Die Straße verschwand hinter einer Feuerwand
Aus den Aufzeichnungen von Wolfgang Suchantke (1929 bis 1996) über das Kriegsende 1945. In dieser Zeit wohnte er in Magdeburg am Kaiser-Wilhelm-Platz 5.
Anfang Oktober 1943 waren mein Bruder Gerhard und ich in den Herbstferien zu Besuch bei unserer Großmutter und Tante in Obervellmar. Hier erlebten wir zum ersten Mal einen Bombenangriff aus nächster Nähe: Kassel und die Umgebung wurden angegriffen. Es fielen Bomben auch in unmittelbarer Nachbarschaft, was uns besonders in Angst versetzte, da wir nur in einem normalen, in keiner Weise befestigten Keller saßen und die einfachen Kellertüren bei jedem Einschlag schepperten. Etwa zwei Wochen später – wir waren bereits wieder in Magdeburg – wurde die Innenstadt von Kassel durch einen schweren Bombenangriff vollständig zerstört. Meine Tante berichtete, daß Freunde von ihr, die auch wir gut kannten, in der Nähe des Hauptbahnhofes in ihrem Luftschutzkeller erstickt waren; sie hatten wegen des Feuersturms nicht gewagt, den Keller zu verlassen. Erfahrungen dieser Art wurden ganz allgemein für die Verhaltensmaßregeln in der Folgezeit bei Angriffen berücksichtigt und dürften – neben Evakuierungsmaßnahmen – auch zur Verringerung der Todesopfer bei Angriffen beigetragen haben. Meines Wissens betrug die Zahl der Opfer in Kassel ein Mehrfaches der des schweren Angriffs auf Magdeburg am 16.01.1945, trotz mindestens ebenso großer Zerstörungen in Magdeburg.
Anfang 1944 begannen größere Luftangriffe der Royal Air Force auf Magdeburg. An einem Wochenende im Februar besuchte meine Mutter mit meinem Bruder Gerhard und mir die mit meinen Eltern befreundete Familie Sievers in Helmstedt. Während des Mittagessens erfolgte Fliegeralarm; da es nach Aussage unserer Gastgeber jedoch nicht üblich war, den Alarm besonders zu beachten, da „hier nichts passiert“, blieb man sitzen, bis plötzlich eine ganze Reihe von Detonationen erfolgte. Daraufhin stürzte alles in den Keller bis zur Beendigung des Alarms. Es stellte sich heraus, daß anscheinend ein abgedrängter Feindverband unplanmäßig einen Notabwurf über Helmstedt durchgeführt hatte, der erhebliche Schäden (so wurde u. a. auch das Nachbarhaus getroffen) und über hundert Tote zur Folge hatte. Wir hatten also nochmal Glück gehabt. Unsere Bekannten boten uns nun an, bei ihnen unterzukommen, da inzwischen in Magdeburg die allgemeine Evakuierung wegen der zu erwartenden weiteren Bombenangriffe eingesetzt hatte und gezielte Angriffe auf Helmstedt wegen seiner geringen Bedeutung nicht zu befürchten waren. Dies bedeutete für uns Jungen auch Besuch der dortigen Schulen, daher waren wir erst nach längeren Diskussionen mit meiner Mutter dazu bereit. Meine Mutter kehrte nach Magdeburg zurück, da sie dort in einigen Hilfsorganisationen tätig war, und mein Bruder besuchte die zuständige Volksschule und ich die Oberschule für Jungen in Helmstedt. Im August 1944 verspürten wir die Folgen eines schweren Tages-Luftangriffes auf die nördlichen Vororte von Magdeburg: Ostwind trieb die Rauchwolken der Brände nach Westen und hüllte Helmstedt ein.
Im November 1944 kehrten wir nach Magdeburg zurück. Da die Otto-v.-Guericke-Schule inzwischen teilausgebombt war, fand nur ein eingeschränkter Unterricht statt. Außerdem häuften sich die Fliegeralarme; meistens flogen die alliierten Bomberverbände nach Berlin. Am 16. Januar 1945 erfolgte gegen Mittag ein Luftangriff auf Magdeburg, der die nördlichen und südlichen Stadtteile und die dort liegenden Industriebetriebe traf. Am gleichen Tage gab es gegen 21.30 Uhr wieder Alarm und nur wenig später begann der schwere Luftangriff, der die Innenstadt und die nördlichen Vorstädte fast völlig verwüstete. Der Angriff in mehreren Wellen dauerte 36 Minuten.
