Druckzustände
Aus Visionen und Interessen werden Parteiprogramme, Ansprüche und Normen. Das soll zu mehr Ausgleich führen. Aber Spaltung und Zerfall schreiten voran. Es bedarf einer kritischen Wertung, ob nicht Forderungen inflationärer Partikularinteressen für geistige Druckzustände sorgen?
Seit der Populismus über die Welt gekommen ist, entstünden immer mehr Schieflagen. So argumentiert man auf der Seite etablierter Parteien. In Österreich hätte die ÖVP die Rechten von der FPÖ salonfähig gemacht, lautet ein mehrfach wiederholter Vorwurf in Richtung des Bundeskanzlers Sebastian Kurz. Dass die FPÖ von fast 26 Prozent der Wahlberechtigten, die ihre Stimme abgaben, gewählt wurde, fällt mit solchen Sätzen unter den Tisch. Es sind jedoch gerade die häufig nicht genannten Tatsachen, die schlüssigere Erklärungen liefern als schlichte Schuldzuweisungen. Jeder einigermaßen mit Erfahrung beschlagene Mensch weiß, dass am Scheitern einer Beziehung jeder seinen Rucksack zu tragen hat. Den eigenen Verantwortungsanteil angemessen benennen zu können, fällt allen schwer. Politikern offenbar besonders. Und so ist es eben nur der Populismus, der die Gesellschaft angeblich mit heuchlerischen und falschen Botschaften überzöge.
Werfen wir zunächst einen Blick auf die Kommunikationsmechanismen, um Zuspitzung und Spaltung in deutschen Landen besser zu verstehen. Es existiert heute kaum eine politische Debatte – egal, ob über Klimaschutz, Migration, Recht und Ordnung, Bildung oder Wirtschaft diskutiert wird –, bei der Kritiker nicht sofort als Gegner gelten. Kürzlich berichtete die Frankfurter Allgemeine Zeitung über zwei engagierte Helfer, die in einer Asylunterkunft die Diffamierung von Homosexuellen bekannt machten. Die betroffenen Männer waren genau vor solchen Zuständen geflohen und erlebten nun deren Fortsetzung in Deutschland. Die Opfer erfuhren zunächst keine Unterstützung, dafür wurden die Flüchtlingshelfer als Rassisten bezeichnet, weil sie das Leid der homosexuellen Männer, das sie durch andere Asylbewerber erfuhren, öffentlich gemacht hatten. Genau solche Erscheinungen treten fortlaufend ans Tageslicht. Kennen Sie eigentlich jemanden, der aktiv gegen Klimaschutz kämpft? Wer aber nicht die einfachen Botschaften der „fridays-for-future-Demos wiederholt und differenzierter über die Wege für einen maßvollen Umgang mit unserem natürlichen Lebensraum diskutieren will, wird sofort als Klimagegner oder gar Leugner des Klimawandels beschimpft. Genauso geht es kritischen Stimmen, die Probleme bei der Integration oder mit den Folgen von Migration benennen, als ließe sich die Welt in Fremdenfeinde und Weltoffenheitsverteidiger aufteilen. Jeglicher Diskurs erscheint heute verkürzt. Twitter ist nicht mehr nur der Kurznachrichtendienst, sondern die Kommunikationsform der Gegenwart. Auf diese Weise lassen sich jedoch die Komplexität der Welt, das Zusammenwirken von Mensch und Natur oder die Lebensbedingungen von Millionen Individuen nicht fassen. Offenbar gibt es aus der Entwicklung kein Entrinnen mehr. In der vernetzten Gesellschaft ploppt ein Argument hoch und wird als Reizthema identifiziert mit Wutbotschaften kommentiert. Auf diese Weise ist eigentlich keine Diskussion mehr möglich. Jeder will den anderen bereits erkannt haben. Anhand von kurzen Sätzen soll das Gegenüber entlarvt sein. Der Mensch in seinem Facettenreichtum versinkt im Meer gegenseitiger Schnipsel-Vorwürfe.
Wenn dieser Trend in die Zukunft weisen soll, muss einem Angst und Bange werden. Inzwischen erlebt man die Form solcher Auseinandersetzungen auf allen Ebenen. Der amerikanische Präsident Donald Trump wird für seine unberechenbare Twitter-Politik gescholten, aber seine erklärten Gegner erwidern jede seiner Verkürzung letztlich auf dieselbe Art und Weise. Der Gewinn der Grünen bei der Wahl zum EU-Parlament lässt sich aus demselben Muster schlussfolgern. Der Begriff Klimarettung per CO2-Reduzierung als Programm erzeugt die schöne Vision, jede natürliche Bewegung könnte politisch verhandelt und in Gesetze gegossen werden. Es folgt daraus die Sichtweise, dass Politik überhaupt alles beeinflussen und regeln könnte. Allein die rechte Vorschrift würde es schon richten. Darüber, dass fossile Energieträger ihre Grenzen haben und deren massenhafter Einsatz mit negativen Folgen einhergeht, gibt es eigentlich keinen Zweifel. Aber die Ursachen, wie global produziert wird, wie die Warenströme laufen und welcher Rohstoffverbrauch aus einem weltweit wachsenden Wohlstandsanspruch hervorgeht, bleiben dabei meistens völlig unberücksichtigt. Wenn sich in kurzer Frist für Millionen Menschen Arbeit und Leben ändern sollen, führt das auch zu Verwerfungen im Sozialgefüge. Leidtragende werden dabei weniger die sein, die über die finanziellen Möglichkeiten verfügen, ein grenzenloses Dasein führen zu können, sondern vor allem jene, die den unteren Teil der Gesellschaft repräsentieren. Wenn wir die erklärten Ziele der Klimaschutzabkommen wirklich erreichen wollen, wird das kaum ohne planwirtschaftliche Regulierung, Verbote und Begrenzungen funktionieren. Eine solche Politik würde findige Köpfe hervorbringen, die dann Versorgungslücken füllen und Schwarzmärkte erzeugen. Für die Auswirkungen von restriktiver Begrenzung gibt es nun wirklich ausreichend historische Belege. Nutznießer werden wiederum jene sein, die es sich leisten können, Preise für Mangelwaren oder Dienstleistungen zu blechen.
