Die ostdeutsche Wählerflucht vor der Linkspartei
Nur die dümmsten Kälber wählen ihre Metzger selber“, dieser Spruch über ostdeutsche Wähler der damaligen PDS dürfte Edmund Stoiber die entscheidenden Stimmen gekostet haben, die Schröder ein knappes Weiterregieren ermöglichten. Bei einem Gutteil des Wahlvolks in den neuen Bundesländern schien die Partei trotz ihrer Genese aus der diktatorischen SED dauerhaft verankert. Die Strahlkraft der späteren Linkspartei erstreckte sich offenkundig auch nicht nur auf alte Genossen. In einigen der neuen Bundesländer hatte die Linke zwischen der Jahrtausendwende und der Bundestagswahl 2017 durchaus den Status einer Volkspartei. Pragmatiker wie der thüringische Ministerpräsident Ramelow ließen eine Zukunft als eine CSU des Ostens – nur unter umgekehrten Vorzeichen – möglich scheinen. Insbesondere die rote Herrschaft im einst tiefschwarzen Thüringen machte alles denkbar. Wenn diese konservative Zitadelle von den Linksaußen erstürmt werden konnte, war das prinzipiell überall im Osten möglich. Denn die thüringischen Verhältnisse hatten sich in den ersten beide Dekaden nach der friedlichen Revolution im Prinzip nicht wesentlich von den sächsischen unterschieden.
Doch das schwarze Bermudadreieck, bestehend aus dem sächsischen Teil Sachsen-Anhalts und den beiden Freistaaten, hat sich bei der Bundestagswahl nicht dunkelrot, sondern schwarz-blau gefärbt. Die Linkspartei ist hier zwar noch nicht marginalisiert, aber fast halbiert. Dass die Bundestagswahl auf den ersten Blick den Status Quo für die ganz roten Genossen bewahrt hat, liegt am kräftigen Zuwachs im Westen. Hier hat die Linkspartei größere Erfolge gefeiert, als sich weiland Honecker mit DKP und SEW hätte träumen lassen. Doch das sieht für die Linkspartei tröstlicher aus, als es ist. Denn die Folge ist für die Linken ein starker Einschnitt, der wohl eine weitere Metamorphose der Sozialisten mit sich ziehen dürfte. Die Ära der Dominanz realpolitischer Macher, die überall im Osten kommunal und auch auf Landesebene Verantwortung tragen, neigt sich damit ihrem Ende zu. Nunmehr geben zahlenmäßig die Brüder und Schwestern aus den alten Bundesländern den Ton an. Und der ist sehr viel schärfer, fundamentalistischer und unversöhnlicher. Auch gegenüber der SPD haben viele der westdeutschen Linksparteiabgeordneten einen Groll, weil sie dieser unter Schmerzen abtrünnig geworden sind. Ob sich mit dieser Konstellation der Traum von Rot-Rot-Grün in 2021 verwirklichen lässt, steht dahin. Denn günstigere Rahmenbedingungen als in der Legislaturperiode 2009 bis 2013 dürften sich nicht finden. Da war die Mehrheit vorhanden, rot-rot-grüne Projekte in zwei Bundesländern gerade Realität geworden und der ostdeutsche Realoflügel der Linkenfraktion sehr viel stärker. Wenn es unter diesen Umständen nicht geklappt hat, wo und wann dann? Der linke Dreibund im Bund ähnelt zunehmend der kommenden Idealgesellschaft, die die DDR-Oberen immer versprachen. Irgendwann wird es so kommen, nur nicht heute und nicht morgen. Und das gilt Übermorgen auch noch! Überholen ohne Einzuholen, sozusagen.
Die Frage, weshalb die Ostdeutschen der Linken in Scharen von der Fahne gegangen sind, war unmittelbar nach dem Eintreffen der Wahlergebnisse Zankapfel innerhalb der Nomenklatura der Linken.
Oskar Lafontaine, der für seine Partei zunehmend die Rolle des geliebt-gehassten Übervaters einnimmt, die Joschka Fischer bei den Grünen hat, diagnostizierte: „Der Schlüssel für diese mangelnde Unterstützung durch diejenigen, die sich am unteren Ende der Einkommensskala befinden, ist die verfehlte „Flüchtlingspolitik“. Dieser Vorwurf trifft nicht nur DIE LINKE, sondern alle bisher im Bundestag vertretenen Parteien, weil bei ihren Antworten auf die weltweite Flüchtlingsproblematik das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit außer Kraft gesetzt wurde.“ so der Doyen der Linken auf seinem Facebookaccount. auch die alte und neue Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag (und Ehefrau Lafontaines), Sarah Wagenknecht, schloss sich dieser Analyse an. Daraufhin folgten dramatische Stunden: Die migrationspolitisch orthodoxen Parteichefs der Linken, die die sofortige Abschaffung aller Grenzen und Einreisehindernisse fordern, versuchten Wagenknecht zu entmachten. Eine öffentlich ausgetragene Seifenoper, mit Rücktrittsdrohungen, Intrigenvorwürfen und wechselseitigen Vorhaltungen, man sitze entweder im Elfenbeinturm oder sei Rassist, folgten. Bevor es zur Implosion kam, einigten sich die Großen der Partei auf einen halbwegs gesichtswahrenden Kompromiss, der aber von Anfang an so fragil war, dass eine Mediation ins Auge gefasst wurde. Dass das inhaltliche Dilemma ungelöst blieb, bestätigten öffentlich getätigte Vorschläge der Kontrahentinnen Wagenknecht und Kipping, letztere Teil des Vorsitzendenduos. Während Wagenknecht im SPIEGEL wissen ließ, dass fortan die Realität Einzug ins linke Programm halten solle, indem festgestellt werde, dass nicht ein jeder irregulär Eingereiste bleiben könne und man darob besorgte Wähler nicht mehr pauschal als Rassisten verunglimpfen wolle. äußerste sich Kipping krass gegenteilig – obwohl ihr Vorschlag zunächst einmal gegenüber der bis dato gepflegten „no border, no nation“-Ideologie ein Jota abweichend erschien. Jeder, der sich einbringen wolle, solle einreisen können. Damit sei keine Arbeitsstelle gemeint, auch nicht die Absicht zur Auffindung einer solchen, sondern genauso gut könne das Kriterium auch durch die Mitwirkung in einem Chor oder ähnlichem erfüllt werden. Auf die Frage des sichtlich verblüfften Reporters, ob das heiße, dass auch eine Aufenthaltsgenehmigung erhalte, wer bei einem Fußballverein mitwirken wolle, verwahrte sich Kipping dagegen, ihren Vorschlag auf Einzelfälle herunterzubrechen. Garniert hat sie das Interview mit der Zeitung „Die Welt“ mit deftigen Nickligkeiten gegen Wagenknecht.
