Das Leben der anderen
Wer die Ergebnisse zur Wahl des EU-Parlaments zwischen Städten und Landkreisen vergleicht, stellt gravierende Unterschiede fest. Die sind nicht mit politischer Rechts-Links-Arithmetik erklärbar. Aber eine akademische Elite in den Städten bestimmt über abgehängte „alte, weiße Männer“ und setzt fort, was etablierte Parteien vortrugen. Damit forcieren sie das Driften über die Vorstellung einer anderen Lebenswirklichkeit.
Mal verliert man, mal gewinnt man. So wird oft lapidar eine Niederlage beiseite geschoben. Vergleicht man jedoch Ergebnisse der jüngsten Wahl zum EU-Parlament mit anderen Kennziffern über Demografie, Wirtschaftskraft und Einkommensverteilung bleibt eigentlich nur ein Fazit: Verlierer sind immer die Menschen im ländlichen Raum.
Ein paar Fakten zur Verdeutlichung: In den kreisfreien Städten Sachsen-Anhalts haben die Grünen richtig zugelegt. In Magdeburg plus 6 Prozent auf einen Stimmenanteil von 14,5, in Halle plus 5,8 auf 17 Prozent. Auch in Dessau reichte es für ein zweistelliges Ergebnis. In den Landkreisen sieht es dagegen anders aus.
Auch da gibt es leichte Zuwächse, aber die Grünen überspringen nie die Marke von 10 Prozent. Anders die AfD. Sie verzeichnet in den Kleinstädten und Ortschaften zweistellige Zuwachsraten. Mit einem Plus von 19,2 Prozent im Landkreis Mansfeld-Südharz wird sie mit 25,3 Prozent gar stärkste Kraft. In Brandenburg und Sachsen ist die AfD gar als stärkste politische Partei hervorgegangen. Bekanntlich wird vielfach das Wort „Rechtsruck“ im Osten bemüht, um der Entwicklung einen Namen zu geben. Doch dieser Begriff verschleiert die vielschichtigen Zusammenhänge.
Ein Blick auf Wahlergebnisse im Westen zeigt nämlich auch dort eine Differenz zwischen Städten und Gemeinden. Quasi in jeder deutschen Universitäts- und Hochschulstadt ist die Partei der Grünen Wahlgewinner, oft sogar stärkste Kraft. Auch in den westdeutschen Landkreisen sind Grünewähler zahlreich, allerdings lange nicht so deutlich wie in den Metropolen. In Mainz (Rheinland-Pfalz) kommen die Grünen auf 29,1 Prozent. Im Landkreis Südwestpfalz dagegen gerade auf 9,9 Prozent. Dort punktet die AfD mit 12,5 Prozent. Die CDU bleibt trotz Verlusten mit 35,3 Prozent stärkste Partei. Man muss sich weitere Fakten anschauen. Im Vergleich der deutschen Landkreise schneiden alle ostdeutschen Regionen schlecht ab. Schlusslicht ist im Ranking der Zeitschrift „Wirtschaftswoche“ der Altmarkkreis Salzwedel. Die Übersicht zur Einkommensverteilung zeigt ähnliche Ergebnisse.
Man könnte farblich gestaltete Karten wie die zur Einwohnerentwicklung von 2000 bis 2016 (links), für Wirtschaftskraft, Einkommen und Wahlergebnisse übereinanderlegen und erhält ähnliche Ergebnisse. Natürlich kennt man die Werte in der Politik bes-tens und man hört deshalb viel über den sogenannten abgehängten Osten. Doch die Unterschiede sind eben nicht einfach in Ost und West teilbar oder gar in ein politisches Links-Rechts-Muster. Die Gräben ziehen sich deutlicher zwischen der wachsenden Zahl an Menschen, die in Städten leben und einer schwindenen Bevölkerung auf dem Land. Das hat viel mit der jeweiligen Lebenswirklichkeit zu tun und wie die einen über die anderen denken.
Kleinstädte und Dörfer im Osten erleben seit 30 Jahren einen Aderlass an Einwohnern. Das hat mittlerweile zu einer spürbaren Erosion in allen Infrastrukturbereichen geführt. Kleinstunternehmen bilden das wirtschaftliche Fundament. Größte Arbeitgeber sind oft nur noch Krankenhäuser oder Verwaltungen in den Kreisstädten. Kulturelle Angebote werden rarer, soziale Interaktion hält sich vielfach noch durch die Vereine der Freiwilligen Feuerwehren oder durch wenige Aktive in Heimatvereinen aufrecht. Die Gesundheitsversorgung bröckelt und die Polizeidichte wird trotz Personalaufstockung im ländlichen Bereich nicht besser. Weniger Menschen können eben kein vielseitiges, buntes Leben erzeugen, wie es in einer Stadt möglich ist. Und dieser Sterbeprozess hält an. Eine Grafik zum Altersdurchnitt gleicht der zur Bevölkerungsentwicklung.
