Der Zerfall

Seit Jahren beklagen wir eine Beschleunigung des Lebens. Das war bisher nur ein Vorgeplänkel. Die Veränderungen bekommen eine Dynamik, deren Folgen noch gar nicht abgesehen werden können.

Zugegeben der Titel „Der Zerfall“ ist überspitzt destruktiv gewählt. Dennoch muss ein Blick auf die Dynamik gesellschaftlicher Veränderungsvielfalt und deren zunächst oft unmerklichen Entwicklungen geworfen werden. Die Welt scheint aus den Fugen. Über Ursachen und Wirkungen wird allerorten diskutiert, häufig in unangemessener Überhöhung, vielfach vereinfacht und manches Mal regelrecht falsch.

Der amerikanische Präsident Donald Trump wird oft als Musterbeispiel für ein weltpolitisches Durcheinander gewählt. In der Tat macht Trump Politik mit wenigen Worten. Über das Netzwerk Twitter verkündet er verbale Urteile über Staatslenker und andere Politiker. Ganze Nationen werden geradezu willkürlich abgestempelt, mit Gewalt und Zöllen bedroht oder gar tatsächlich abgestraft. Er verbreitet den Eindruck, als wolle und könne er imperial der Welt diktieren, wie man sich amerikanischen Interessen zu fügen hätte. Die Entrüstung aus allen Richtungen scheint mächtig. Nur juckt das den Präsidenten wenig. Was dabei eigentlich sichtbar wird, sind die Folgen der weltweiten Vernetzung. Politik wird heute nicht mehr über klassische Medien transportiert, sondern kommt ungefiltert bei Bürgern an. Die Vielzahl der Reaktionen – Zustimmung, Ablehnung, Analysen und Kommentare erzeugt aus einem Satz im schlimmsten Falle eine Weltuntergangsstimmung. War im Zeitalter des sogenannten Kalten Krieges die atomare Zerstörungskraft das große, über der Menschheit schwebende Damoklesschwert, potenzieren sich heute Einzelkonflikte in der Wahrnehmung zu einer Art Dauergefahr, unter der schussbereite Atomwaffenarsenale wie marginalisiert daherkommen. Was unter dieser Entwicklung sichtbar wird, ist das Phänomen, dass sich das Verstehen auflöst. Neben Verkündigungen und Kommentaren schießen ja auch massenhaft Handlungsanweisungen aus allen Rohren. Politisches Agieren wirkt dementsprechend behäbig und führt bei den Ereignisverfolgern nur zu noch mehr Frust. Aber das ist nur ein Aspekt.

Die Demokratie ist ja insbesondere durch einen sich ausbreitenden Populismus in Gefahr. Von Ha-ckern, die Wahlen beeinflussen können ist die Rede, aber kaum jemand spricht über die Beeinflussungsmöglichkeiten von Algorithmen. Warum wer was sieht und wie viele Informationen über ein Geschehen allein technisch verbreitet werden und damit jedes reale Geschehen ins Absurde verzerrt, kann niemand überblicken. Im Juli wollte das EU-Parlament über das Leistungschutzrecht für Autoren und Verlage entscheiden. Im Vorfeld wurden einzelne Abgeordnete mit bis zu 40.000 Mails pro Tag bombardiert. Die Internet-Konzerne kämpfen mit harten Bandagen gegen den Rechtsschutz. Sie haben die Möglichkeiten, solche Online-Stürme zu entfachen. Das Ziel ist einfach: Wirklich wichtige Argumente gehen in der Flut unter. Offenbar sind das erst die Anfänge. Im Wettbewerb um Macht und Mandate werden Parteien oder zumindest deren Interessengruppen ebenso auf Informationsfeuer und Meinungsflächenbrände setzen.

Die Meinungsfreiheit ist nicht dadurch in Gefahr, dass man seine Meinung nicht kundtun dürfte, sondern, weil man nicht mehr weiß, ob hinter Veröffentlichungen ein realer Mensch steht, oder ein technischer Meinungsverstärker. Und da sind wir erst am Anfang. So demokratisch das Internet für jeden ein klein wenig Öffentlichkeit bereithält, so bleibt verschleiert, wer welche Technik mit welchem Aufwand einsetzt. Unter diesen Trends werden bisher gekannte Diskussionen regelrecht zerfallen.

