Das kurze Leben der Männer

Männer haben weltweit ein kürzeres Leben. Liegt das an ihrer geringeren Bedeutung für die Aufzucht des Nachwuchses oder an einem verschleißenden Lebensstil oder ist ihre Biologie schuld? Obwohl wir es eigentlich schon immer geahnt haben, dass wir, die Männer, das schwache Geschlecht sind, erschüttern uns die Belege dafür dennoch. 1998 wurden in Sachsen-Anhalt 123 Über-100-jährige gezählt, zehn Jahre später waren es bereits 316. Im Vergleich dazu gab es 1939 in Gesamtdeutschland gerade einmal 16 Über-100-jährige (heute sind es knapp 17.000). Aber zu den in Sachsen-Anhalt gezählten Methusalems gehörten jeweils nur 15 (12  Prozent) bzw. 37 (12 Prozent) Männer. Auch befallen uns bestimmte Krankheiten (z. B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen) häufiger und im Alter entwickeln wir eine größere Neigung, uns durch Suizid von dieser Welt zu verabschieden. Zusätzlich ist unser Leben auch noch 5 Jahre kürzer als das der Frauen. Nach der statis-tischen Prognose hat ein 2015 geborener Knabe eine Lebenserwartung von 78,4 Jahre, wogegen Mädchen sich auf 83,4 Jahre einrichten können. Obwohl es gemessen an der Nachkriegszeit (Geburtsjahrgang 1950) für uns einen beeindruckenden Zugewinn von 13,8 Lebensjahren gibt, hat sich an der unterschiedlichen Lebenserwartung nichts geändert. Mit den 5 Jahren Unterschied zu den Frauen liegen wir im westeuropäischen Mittelfeld. Mit den Zahlen von 2015 sind es bei den Franzosen 6,3 Jahre (79,2/85,5) und bei den Schweden 3,3 Jahre  (80,8/84,1). Mit rund 11 Lebensjahren Unterschied sind die russischen Männer im Abseits.

Die unterschiedliche Lebenserwartung von Männern und Frauen bereitet der Wissenschaft Kopfzerbrechen. Liegt es nun an der etwas anderen Biologie des Mannes oder eher an seinem Lebensstil? Im Unterschied zu den Frauen besitzt er nur ein X-Chromosom, was ihn anfälliger für bestimmte Erbkrankheiten, wie der Rot-Grün-Sehschwäche oder der Bluterkrankheit, macht. Es wird auch darüber spekuliert, dass es das Testosteron ist, welches sein Immunsystem schwächt und ihn auch zu einem riskanteren Lebensstil verleitet. Südkoreanische Forscher haben anhand historischer Aufzeichnungen herausgefunden, dass Eunuchen im 16. bis 18. Jahrhundert 14 Jahre länger lebten als nicht kas-trierte Männer. Ob das allerdings mit weniger Testosteron zu tun hat, kann bezweifelt werden, denn nach klinischen Studien sterben Männer mit Testosteronmangel früher. Außerdem waren koreanische Eunuchen privilegiert, weil sie fast ausschließlich in den Palästen der damaligen Herrscher lebten, dort einflussreiche Funktionen innehatten und somit auch besser versorgt waren. Nach den in Deutschland seit 1871 geführten Sterbetafeln hatten die Frauen bis vor dem 2. Weltkrieg nur eine um zwei bis drei Jahre höhere Lebenserwartung. Eine amerikanische Studie kommt zu dem Schluss, dass der heutige Unterschied erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts entstanden ist. Wie sehr auch der soziale Status das Leben der Männer beeinflusst, zeigt sich daran, dass eine Frau aus der sogenannten deutschen Oberschicht 15 Jahre länger lebt als der „Unterschichtmann“.

