Das Ende des Schicksals
Algorithmen, Formeln, Daten, Statistiken – mit Nikolaus Kopernikus’ Ausarbeitung des heliozentrischen Weltbildes hielt die Vorstellung Einzug, alles sei berechenbar. Politik, Wirtschaft, Wissenschaft rechnen uns nahezu täglich vor, wie das Morgen wird – manchmal sogar über Jahrzehnte hinaus. Darunter wächst die Selbstermächtigung des Menschen. Mit den Folgen rechnet keiner.
Zahlen, Daten, Fakten, Statistiken – in keinem Lebensbereich kommt man ohne Berechnungen und daraus abgeleiteten Prognosen aus. Zahlenwerke haben uns fest im Griff. Mit ihnen werden Tendenzen, Unterschiede und Entwicklungen angegeben. Sie sind auch der Stoff, aus dem die Zukunft verkündet wird. Wir könnten alle Krankheiten und den Krebs besiegen, nach ewigem Leben streben, die Welt oder das Klima retten, ja vielleicht sogar eines Tages den Motor der Sonne – die Kernfusion – beherrschen. Die Vorstellungskraft des menschlichen Geistes kennt keine Grenzen. Einerseits ist die daraus entspringende Fantasie Triebkraft für Neues, für technischen Fortschritt und gesellschaftliche Entwicklung, doch andererseits liegt in aller Fantasterei gleichsam die Quelle für Illusionen, überwertige Ideen und realitätsfremde Spinnereien. Heute sollte die Frage gestellt werden, ob sich das Unmögliche nicht längst über alles Machbare erhoben hat und ein Mensch in seiner Lebensfrist überwiegend durch Traumwelten wandelt, anstatt seine existenzielle Wirklichkeit zu durchschreiten. Woher rührt diese Annahme?
Wir nehmen an, heute viel darüber zu wissen, auf welchen evolutionären Pfaden die Menschwerdung fortgeschritten ist. Selbst den Ursprung des Universums rechnen wir auf einen Augenblick zurück und blicken mit technisch ausgeklügeltsten Apparaten ins All, messen unvorstellbare Entfernungen bis zu Milliarden Lichtjahren. Was wir indes nach wie vor nicht endgültig beschreiben können, ist die Sphäre des Kleinsten vom Kleinen. Weder Teilchenphysik noch Wellen-Beschreibungen geben Aufschluss über das, woraus letztlich alles beschaffen sein soll. Ein letztgültiger Ursprung will sich einfach nicht fassen lassen.
Als im 16. Jahrhundert der Domherr Nikolaus Kopernikus im Fürstbistum Ermland zwischen Danzig und Königsberg die Erde aus dem Mittelpunkt des Universums gerissen hatte und stattdessen die Sonne an die Stelle setzte und erstmals Planetenbahnen beschrieb, war der Grundstein für die Berechenbarkeit der Welt gelegt. Johannes Kepler, Galileo Galilei und Isaac Newton lösten weitere astronomische und physikalische Rätsel. Albert Einstein erschuf mit seinem Gedankenwerk zur Relativitätstheorie ein neues Gebäude, auf dem die Menschheit der Erkundung eines Weltenzusammenhanges fortschritt. Ohne Max Planck als Vater der Quantenphysik wäre alles Digitale, das heute so lebensbestimmend geworden ist, nicht denkbar. Die Naturwissenschaften haben Beweise und Belege aufgetürmt und Voraussetzungen geschaffen, dass sich die Natur – das, woraus wir geworden sind – nach unseren Vorstellungen formen ließe. Und der Homo sapiens sapiens entfesselt daraus in der Tat eine Gestaltungsenergie, die sprichwörtlich Berge versetzen und Flüsse in ihrem Lauf beeinflussen kann.
Hier soll nicht empfohlen sein, die Forschung einzustellen und technische Entwicklungen zu bremsen. Es geht vielmehr darum, zu verdeutlichen, welche Wirkungen diese, naturwissenschaftlichen und technischen, vom Mittelalter bis heute auf die geistige, gesellschaftliche und politische Sphäre ausgeübt haben. Anfangs waren die Vorstellungen von einer fassbaren und berechenbaren materiellen Welt Ausgangspunkt für den Verlust an Religiosität. Der lange Sterbeprozess der Schöpfungsgeschichte geht damit einher. Das Bewusstsein der Moderne wandelte sich weg von Schicksalhaftigkeit und Spiritualität hin zu Vorstellungen, die alles erklären und voraussagen können. Messverfahren sind schon lange nicht mehr nur technischer Natur. Quasi existiert überhaupt kein Lebensbereich, der nicht mit Messmethodik durchforstet wird. Psyche und Hirn, Körper, Gesundheit, Essen und Trinken, selbst Glück und Unglück, arm und reich, Gefühlszustände, Bildung, soziale Interaktion, Kultur und Kunst – alles wird in Zahlen erfasst, analysiert und interpretiert. Die geistige Interpretation überzieht alles und jeden, bringt jedoch am Ende ein intellektuelles Konvolut hervor, in dem sich individuelle Realität nicht wirklich spiegeln kann.
