Diktatur der Experten?
Wie viele Regeln kann man überblicken? Gegen Gesetze und Verhaltensvorschriften zu verstoßen, wird zunehmen. In Deutschland wächst die Spezialistendichte. Offenbar entsteht darunter eine Art Diktatur der Experten. Der Trend ist selbst gemacht. Eine Befreiung davon erscheint unmöglich.
Es gibt das böse deutsche Sprichwort „Wer nichts wird, wird Wirt“. Die alte Redewendung vermittelt, dass jeder – wenn’ man keine andere Idee hat – einen gastronomischen Betrieb aufmachen könnte. Doch sei hier jedem oder jeder empfohlen, bevor man eine Kochlehre oder einen Serviceberuf in Angriff nimmt, zuvor ein Jurastudium und anschließend eine Steuerberatungsausbildung zu absolvieren. Das klingt absurd, doch genau solche Spezialkenntnisse scheinen staatliche Behörden von Gastronomen zu erwarten. Die sonst so hoch gehaltenen Vorhaben, etwas gegen Fachkräftemangel oder für Integration zu unternehmen, reiben sich an der Wirklichkeit.
Seit 1997 ist der gelernte Koch Anselmo Sardella Gastronom in Magdeburg. Das Steakhaus „Toro Grosso“ am Schleinufer gehört zu den ersten Adressen der Stadt. Und wie viele Wirte in der Landeshauptstadt ist es auch für den Steakhaus-Betreiber nicht einfach, stets und ständig gute Mitarbeiter für sein Restaurant zu rekrutieren. Im November 2017 bewirbt sich im „Toro Grosso“ ein Mann mit albanischen Wurzeln als Küchenhilfe. Er verfügt über einen deutschen Sozialversicherungsausweis, einen angemeldeten Wohnsitz in Magdeburg und einer Daueraufenthaltsgenehmigung, allerdings für Italien. Der Mann erhält einen Arbeitsvertrag, wird ordnungsgemäß angemeldet, die fällige Lohnsteuer und Sozialabgaben werden für ihn abgeführt. In Europa herrscht Freizügigkeit, sollte man meinen. Weit gefehlt.
Es dauert nicht lange, da flattert dem Restaurantinhaber die Mitteilung über ein gegen ihn und den Koch eröffnetes Strafverfahren ins Haus. Im Hintergrund mahlte die Verwaltungsmühle. Die Ausländerbehörde der Landeshauptstadt Magdeburg hatte dem Hauptzollamt (eine Bundesbehörde) eine Mitteilung übersandt, dass ein albanischer Staatsangehöriger am 19. Dezember 2017 bei der Behörde eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis zum Zwecke der Ausübung einer Beschäftigung als Küchenhilfe beantragt hat. In der Folge wurde gegen den albanischen Mitarbeiter ein Strafverfahren wegen des Verdachts des unerlaubten Aufenthalts durch unerlaubte Arbeitsaufnahme eingeleitet (§ 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG). Auch gegen Anselmo Sardella wird wegen des Verdachts der Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt dieses Mitarbeiters eingeleitet. Das Strafverfahren gegen den Gastronomen wird zwar eingestellt, davor ein Bußgeldbescheid durch das Hauptzollamt Magdeburg erlassen. Für den Verstoß gegen das Aufenthaltsgesetz soll Sardella insgesamt 2.992,50 Euro zahlen. Nach den rechtlichen Tatbeständen ist der Verstoß erfüllt. Das räumt auch der Rechtsanwalt von Anselmo Sardella ein. Über die Höhe des Bußgeldes schütteln jedoch alle den Kopf. Inzwischen klagt der Magdeburger Gastronom gegen die Unverhältnismäßigkeit der Strafe. Die juristische Expertin im Hauptzollamt argumentiert jedoch, dass Herr Sardella die einzelnen rechtlichen Verstöße hätte wissen müssen. Der gesunde Menschenverstand des Steuerberaters, Rechtsanwalts und der anderer Unternehmer sieht das anders. Wer täglich mit juristischen Feinheiten auf speziellen Rechtsgebieten umgeht, mag firm in solchen Sachen sein.
In Deutschland nehmen Regeldichte und Menge an Rechtsnormen stetig zu. Für den Verbraucher-, Datenschutz, das Urheberrecht, für Arbeitszeitenregelungen und Gleichstellungsgesetze wird stetig gefeilt. Den entsprechenden Experten mögen Gesetze und Verordnungen einleuchten, Menschen, die tagein tagaus die oft anstrengenen Aufgaben ihrer Arbeit meistern müssen, durchblicken den Gesetzesdschungel immer weniger. Gott sei Dank gibt es dafür Experten. Doch das ist nicht immer ein Segen.
Kürzlich beklagte ein Mitarbeiter der Hochschule Magdeburg-Stendal, dass es aus seiner Sicht fast unmöglich sei, jemandem im öffentlichen Dienst einzustellen, weil die Fallstricke des Arbeitsrechtes im Auswahlverfahren, bei Gleichheitsgrundsätzen, der Bevorzugung bestimmter Minderheiten oder anderweitig angeblich Benachteiligter, jede Einstellung anfechtbar machten. Mit der Flut weiterer, ausdifferenzierter und spezialisierter Normen wächst die Anzahl der Experten, die manchmal noch Durchblick haben. Andererseits wird die Reibungsfläche, die auf die Lebenswirklichkeit von Otto-Normal-Bürger trifft, immer größer.