Aber es gibt auch noch einen ganz anderen Erklärungsversuch für die kürzere Lebenserwartung des Mannes, die Großmutter-Hypothese. Diese besagt nämlich, dass durch die Existenz einer Großmutter das Überleben der Nachkommenschaft verbessert wird. Damit begünstigt die großmütterliche Fürsorge um die Enkelkinder die Maximierung des Nachwuchses, was von der Evolution mit zusätzlichen Lebensjahren belohnt wird. Bei heute noch existierenden tropischen Stammesgesellschaften ist es so, dass Frauen mehr Kinder zur Welt bringen, wenn ihnen eine helfende Mutter zur Seite steht. Korrekterweise muss man dazu aber sagen, dass mit der vor 50 Jahren formulierten Großmutter-Hypothese ursprünglich erklärt werden sollte, warum Frauen nach der Menopause noch viele Lebensjahre vor sich haben. Das lange Weiterleben der Frauen nach dem Eintritt in die Unfruchtbarkeit ist deshalb so verwunderlich, weil es zum Fortpflanzungserfolg nichts beiträgt und auch bei den Menschenaffenfrauen nicht vorkommt.

Wenn es um die Maximierung des Nachwuchses geht, dann drängt sich allerdings die Frage auf: Warum soll der Mann früher sterben, obwohl er doch bis ins hohe Alter Nachwuchs zeugen kann? Als Großväter könnten sie doch einspringen, jungen Steinzeit-Witwen, deren Partner durch Jagdunfälle oder Stammesrivalitäten ums Leben gekommen sind, zu Kindern zu verhelfen? Wenn die Großmutter-Hypothese die Erklärung für den Unterschied in der Lebenserwartung ist, dann müssten sich bei den Frauen vor wenigen tausend Jahren, also einer relativ kurzen Zeitspanne, Langlebigkeitsgene im Erbgut angereichert haben, was allerdings zu bezweifeln ist. Eine aktuelle Studie auf der Grundlage der Kirchenbücher (1720-1874) im westlichen Ostfriesland sorgt zudem für neue Verwirrung.

Ausgehend von der Großmutter-Hypothese wurde erwartet, dass in Familien mit einer Großmutter der Geburtsabstand zwischen den Kindern kleiner ist. Das war aber nicht der Fall. Außerdem ergab sich, dass durch die Großmutter nur dann das Überleben der Enkelkinder verbessert wurde, wenn es die Kinder der Tochter waren. Steht die mütterliche Großmutter nicht zur Verfügung und die Schwiegermutter springt ein, kommt es zum gegenteiligen Effekt. Erklärt wird das mit einem geringeren Einsatz der Schwiegermütter, weil diese ja nicht sicher sein können, dass sie wirklich die leiblichen Kinder des Sohnes behüten.

Lieber Leser, die Großmutter-Hypothese als Erklärung für das kürzere Leben der Männer bereitet mir auch aus einem anderen Grund Bauchschmerzen. Unser Stoffwechsel, der aufrechte Gang und viele ererbte, überlebenswichtige Verhaltensweisen wurden in der Frühzeit der Menschheitsgeschichte in unseren Genen verankert. Diese Zeitspanne umfasst etwa 99,5 Prozent der gesamten Menschheitsgeschichte. Gemessen daran ist die Verwendung der Großmutter als Nanny ein Bedürfnis der Moderne. Noch in der Jungsteinzeit (bis etwa 5000 - 2000 vor Chr.), die aus Jägern und Sammlern den Bauer und die Bäuerin machte, war das Leben der Frauen kurz. Archäologen geben dafür 30 Jahre an.

Durch fortlaufendes Schwangersein, mehrjähriges Stillen, den ständigen Kampf des Immunsystems gegen Parasiten und Würmer und nicht zu vergessen, die einseitige Ernährung, war die Steinzeitfrau auch in keiner guten körperlichen Verfassung („damals war 30 wie heute 72“). Später, in der Jungsteinzeit kam dann noch verstärkt Zahnweh dazu. Für Letzteres waren nicht Süßigkeiten verantwortlich, sondern der durch das Ausmahlen des Getreides mit Steinwerkzeug gebildete steinerne Abrieb im Mehl. Das alles  zusammengenommen spricht dafür, dass nur sehr wenige Steinzeitfrauen ein Großmutter-Alter erreicht haben.