Solches ist das Bild, das die Linkspartei heute abgibt. Teile der Linkspartei möchten sich offenkundig von strukturkonservativen DDR-Sozialisierten ebenso abwenden wie von proletarischen und prekären Milieus, wenn diese weltanschaulich nicht die reine und utopische Lehre der linken Orthodoxie mittragen. Viele prekär Beschäftigte oder Geringqualifizierte fürchten aber die Folgen einer nahezu ungezügelten und ungeregelten Einwanderung. Denn dort, wo sich die Wohnungen mit den erschwinglichen Mieten finden und Arbeitsplätze, die keinen akademischen Werdegang oder einen Meisterbrief erfordern, wird der Konkurrenzkampf härter werden. Für Geisteswissenschaftler entsteht durch massenhafte Einwanderung über das Asylrecht ein Mehr an Jobaussichten, oft direkt oder indirekt finanziert vom Staat. Vom akademischen Prekariat zur gefragten Fachkraft. Im Dienstleistungssektor hingegen, der in der Regel nicht die Sonnenseite des Arbeitsmarktes repräsentiert, sieht es schlechter aus. Wo sich eben noch eine demographische Chance für Friseure, Kellner und Raumpfleger zu eröffnen schien, drängelt sich das Personal – und ist bereit, Abstriche bei Lohn und Arbeitsbedingungen hinzunehmen.
Weiten Teilen der Linkenführung ist es aber wichtiger, „Haltung“ und „Prinzipientreue“ zu verkörpern, anstatt sich mit aus ihrer Sicht reaktionären Wählern gemein zu machen. Welche Nische aber wird die Linke fürderhin dann besetzen können? Das dürften vor allem jene seien, die sich bislang vom linken Flügel der Grünen angesprochen fühlen, das vielzitierte linksliberale und akademische „urbane Milieu“. Wem dort die grüne Partei zu stromlinienförmig und die SPD zu kleinbürgerlich geworden ist, findet in dieser Linkspartei dann eine Alternative. Die verbliebenen Marxisten und Trotzkisten, denen diese neue Gestalt der Linkspartei gefallen dürfte, kommen noch hinzu. Ob deren Anzahl aber bedeutend ist, ist fraglich. Obwohl von maoistisch, leninistisch bis stalinistisch die Liga der Kleinparteien gut gefüllt ist, hat keines dieser Angebote in der Geschichte der Bundesrepublik in nennenswerter Zahl jemals Wähler mobilisieren können.
Hinzu kommt noch eine andere Dynamik: Seitdem die AfD im Bundestag den Leibhaftigen verkörpert, ist die Linkspartei bei Medien und den anderen Bundestagsparteien wie selbstverständlich in die Riege der „demokratischen Parteien“, so die gebräuchliche und etwas herablassend erscheinende Formel, die Protestwähler eher mobilisieren als zurückholen dürfte, aufgerückt. Obwohl es die Linkspartei ist, die vom Verfassungsschutz beobachtet wird, nicht die AfD. Wenn die Linke mit den etablierten Parteien nun Seit‘ an Seit‘ schreiten darf, fällt sie als Gegenstand einer Protestwahl aus.
Das Ergebnis in der Parteienarithmetik könnte dann ein ähnliches sein wie in der Schweiz und Österreich: Hier wird das (links-)grüne Lager jeweils durch zwei Parteien vertreten, einmal in sehr linker Gestalt und einmal als liberal-konservative Ausprägung. Nur haben sich die Wähler nicht mitvermehrt. Solche rivalisierenden Zwillinge dürften auch in Deutschland ins Haus stehen. Es könnte dann eng in dieser tonangebenden, aber zahlenmäßig relativ kleinen Nische der Wählerschaft werden. Die Linkspartei wird es beizeiten merken und sicher noch bereuen, dass sie den Volksparteienstatus in den neuen Bundesländern mutwillig verspielt hat, weil sie die ostdeutschen Wähler in die Flucht getrieben hat.
Der Autor
Prof. Dr. rer. pol. Markus Karp
Professor für Betriebswirtschaftslehre, Marketing, Kommunikation und Dienstleistungsmanagement an der Technischen Hochschule Berlin-Wildau.