Die zunehmenden Rechtsexperten sind jedoch nur ein kleines Feld, auf dem sich ein gesellschaftlicher Wandel vollzieht, der scheinbar mehr und mehr in eine Diktatur der Experten führen könnte. Institutionelle Verbände – oft mit staatlicher Förderung – beanspruchen das Vertretungsrecht für ihre Expertenwahrheiten. So können eben – obwohl von niemandem gewählt oder gar wissenschaftlich legitimiert Vereinigungen Klagen einreichen und ganze gesellschaftliche Bereiche aus dem Gleichgewicht bringen. Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) hat das mit der Dieseltechnologie und irgendwo frei orakelten Schutzgrenzwerten geschafft. Im Bereich Ernährung und Tierschutz wächst offenbar ebenfalls die Schar der Spezialisten, die sehr genau wissen, was wer nicht tun sollte oder vermeiden müsse. Noch mag es bei vielen Themen nur um einen öffentlichen Pranger gehen, an den mal Autofahrer, mal Nichtvegetarier, Menschen mit Bewegungsmangel, Zuvielverdiener oder Zuwenigarbeiter gestellt werden. Es existiert quasi keine Sphäre mehr, in der kein Fehlverhalten identifizierbar ist, das Experten zuvor identifiziert haben. Auf keiner Ebene geht es heute ohne Expertenrat. Und so viele Spezialisten es gibt, so viele Meinungen existieren. Jedes Pro findet sein Kontra, über die Zwischentöne hat man längst den Überblick verloren.
Wie lässt sich diese Entwicklung erklären und was können künftige Auswirkungen sein? Zunächst muss man einen Blick auf den Wandel in der Arbeitswelt werfen: Die sogenannten Industrienationen haben sich in den Tätigkeitsfeldern ihrer Individuen tiefgreifend verändert. Waren bis in die 70er Jahre noch Beschäftigungen mit händischer Arbeit in Produktion, Handwerk und Dienstleistungen vorherrschender Arbeitsalltag für die meisten Menschen, ist mit der Computerisierung und unter der Globalisierung ein Zurückdrängen solcher Tätigkeiten festzustellen. Natürlich muss dies zunächst positiv begriffen werden, weil in der Tat schwere körperliche Arbeit weniger wurde und sich Arbeitszeiten verkürzten. Im Schnitt arbeiten Sachsen-Anhalter pro Woche noch 36,4 Stunden. In dem Maße, wie körperliche Beschäftigung verdrängt wurde, wuchsen jedoch geistige Arbeitsinhalte. Sozialwissenschaftliche, mediale, pädagogische, verwaltungstypische und politische Inhalte haben an Bedeutung zugenommen.
Die Prognosen zum sogenannten digitalen Wandel verheißen neue bzw. weitere geistig-kreative und intellektuelle Arbeitsinhalte. Man darf also annehmen, dass die „vergeistigten“ Sphären des Lebens weiter an Bedeutung gewinnen werden. Das führt unweigerlich in eine wachsende Expertenflut, unter der noch differenzierte Reglementierungen für alle Bereiche hervorgebracht werden. Je mehr Zeit und akademische Ressourcen vorhanden sind, um sich mit einer Problematik zu befassen, umso mehr Probleme und Lösungsansätze drängen ins gesellschaftliche Bewusstsein. Man muss wohl kaum Prophet sein, um unter einer fortschreitenden „Akademisierung“ und „Intellektualisierung“ des Arbeitslebens neue geistige Auseinandersetzungen zu vermuten. Der Druck von Debatten um Gerechtigkeit, Gleichstellung, physische, psychische Gesundheit, sozial angemessenes Verhalten wird unweigerlich größer werden. Wenn heute schon ein Großteil der deutschen Alltagssprache unter dem Vorwurf steht, kultur-konstruktivistische Wurzel eines ungerechten Selbstverständnisses von Menschen zu sein, was soll daraus erst in einigen Jahren werden, wenn noch mehr Experten auf solchen Gebieten erklären werden, dass die Nutzung bestimmter Worte als gesellschaftspolitisches Übel geächtet werden müssten? Man würde vielleicht nicht mehr nur Märchenfiguren vergangener Zeiten ausmerzen, weil sie ungerechte, rassistische und frauenfeindliche falsche Einstellungen fortschrieben, sondern sollte das Märchenerzählen gleich ganz verbieten, um kulturhistorisch die Verführung des Menschen auszumerzen, unter dem die Illusion reift, das Leben könnte in ein märchenhaftes Glück münden.
Tragisch erscheint, dass nirgends ein Ausweg aus der Entwicklung zeigt. Schließlich befördern wir unter unserem Streben nach Idealen, für ein möglichst besseres Leben, nach Glück, Leichtigkeit und Erfolg das Fundament für ein Expertentum, das solche Verheißungen hervorbringen sollte. Allerdings entsteht darunter eben auch die Kehrseite dieses Trends. Noch mehr Spezialisten werden engere Verhaltensmuster, andere Verhaltensweisen und Begriffsverwendungen fordern. Ob diese Art von Fortschritt letztlich mit der heutigen Vorstellung von Freiheit zusammenpasst, kann hier nicht beantwortet werden. Es liegt wohl eher auf der Hand, dass viele weitere Experten den Druck darauf, wie das eigene Leben zu deuten sei, zunehmen wird. Die Tendenz, mehrere Studiengänge zu absolvieren, kann also gar nicht so falsch sein. Mit entsprechenden Abschlüssen sind sie dem rechtlichen, sozialen und esotherischen Expertendruck vielleicht gewachsen. Aber seien Sie andererseits gewiss, es wird einen anderen Experten geben, der Ihnen das Handwerk legt. Thomas Wischnewski