Die Missverständnisse fangen jedoch leider schon vielfach im teilweise falschen Gebrauch von Worten an. In der Debatte um Migration und Zuwanderung wird regelmäßig die Forderung nach Beseitigung von Fluchtursachen erhoben. Die Mittel und Methoden, die damit gemeint sind, gehen in der Regel auf Fluchtfolgen ein. Dass Menschen vor Krieg, Hunger und Elend fliehen, ist eben nur eine Folge. Die eigentlichen vielschichtigen Ursachen im Nahen Osten und in Afrika verstehen wir in Europa gar nicht. Dort wirken ethnische, religiöse, historische, wirtschaftliche, natürliche, kulturelle, soziale Bewegungen fortwährend mit unterschiedlicher Kraft zusammen, sodass eben auch keine Lösung von Deutschland aus doziert werden kann. So gern man dies auch menschlich wollte. Prinzipiell zeigt die Entwicklung, dass man selbst bei bestem Willen, verstehen zu wollen, Zusammenhänge kaum verstehen kann. In einer analogen Vergangenheit war dies weniger problematisch, weil niemand von der Wucht dieser Informationsflut und Erklärungswut überschüttet wurde.

Die Geschwindigkeit, mit der digitale Onlinewelten  Einfluss auf Lebenswirklichkeiten nehmen, hat  die Menschheit bisher nicht erlebt. Die Technologien des Industriezeitalters verbreiteten sich für ihre Zeit schon rasend schnell. Aber bis ihre teilweise destriktiven Wirkungen für Natur und Umwelt durchschlugen, vergingen 100 Jahre. Das iPhone von Apple kam 2007 auf den Markt. In nur zehn Jahren hat die Smartphone-Technologie die Welt erobert und fesselt Menschen an die Bildschirme. Unterhaltung, Shopping, Infotainment, Ulk und Schabernack, aber auch irrsinnige Heilslehren, politische Meinungsextreme oder verdrehte Tatsachen und Lügen verbreiten sich in einer noch nie dagewesenen Geschwindigkeit, erzeugen Unsicherheit und mitunter Angst. Man mag der Entwicklung gelassen gegenüberstehen wollen, doch unweigerlich schlägt ein Trend den nächsten. Niemand kann von sich behaupten, er würde da noch die Übersicht behalten.

Der Einzelhandel spürt schon lange das wachsende Geschäft des Online-Handels. Große Ketten können da kräftig mitmischen. Und am Ende ist es ihnen egal, über welchen Vertriebsweg sie ihre Waren verkaufen. Das Leben auf Straßen und Plätzen wird davon mitgerissen werden, weil wir uns in unserer menschlichen Bequemlichkeit und in der Eigenart, immer schlüssige Rechtferigungen zuguns-ten des eigenen Verhaltens aufzustellen, davon mitreißen lassen.

Ein anderes Argumentationsbeispiel: Der Elektromobilität gehört die Zukunft. So lauten jedenfalls alle legitimen Verkündigungen. Das mag für saubere Luft in Städten sicher einen positiven Effekt haben. Die Umstellung auf Elektroautos, die heute noch immer – und wahrscheinlich auch langfristig den Wirkungsgrad von Verbrennungsmotoren verfehlen – wird mit einer Kraft propagiert, dass man glauben müsste, ist alles umgestellt, wäre die Welt besser. Am Ende wird nur ein mobilies Gesamtkonzept an einem Punkt geändert. Niemand spricht davon, wie viel Energie dafür mehr erzeugt werden müsste, wie viele Ressourcen für die Produktion zusätzlich aufgewendet und welche Entsorgungs-, Recycle- oder Umweltprobleme ein weltweiter Batteriepark dieser Größenordnung erzeugen.

Die größte Diskrepanz, die sich unter der Dynamik sich ändernder Bedingungen offenbart, ist die der Gesetzgebung. Während oft jahrelange Debatten über rechtliche Änderungen oder gar neue Gesetze geführt werden, ist die Lebenswirklichkeit den Normen längst davongaloppiert. Vor Jahrzehnten mag das weniger problematisch gewesen sein. Heute trifft der meist langwierige Gesetzgebungsprozess auf eine beschleunigte Ungeduld von Bürgern und Unternehmen. Dieser Graben wird schon deshalb breiter, weil das Verständnis für das wahrnehmbare normative Schneckentempo sinkt und gleichzeitig sich bisherige Orientierungen und altbekanntes Verstehen in einem Zerfallsprozess befinden. Was uns als Lösungen dazu einfällt bzw. von Parteien als solche präsentiert werden, ist die Forderung nach schneller Anpassung an Veränderungen. Politik, Bürger und Unternehmen feuern sich gegenseitig zu höheren Geschwindigkeiten im Handeln an. Nur an der eigenen Sache sollte sich möglichst nichts ändern. Genau darin schlummert die Gefahr für jeden Zerfall. Thomas Wischnewski

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