Es wirkt der sogenannte Megatrend Urbanisierung, in dem sich die Anziehungskraft der Städte ausdrückt und in dem der Hang von Menschen, dort leben zu wollen, beschrieben wird. Diese Entwicklung hält an, ist unumkehrbar und soll auch gar nicht infrage gestellt werden. Es kommt aber auf das driftende Bewusstsein an, mit dem Städter, insbesondere die akademische Elite die Entwicklungen auf dem Land deuten. Und genau aus dieser Sphäre ergießt sich die Bewertungshoheit über das Leben der anderen, vor allem wie man den ländlichen Raum vielfach verkürzt beschreibt. Im heutigen Bewusstein von uns Stadtmenschen geistern vielfach aus den Berichterstattungen der vergangenen 20 Jahre die Negativbeispiele über vergiftete Ackerflächen und fürchterliche Massentierhaltungsanlagen herum. Die Bilder über solche Schrecken bilden aber nicht die reale Situation ab, sondern sind stets nur Ausschnitte außergewöhnlicher Gegebenheiten. Wie viele Akteure, die sich heute als Tierschutzaktivisten oder gar Veganer verstehen, haben wirklich schon moderne Anlagen in Augenschein genommen? Wer besucht einen Agrarbetrieb und lässt sich von Landwirten deren tatsächliche Bewirtschaftung erläutern? Man sieht Filmchen, die zeigen sollen, wie alles sei und hat am Ende doch keine Ahnung. Auch das Thema Klimaschutz erfährt im Stadt-Land-Vergleich eine Diskrepanz. Während in der Landeshauptstadt Schüler-Demonstrationen stattfinden, wird dörflichen Regionen unterstellt, sie würden aufgrund der weiten Fahrstrecken höhere Emissionen erzeugen. Der Energieverbrauch und die Fahrzeugdichte in Magdeburg bringen ganz andere Lasten hervor als dies ein größerer Verbund an Dörfern könnte. Auf dem Land sollen aber all die Windkraft- und Photovoltaikanlagen errichtet werden, damit der Energiehunger der Städte gestillt werden kann.
Das Leben der anderen, vor allem die realen Entwicklungen für Menschen im ländlichen Raum, wird zunehmend von einer akademischen Sphäre in Hochschul- und Universitätsstandorten beschrieben. Dort befinden sich die Leuchttürme für Öffentlichkeit. Politik, Medien und eben die vielen Chancen für Kommunikation. Das erzeugt die Mehrzahl der Interpretationen über ein Leben auf dem Land. Diese Deutungsmacht überschreibt mit ihren Ansichten, die kaum auf echte Erfahrungen bauen – und damit ist tatsächliches Aufwachsen und Leben in einer dörflichen Umgebung gemeint –, jede Möglichkeit einer Landbevölkerung, sich über ihre Probleme Gehör zu verschaffen.
Es ist deshalb kaum verwunderlich, dass sich in weiteren Regionen um Metropolen Menschen unter denselben Erfahrungen und ihrer Realität verständigen und Menschen wählen, die nur ausdrücken, was dort eine wachsende Anzahl an Bewohnern unmittelbar wahrnimmt. Es liegt auch auf der Hand, dass im ländlichen Raum aufgrund der gegenseitigen Bekanntheit, Repräsentanten von Parteien gewählt werden, die häufig nicht anonym wie in Großstädten sind. Entweder kennt dort jeder seine „Pappenheimer“ persönlich oder zumindest kennt man jemanden, der sie kennt. Solche Aspekte spielen in der Debatte um politische Gräben kaum eine Rolle. Auch Ursachen werden in Debatten, die wiederum hauptsächlich in dem Oberzentrum geführt werden, vorrangig politisch beschrieben.
Wollte man einen historischen Vergleich bemühen, ähneln die Veränderungen zwischen Stadt und Land in Sachsen-Anhalt vielleicht ein wenig der Zeit der Industrialisierung. Damals begann der große Run auf die Städte. Allerdings unterschied sich vor rund 130 Jahren die Lebenswirklichkeit der meisten nicht voneinander. Der Alltag war von harter, langer Arbeit geprägt. Angst vor Krankheit und Hunger waren ständige Begleiter. Während Ängste unserer Zeit oft in eine nicht fassbare Zukunft verlagert sind, werden Menschen im ländlichen Raum wieder von sehr greifbaren Entwicklungen erfasst. Dort ist die Frage eine berechtigte Sorge: Wie ist schnell ein Rettungswagen in einer lebensbedrohlichen Situation vor Ort? Wer auf dem Land wirklich arm ist und von Hartz IV oder einer Mini-Rente leben muss, weiß, was es heißt, nicht am Leben teilnehmen zu können. Leute in der Landeshauptstadt mögen da gut reden haben. Sie radeln innerhalb der Stadt oder ins nahe Umfeld oder nutzen den Öffentlichen Nahverkehr. Dessen Preise mögen zwar hoch sein, aber ein Ticket von Osterburg nach Stendal kostet eben 5,40 Euro.
Mit städtischen Wertvorstellungen und Erfahrungen kann über Menschen auf dem Land nicht gerichtet werden. Doch genau das geschieht permanent. Nicht nur der Blick füreinander vernebelt sich, sondern die Realität spaltet sich. Es gilt: Wer über jemanden urteilen will, sollte zuerst in dessen Schuhen laufen. Thomas Wischnewski