Ein deutscher Wissenschaftler, Marc Luy hat vor zwei Jahrzehnten einen originellen Ansatz gemacht, um den Einfluss des männlichen Lebensstils auf das Altwerden zu erhellen. Er ging dabei so vor, dass er die Lebensspanne von Männern und Frauen miteinander verglich, deren Lebensbedingungen annähernd gleich sind. Das trifft auf Nonnen und Mönche zu, denn diese leben in einer gleichen Umwelt, haben ähnlich-geordnete Tagesabläufe, unterhalten vergleichbare soziale Beziehungen und ernähren sich gleich. Unter dieser Randbedingung war der Einfluss von Verkehrsunfällen, Alkohol, Rauchen, gesundheitsschädigender Arbeitsbedingungen auf die Lebenserwartung ausgeschlossen.

Die Grundlage für seine Untersuchungen bildeten die gut dokumentierten Sterblichkeitsdaten von mehr als 11.000 Nonnen und Mönchen in bayrischen Klöstern von 1890 bis 1995. Diese Klosterstudie ergab, dass die Männer unter den klösterlich-geordneten Lebensbedingungen deutlich älter wurden als ihre Zeitgenossen, die den weltlichen Lebensstil bevorzugten. In der Lebenserwartung unterschieden sich Mönche und Nonnen um ein bis maximal zwei Jahre. Im Gegensatz dazu lebten die Nonnen kaum länger als andere Frauen. Markante Unterschiede zwischen den Frauen innerhalb und außerhalb des Klosters gab es aber bei bestimmten Erkrankungen. So war bei den Nonnen der Gebärmutterhalskrebs praktisch unbekannt, wogegen Brustkrebs bei ihnen häufiger auftrat. Das häufigere Auftreten von Brustkrebs hinter den Klostermauern wird damit erklärt, dass Nonnen nicht Stillen und damit nicht unter dem Schutz der Östrogene stehen. Mit diesen Ergebnissen liefert die Klosterstudie ein gewichtiges Argument dafür, dass es die männlichen Lebensumstände sind, die ihnen gegenüber den Frauen ein verkürztes Leben bescheren. Aus der Sicht der Ordensmänner ist es der geregelte Tagesablauf im Kloster, der sie mit einem langen Leben beschenkt. Positiv scheint sich auch das ständige Rezitieren und Lesen für die geistige Fitness auszuwirken.

Natürlich sind die rund fünf Jahre Unterschied in der Lebenserwartung von Mann und Frau ein Durchschnittswert. Diese Tatsache gehörte sicher zu einer der schmerzlichsten Lebenserfahrungen eines Franzosen des vergangenen Jahrhunderts. Als 47-Jähriger hatte er begonnen eine Leibrente (2.500 Francs pro Monat) an eine 90-Jährige zu zahlen. Im Gegenzug dafür war abgemacht, dass er nach ihrem Ableben deren Wohnung bekommt. Leider wurde das für ihn kein lukratives Geschäft. Er zahlte nämlich 30 Jahre, dann starb er. Seine Witwe musste danach noch zwei Jahre für seine Verbindlichkeit  aufkommen. Aber woher hätte er auch wissen können, dass seine Vertragspartnerin die bisher älteste Frau der Welt wurde – Jeanne Calment (1875 – 1997). Sie lebte ihr ganzes Leben im südfranzösischen Arles, fuhr noch als 100-Jährige Fahrrad und gab erst das Rauchen auf (nach 98 Jahren), als sie sich wegen der Erblindung keine Zigarette mehr anzünden konnte. Prof. Dr. Peter Schönfeld 

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