Das Märchen vom modernen Menschen

Über den Widerstreit zwischen Ideen und Möglichkeiten oder vom Zwang einer fortwährenden Neudeutung der Ontologie.

Das Wort Moderne hat gerade Hochkonjunktur. Mit dem Jubeljahr zu 100 Jahren Bauhaus wird die Zäsur an der Formen- und Designsprache über den neobarocken Stil der Gründerzeit deutlich. Architektur und Gegenstände orientierten sich an neuer Praktikabilität und Funktionalität. Damit einhergehend, wird auch dem zeitgenössischen Denken ein veränderter Geist zugeschrieben. Allerdings – und das darf mit Abgrenzung einer Moderne über Historismus und gründerzeitlicher Pracht nicht ausgeblendet werden – entwickelten sich Bauhausideen über die Phase der kriegerischen Katastrophe des 1. Weltkrieges, in der Ressourcen und Produktionsstätten gegenüber dem Potenzial der Vorkriegszeit zurückgefallen waren. Der Aspekt des Mangels muss in die postulierte Moderne gleichsam mitgedacht werden.

Betrachtet man die beeindruckenden zivilisatorischen Leistungen im römischen Weltreich, erscheint die sich anschließende Epoche des beginnenden Mittelalters vielfach düster und wie eine Art Rückfall in der europäischen Geschichte. Noch etwas weiter zurückgeblickt, wird der moderne Mensch – also jenes Wesen, dass sich nach neuesten archäologischen Befunden vor etwa 180.000 Jahren von Afrika aus aufmachte, um den Rest der Welt zu besiedeln – als Homo sapiens abgegrenzt zu seinen genetischen Vorfahren wie beispielsweise dem Homo neanderthalensis. Wir brauchen diese Abgrenzung und Einteilung für ein Entwicklungsverständnis der menschlichen Stammesgeschichte, auch Phylogenese genannt. Letztere wird vorrangig anhand biologischer Erkenntnisse geschrieben. Nun ist der Mensch mit seiner hervorgebrachten Reflexionsfähigkeit über seine Umwelt, seinen Erkenntnismöglichkeiten und Kommunikationsgrundlagen eben mehr als ein biologisches Entwicklungsmuster. Entsprechend seiner his-torischen und technischen Zivilisationsleistungen müsste der Jetzt-Mensch eigentlich viel moderner sein als jener, der sich gegenüber dem Neandertaler durchsetzte.

Sind wir aber tatsächlich im Kern unserer Wesensstruktur abgrenzbar modern gegenüber unseren modernen Vorfahren? Die Philosophie befasst sich innerhalb der Ontologie – also der Lehre vom Sein – mit solchen Grundfragen „Was ist der Mensch?“, „Gibt es einen Gott?“, „Hat die Welt einen Anfang?“, oder im Bereich der Naturwissenschaften „Was ist Materie?“, „Was ist Raumzeit?“, „Gibt es emergente Eigenschaften?“, „Was ist das Leben?“ oder „Was ist der Geist?“. Da wir bis heute keine abgeschlossenen Antworten auf derartige Fragen geben können, bleibt der Deutungsraum über uns und alle grundlegenden Bedingungen ein offener. Und in jeder Zeit finden Denker andere Ansätze, dem Menschen eine erklärende Unterfütterung zu schenken. Aus diesen fortlaufend Versuchen, bessere Antworten über uns selbst zu finden, resultieren letztlich auch unsere ganz aktuellen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen.

Der Mensch am Anfang des 21. Jahrhunderts könnte die Bezeichnung Homo digitales wie die gleichnamige Dokumentationsreihe aus dem Jahre 2017 erhalten. Schließlich krempeln wir mit zunehmenden Tätigkeiten vor und mit Computern das Leben in einer Weise um, wie das vor 50 Jahren noch nicht denkbar gewesen wäre. Und vielleicht glauben wir sogar, dass sich damit unsere tieferen Wesensgrundlagen umgestalten würden. Allerdings zeigt sich unter einer vernetzten Kommunikation eher, dass diese genau auf den bekannten natürlichen Prägungen des Menschen funktionieren. Neugierde zieht uns in die virtuelle Welt. Was machen andere und wie tun sie es? Die Möglichkeiten für Abgucken und Nachahmen sind angewachsen, nicht das ursprüngliche menschliche Entdeckerpotenzial. Narzissmus, Neid und Missgunst spiegeln sich milliardenfach in Selbstdarstellungen, Kommentierungen und Abweisungen. Rechthaberei, Belehrung und ein Mangel an Einsichtsfähigkeit zeigen sich tagaus tagein. Überhaupt ist der Erfolg aller sogenannten sozialen Netzwerke unseren hormonellen Belohnungssystemen geschuldet. Die Gier nach „Likes“ – also Zuspruch für sich selbst, für Meinungen und Vollbrachtes – treibt das Hirn an, online herumzugeistern. Neuerdings gibt es eine App mit dem Namen „Tellonym“. Vor allem Mädchen nutzen das Tool, um sich mit schmeichelnden Kommentaren in den Mittelpunkt zu rücken. Man kann sich an­ony­me Nach­rich­ten sen­den las­sen, Lie­bes­er­klä­run­gen oder Kom­pli­men­te beispielsweise. Die an­ony­men Kommentare kön­nen ver­öf­fent­li­cht werden, da­mit andere sehen, mit welchem Zuspruch die jungen Damen überschüttet werden. Was sie  geflissentlich weglassen sind die scherzhaften Schmähungen, die sie genauso anonym erreichen.