Soweit ich mich erinnere, erfolgten die ersten Explosionen (Flakfeuer oder Bombeneinschläge) schon unmittelbar nach dem Sirenengeheul. Meine Mutter, mein Bruder Gerhard – sein Geburtstagstisch vom 12. Januar stand noch im Kinderzimmer – und ich liefen ohne noch viel zu greifen und ohne Straßenschuhe, Mantel usw. in den Luftschutzkeller. Auch die Zimmerbeleuchtung konnten wir nicht mehr ausschalten, was meine Mutter wegen der Verdunklungsvorschriften zunächst in Sorge versetzte, besonders weil nach den ersten Einschlägen in der Nähe klar war, daß die Fensterverdunklungen (Fensterscheiben waren übrigens von den früheren Angriffen her kaum noch vorhanden und größtenteils durch Pappe und Notverglasungen ersetzt worden) weggerissen worden waren. Sie war daher sichtlich erleichtert, als der elektrische Strom und damit die Beleuchtung ausfiel! Wir hörten nun ständig weiter entfernt und auch näher Bombeneinschläge bis dann deutlich ein Reihenwurf auf uns zukam: Die Explosionen wurden immer lauter bis ein gewaltiger Schlag erfolgte, die Kellerluft sich mit Staub füllte (das Haus war offensichtlich direkt getroffen worden) und die Einschläge sich dann wieder entfernten. Unser Haus hatte zwei relativ gut ausgebaute Luftschutzkeller, unserer lag unter dem Schlafzimmer meiner Eltern und hatte den Mauerdurchbruch zum Nachbarhaus in der Franz-Seldte-Straße (heute Gareisstraße), der andere lag an der Vorderseite des Hauses unter dem früheren Sprechzimmer meines Vaters, in dem jetzt als Einquartierung eine schon früher Ausgebombte untergebracht war. Ich glaube, daß wir uns relativ sicher gefühlt hatten, zumal wir ein großes viergeschossiges Haus über uns hatten; jetzt aber waren wir doch geschockt. Als dann die Einschläge aufhörten, wagten sich einige Hausbewohner nach draußen und berichteten von Bränden ringsum. Meine Mutter und ich liefen noch schnell in Diele und Flur unserer Wohnung und holten aus dem Chaos aus umgestürzten Möbeln und herabgefallenen Mauerteilen unsere Schuhe, Mäntel und Mützen. Dann wurde es Zeit, den Keller endgültig zu verlassen, da das Haus auch brannte und Gefahr bestand, daß Keller- und Hauseingang verschüttet wurden bzw. Sauerstoffmangel eintreten würde. Wegen des erkennbaren Feuersturmes wickelten wir uns in feuchte Tücher ein (meine Mutter hatte gerade Waschtag gehabt) und verließen mit etwas Handgepäck, das stets im Keller bereitstand, das Haus. Gegenüber dem Haus befand sich auf dem Kaiser-Wilhelm-Platz eine etwas erhöhte Grünanlage, an deren Böschung wir uns zunächst aufhielten. Wir konnten beobachten wie jetzt das Haus in Flammen stand. Über unserer Wohnung war die Fassade bis herunter zum 1. Stock aufgerissen; hier war wohl der Bombentreffer erfolgt. Später stürzte der etwas zurückgesetzte Mittelgiebel herunter. Ringsum brannten mehr oder weniger alle Gebäude am Kaiser-Wilhelm-Platz und die auf unserer Seite vom Platz abgehenden Straßen (Königstraße nach beiden Seiten und Franz-Seldte-Straße) verschwanden hinter einer Feuerwand. Es hatten sich bei uns noch mehr Menschen gesammelt. Durch den Feuersturm wurden wir in einen Funkenregen eingehüllt und die Bettlaken erwiesen sich als ziemlich nutzlos, da sie vom Sturm zu regelrechten Würsten zusammengedreht wurden. Glücklicherweise hafteten aber auch wegen des Sturms die Funken nicht auf der Kleidung. Nach etwa einer Dreiviertelstunde forderten uns Wehrmachts- und Parteiangehörige auf den Platz zu räumen, da wegen der sich immer stärker ausdehnenden Brände Sauerstoffmangel zu befürchten war. Als Fluchtweg bot sich die Königstraße in