gerechtigkeit, Sicherheit und gut bezahlte Arbeit versprechen, auf der Zunge zergehen. Konzerne werden fürs Mauscheln ans Gängelband genommen und in die Schranken gewiesen. Vom Bürger wird Vertrauen gefordert, während Wahlkampflosungen Phrasen bleiben. Wie Sie sich am 24. September auch immer entscheiden werden, für irgendeinen wird es immer die falsche Entscheidung sein. Und das ist genau richtig. Thomas Wischnewski