In der überstrapazierten Debatte über den Klimawandel lassen sich ebenso archaische Funktionsweisen der menschlichen Natur beobachten, die mitnichten neue oder modernere Verhaltensweisen offenbaren würden. Unter permanentem apokalyptischen Predigen wundert es wenig, dass Angst kursiert und Menschen beseelt von Weltrettungsgedanken allerorten aufmarschieren. Zogen nicht ebenso einst die Kreuzritter ins Morgenland, um ihrem Gott zum Durchbruch zu verhelfen? Versprachen nicht kommunistische Lehren ein Paradies auf Erden? Selbst westliche Demokratien schwingen fortwährend zu Weltmoralisten auf. Werden deshalb weniger Menschen in kriegerischen Konflikten abgeschlachtet? Sogar eine Atom-Armada für ein planetarisches Fiasko hat die Menschheit erschaffen und feilt gar weiter an dessen technischem Ausbau. Was passiert aber aus überzeugten Massen, die in ihrem Verbesserungsansinnen scheitern? Was also, wenn sich Milliarden Menschen in ihrem Konsum und Verhalten nicht ändern, Ressourcenvernichtung, Energiehunger und Umweltschäden fortschreiten? Es erscheint möglich, dass sich unter der Ohnmacht, keine schnellen Fortschritte in der Klimapolitik zu erreichen – selbst innerhalb eines überschaubaren 80-Millionen-Volkes wie den Deutschen – militante Klima-Fundamentalisten herausbilden. Wenn die Mehrheit schon nicht hören will, dann soll sie eben fühlen. Jede radikale Gruppe entsteht unter einer überwertigen Idee, die sich an den Möglichkeiten aller reibt.

Als der renommierte deutsche Astrophysiker und Naturphilosoph Prof. Dr. Harald Lesch bei der TV-Sendung „Anne Will“ von der Moderatorin gefragt wurde, wie sich sein Verhalten unter der Klimadebatte verändert hätte, stammelte er kurz, dass er beruflich nicht so viel verändern könnte. Schließlich kam er noch auf den Blitzgedanken, dass er nun Brüche in seinen Alltag einbaue und öfter mal einfach nichts täte. „Wenn wir alle öfter mal nichts machten, wäre dem Klima schon viel geholfen“, so seine Schlussfolgerung. In diesen Floskeln drückt sich das ganze Dilemma der Debatte aus. Jeder macht ständig einfach mal nichts. Und ändert das etwas? Vermutlich wird jeder eine sehr rationale Begründung über das eigene umwelt- und klimagerechte Verhalten äußern. In der Rechtfertigung gegenüber einem angemessenen Verhalten funktioniert der Mensch wie eh und je.

Dass junge Generationen stets die alten für Fehlentwicklungen und Missstände verantwortlich machen, ist keine neue Erscheinung. Doch muss zunächst etwas erfunden und verbreitet werden, bis man die Auswüchse daraus übersehen kann. Und künftige Generationen werden die heute heranwachsenden sicher für deren Fehler kritisieren. Menschen überschütten andere mit Urteilen oder gar Verurteilungen, weil Bewertung Verstandesnatur ist. In den sich zuspitzenden gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen erscheint da kaum ein Fortschritt erreicht zu sein. Abgrenzung und Stigmatisierung gehen wechselseitig von rechts nach links, von oben nach unten oder kreuz und quer.

Und mit der Intelligenz – zumindest in den westlichen Industrieländern – steht es offenbar auch nicht zum Besten. Nach James Flynn ist der Effekt benannt, dass weltweit der  IQ ansteigen würde. 5 bis 25 Punkte lagen zwischen einer Generation und der nächsten. Das ging so bis 2004. Seither fallen die ermittelten Werte für den Intelligenzquotienten und zwar in allen westlichen Ländern. Man spricht vom negativen Flynn-Effekt und rätselt noch über die Ursachen. Als eine Ursache werden seit dem Sieg der Bildschirme abnehmende Schreib- und Lesekompetenzen angeführt. Es kommt zunächst doch auf den Kopf vor dem PC an und nicht so sehr, was im Internet steht. Ein anderer Grund könnte der Job-Mangel bei Heranwachsenden sein. Weitere Befunde müssen abgewartet werden.

Wir können heute mit neuen Technologien umgehen und werden weitere hervorbringen. Der Erfindergeist ist ungebrochen. Aber selbst der Forscherdrang, Außergewöhnliches leisten zu wollen, ist ein uralter Antrieb. Sogar das Streben nach Gerechtigkeit ist eine genetische Präferenz für alles Soziale in uns. Wie weit jemand auch den Schutzschirm über möglichst jeden aufspannen möchte, immer wird sich darunter jemand eingesperrt und bevormundet fühlen. Der Widerstreit zwischen gemein und individuell bleibt so aktuell wie vor Tausenden von Jahren. Keine noch so drastische Strafandrohung verhindert grausamste Verbrechen. Dass wir unter Trieben, Talenten und natürlichen Voraussetzungen moderner als unsere Vorfahren seien, gleicht oft genug einem schönen Märchen. Doch wer wollte nicht an Märchen glauben? Thomas Wischnewski

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