östlicher Richtung zur Elbe hin an. Wir mußten unsere Angst überwinden, um durch den Qualm- und Feuervorhang – die Flammen schienen in der Mitte der relativ breiten Königstraße zusammenzuschlagen – loszulaufen. Kurz vor der Kreuzung Gustav-Adolf-Straße mußten wir noch durch einen großen See, der sich durch einen Wasserrohrbruch auf der Straße gebildet hatte, waten. Daß eigentlich Minustemperaturen herrschten, spürte man nicht mehr. Die Flucht ging weiter über den Askanischen Platz und die Hindenburgbrücke über die Elbe zum Werder. Hier fanden wir für die Nacht zusammen mit zwei bis drei Dutzend anderen Ausgebombten in einem Haus an einer der südlichen Nebenstraßen Zuflucht. In den folgenden Tagen kamen wir zeitweise in einer leerstehenden Wohnung eines der wenigen in unserem Ortsteil in der Nordfront nicht ausgebrannten Häuser bei Minusgraden in der Wohnung (das in Schüsseln noch vorhandene Wasser war gefroren) bzw. im Bunker im Nordpark unter. Schließlich nahm unser Bekannter aus Schönebeck, der zu dieser Zeit als Offizier in der Kaserne gegenüber dem Cracauer Anger am Jerichower Platz stationiert war, meinen Bruder und mich in seiner kleinen Dienstwohnung auf. Hier erlebten wir einige Tage später noch einmal einen nächtlichen Bombenangriff in nur ungenügend gesichertem Keller. Meine Mutter war in diesen Tagen noch bei den nach den Bombenangriffen organisierten Hilfsorganisationen tätig. Von unserem Häuserblock Kaiser-Wilhelm-Platz / Franz-Seldte-Straße / Königgrätzer-Straße / Falkenbergstraße / Königstraße war übrigens nur das unserem Haus diagonal gegenüberliegende Haus Ecke Königgrätzer-/ Falkenbergstraße stehengeblieben.
Etwa 14 Tage nach der Ausbombung konnten wir mit einer Transportgelegenheit, wie sie Ausgebombten zur Verfügung gestellt wurde, mit einigen der Habseligkeiten, die im Keller verschont geblieben waren, zu unseren Bekannten nach Schönebeck ziehen. Hier wurde es sehr eng, da bereits eine aus Moers evakuierte Frau mit ihrer alten Mutter einquartiert worden war. In der Folgezeit versuchten wir aus unserem Keller in Magdeburg noch weitere Sachen zu bergen, was wegen der gestörten Verkehrsverbindungen oft abenteuerlich war. Die Zugverbindungen funktionierten nur noch bis zum Bahnhof Magdeburg-Buckau, anschließend konnte man bloß zu Fuß weiterkommen – bis zum Kaiser-Wilhelm-Platz etwa 4 Kilometer. Die Züge waren hoffnungslos überfüllt und fuhren ohne Fahrplan. Oft mußten wir für die Rückfahrt eingekeilt in der Menge stundenlang auf einen Zug warten. Eines Abends erlebten wir, als wir endlich im Zug waren, einen Fliegeralarm und kurz darauf ringsum das Aufflammen der „Christbäume“, der Zielmarkierungen für einen Bombenangriff. Langsam schlich sich der Zug nach Süden aus dem Zielgebiet, so daß wir erleichtert aufatmen konnten.
Die Kriegsereignisse nahmen wir in dieser chaotischen Zeit nur wahr, soweit sie uns unmittelbar betrafen, z. B. Fliegeralarm und Luftangriffe in der Nähe. Man war doch relativ abgebrüht und hielt sich bei Alarm öfter noch im Freien auf. So erlebten wir einmal auf der Straße, daß plötzlich zwei feindliche Jagdflugzeuge aus der Wolkendecke stießen und mit Bordwaffen die Parallelstraßen entlangschossen. Vom schweren Angriff auf Dresden Mitte Februar erreichte uns nur ein vages Gerücht. An Schulunterricht war nicht zu denken. Schließlich mußte ich mich im Februar oder März als gut 15-Jähriger noch einer Musterung zur Wehrmacht stellen, was dann jedoch wegen des weiteren Kriegsverlaufes und wohl auch wegen des organisatorischen Durcheinanders ohne Folgen für mich blieb.