Die fortschreitende Spaltung der Gesellschaft resultiert nicht allein aus rechten und linken politischen Lagern. Sie speißt sich ebenso aus sprudelnden Partikularinteressen, die sich vielstimmig Gehör verschaffen und legitimierte Gesetzgebung unterlaufen. Es existieren heute zahlreiche Vereine und Institutionen im Umwelt-, Gesundheits- oder in Sozialbereichen, die allesamt im Kern berechtigte Anliegen vertreten, aber letztlich Regierungen mit ihren Beschlüssen oder die gesetzgeberische Mehrheit in einem Parlament vor den Kadi ziehen. Bei politisch beschlossenen Vorhaben – ob bei Autobahnen, Brückenbauten oder Naturschutzregeln – werden am Ende Richter zum Entscheider über gewählte Vertretungen. Und mit der Zeit erreichen solche verbandsklageberechtigten Institutionen einen Status quo, der sie in eine Art Systemrelevanz hineinhievt. Der Staat – also alle Steuerzahler – nährt solche Gebilde dann auch noch aus den öffentlichen Kassen, als ob er selbst permanent vors Schienbein getreten wird. Hier kann nicht über die Berechtigung mancher Klagen und Verhinderungen geurteilt werden, sondern nur auf den fortschreitenden Mechanismus aufmerksam gemacht werden, der zur Tendenz der Entmachtung der Parlamente führt. Wenn also häufig der Schutz der Demokratie vor Populisten proklamiert wird, muss auch diese andere Erosion beachtet werden.
Als das Verfassungericht die Eintragung eines dritten Geschlechts verabschiedete, ging es von der Annahme aus, dass in Deutschland rund 160.000 Menschen davon betroffen sein könnten. Allerdings wurden die Zahlen nicht gerichtlich geprüft, sondern von entsprechenden Interessenvertretern behauptet. Heute geht die Forschung von vielleicht 1.600 Betroffenen aus. Real lassen sich vielleicht ein paar Hundert sogenannte Intersexuelle mit einem dritten Geschlecht in Standesämtern eintragen. Die Interessen solcher Menschen sollen verfassungsrechtlich gewährleistet werden. Das wird hier nicht kritisiert, sondern der Druck, den eine verschwindend geringe Minderheit gegenüber der Gesamtgesellschaft ausübt und damit eine Präsenz erzeugt, die der Größenordnung des Phänomens in keiner Weise gerecht wird.
Es sind die Geschichten, die heute über alles erzählt werden, unter der Tatsache, reale Zustände und Entwicklungen in einen unfassbaren vergeis-tigten Himmel ziehen. Manchmal möchte man glauben, dass dies eine Auswirkung der Inflation der Bildschirme ist, die in den Alltag eindrangen und Zeit sowie Gelegenheiten für die Teilnahme an der Wirklichkeit auffraßen. Die Generation, die heute älter als 50 ist und noch unter wenigen TV-Kanälen mit begrenzter Sendezeit – ab 24 Uhr gab’s nur noch ein Testbild – aufwuchs, hatte weniger Inszenierungspotenziale vor Augen. Bekam man damals vieles auf der Welt nicht mit, kann heute ein berichtetes lokales Kleinereignis in kürzester Zeit zur Katastrophe mutieren und enzündet weltweit die Gemüter.
Claas Relotius, der Geschichtenerfinder im Magazin „Der Spiegel“, wurde für seine erlogenen Reportagen zurecht an den Pranger gestellt. Doch befinden wir uns längst in einem Relotius-Zeitalter, in dem nur wahrgenommen wird, wer die schönste, schrecklichste, berührendste oder bedrückendste Erzählung in Szene setzt. Der Politik wird seit Jahren die Selbstinszenierung vorgeworfen, aber die Selbsttheatralik ist längst überall und permanent. Sie entfremdet von der Realität. Das erzeugt gesellschaftliche Druckzustände, die in Desorientierung und neuen Glaubenssätzen münden. Wenn jemand zwischen Christen und Muslimen einen Kampf der Religionen sehen will, übersieht er die unzähligen Indiviualreligionen, die ständig neue Götter produzieren. Was hilft? Weniger hinsehen, das nimmt den Druck. Thomas Wischnewski