Am Spätnachmittag des 2. April sah ich am Stadtrand von Schönebeck Soldaten, Volkssturm- und HJ-Angehörige mit Panzerfäusten in Stellung gehen; ich lief nach Hause und dort erfuhren wir von der Tochter unserer Hauswirtin, die aus Salzelmen, dem westlichen Vorort von Schönebeck, kam, daß dort bereits amerikanische Panzer standen. Es war auch Geschützfeuer zu hören (möglicherweise wurde auch durch Sirenensignal „Feindalarm“ gegeben, woran ich mich aber nicht mehr genau erinnere). Wir verbrachten daraufhin die Nacht (oder mehrere?) im Keller, bis sich die Lage insofern geklärt hatte, als Schönebeck von den Amerikanern besetzt worden war. Zu größeren Kampfhandlungen war es nicht mehr gekommen. Dafür konnten wir nach Magdeburg einfliegende Bomberverbände beobachten, die nun die bis etwa zum 19. April verteidigte Stadt angriffen. Die Amerikaner machten an der Elbe halt; die östlichen Vororte von Magdeburg und Schönebeck blieben unbesetzt. Ab und zu erfolgte ein Schuß-wechsel über die Elbe. So schlug z. B. einmal eine von deutschen Truppen abgefeuerte Granate in der Bahnhofstraße circa 100 Meter von uns entfernt ein und tötete einen Fremdarbeiter. Am 20. April konnten wir im Radio noch die Goebbels-Rede zum 56. Geburtstag Hitlers hören, in der er unter Durchhalteparolen u. a. davon sprach, daß die „Vorsehung“ (der häufig anstelle von „Gott“ gebrauchte Begriff) bereits einen von unseren Feinden zerschmettert habe, eine Anspielung auf den Tod des Präsidenten Roosevelt. Ein Hausmitbewohner (evakuiert aus Berlin mit entsprechender Schnauze) meinte lakonisch, Goebbels habe seine Grabrede gehalten. Am 1. Mai kam die Mitteilung des deutschen Rundfunks, daß „der Führer bis zum Letzten kämpfend an der Spitze seiner Truppen in Berlin gefallen sei“ und Großadmiral Dönitz, der Oberbefehlshaber der Kriegsmarine, zu seinem Nachfolger bestimmt habe. Dieser appellierte an das deutsche Volk, sich so zu verhalten, daß jeder „seinem toten Führer jederzeit in die Augen sehen kann“. Bald darauf trafen sowjetische Truppen auf dem Ostufer der Elbe ein. Am 8. Mai 1945 erfolgte die Kapitulation der deutschen Wehrmacht, der Krieg in Europa war damit zu Ende und für die meisten von uns Jugendlichen war eine Welt zusammengebrochen.
Langsam kam unter den Anordnungen der alliierten Militärregierung das zivile Leben in Deutschland wieder in Gang, zunächst sehr stark reglementiert durch Sperrstunden usw. Wehrmachtsangehörige, die sich irgendwie durchgeschlagen hatten und der Gefangennahme entgangen waren, wurden aufgefordert, sich zu melden. Soweit diese Aufforderung befolgt wurde, in der Hoffnung, daß nach Kriegsende keine Gefangenschaft mehr drohte, mußten die Betreffenden z. T. doch noch längere Zeit in westalliiertem Gewahrsam verbringen – manche sollten gar nicht mehr zurückkehren. Die amerikanischen Besatzungstruppen wurden nach einiger Zeit durch englische abgelöst.
An dieser Stelle enden die Aufzeichnungen von Wolfgang Suchantke. 1996 verstarb er an einem Hirntumor. Aufbewahrt hat die Schilderung Dr. Paul Franke. Die Luftaufnahme von Magdeburg stammt aus dem britischen „Imperial War Museum“.