Aus dieser Vergeistigungsspirale gibt es kein Entkommen. Kennen Sie Entrepreneurship-Professuren? Das sind Forschungsbereiche, die sich „mit dem Gründungsgeschehen oder der Gründung von neuen Organisationen als Reaktion auf identifizierte Möglichkeiten und als Ausdruck spezifischer Gründerpersönlichkeiten, die ein persönliches Kapitalrisiko tragen“, beschäftigen. Mittlerweile gibt es in diesem Bereich 133 Lehrstühle an Hochschulen und Universitäten. Ob die Forschung über Gründer wirklich mehr Gründer hervorbringt, ist angesichts der jüngsten Veröffentlichung der staatlichen Förderbank KfW am 21. Februar in Frankfurt fraglich. Die Zahl der Existenzgründer sank in Deutschland gegenüber dem Jahr zuvor unerwartet stark um 115.000 auf das Rekordtief von 557.000. Mit Stand Januar 2018 gibt es in der Bundesrepublik 215 Professuren für sogenannte „Gender Studies“, also Wissenschaftsbereiche, die sich mit dem sozialen Geschlecht, nicht mit dem biologischen beschäftigen. Dieser Forschungszweig sticht im Konzert der Geisteswissenschaften besonders hervor, weil Ergebnisse und Annahmen der Wissenschaftler maßgeblich ins Zusammenleben der Gesellschaft einwirken. Eine Grundthese lautet: Sprache beeinflusst das Denken – wer anders denkt, handelt anders, im besten Fall natürlich gerechter und ausgewogener. Leider könnte man diese Vorstellung auch als großes Umerziehungsprogramm bezeichnen, weil man nicht eher darauf setzt, dass sich Individuen nicht langfristig unter realen gesellschaftlichen Bedingungen entwickeln und gestalten, sondern darauf, dass man maßgeblich mit theoretischen Konzepten Menschen beeinflussen kann. Dieser kritische Einwand ist zwar hinlänglich bekannt, wird aber beflissentlich negiert. Es darf schließlich nicht sein, dass ein gewaltiges Forschungspotenzial keine relevanten Ergebnisse erzielte. Während Physik-Professuren laut der „Physikalischen Gesellschaft Deutschland“ im Jahr 2007 erstmals auf unter 1.000 zurückgegangen sind, steigen geisteswissenschaftliche Bereiche weiter auf.
Das ist der Trend in der Wissenschaft. Genauso verändert sich aber auch das gesellschaftliche Bewusstsein in der Bevölkerung. Wer permanent Nachrichten verfolgt – egal auf welchem Kanal – muss dauerhaft den Eindruck erhalten, dass um ihn herum alles den Bach runter geht. Probleme haben Inflation. Sie bauen auf Zahlen und Statistiken aus kaum mehr überschaubaren Einzelbereichen. Und damit sind nicht nur wissenschaftliche gemeint. Jeder Wirtschaftszweig, jedes Unternehmen, jeder Verein, Gewerkschaften, Institute und Parteien – alle haben zu allem etwas parat. Und sie vermitteln anhand ihrer interpretierten Zahlen, dass daran die Gesellschaft genese. Die Kraft der theoretischen Analysen hat offenbar die realen Möglichkeiten zur Steuerung verdrängt. Es ist aber nicht nur die Anzahl professioneller gesellschaftswissenschaftlicher oder politischer Analytiker, welche unsere Vorstellungswelt maßgeblich beeinflussen. Viel bedeutsamer wirkt hier das eigene Verhalten. Dazu noch einmal ein Blick zurück ins Mittelalter. Von Hundert Bildern, die ein Mensch in einer kurzen Frist betrachtete, waren vielleicht zwei oder drei künstlich erzeugte – Gemälde, Wandmalereien, Teppiche und ähnliche. Wahrscheinlich müssen wir heute annehmen, dass sich dieses Verhältnis umgekehrt hat. Bestanden sogenannte artifizielle Bilder einst aus Zeitungen und Fernsehen, hat die Virtualität den Alltag erobert. Wir arbeiten mittlerweile vorrangig an Bildschirmen. Von gut 42 Millionen sozialversicherungspflichtigen Jobs in Deutschland waren 2018 schon 35 Millionen vor Bildschirmen. Bis 2020 sollen es bereits 37,5 Millionen Arbeitsplätze sein. Dazu kommt die private Nutzungsdauer von Smartphonen, vorm Heimrechner oder vor TV-Geräten. In 24 Stunden blicken wir also überwiegend auf künstliche, inszenierte und möglicherweise sogar manipulierte Inhalte. Da liegt es nahe, zu behaupten, dass die illusionierte künstliche Welt unseren Alltag längst im Griff hat.
Spiele, Videos, Nachrichten sind dabei nur ein Teil artifizieller Wahrnehmungen. Den Rest erzeugen wir selbst, mit Kommentaren, Nachrichten- und Informationsaustausch. Die Interpretationen über die Realität bauen auf Interpretationen von Interpretationen. Es darf also nicht verwundern, dass wir alles für möglich halten, dass wir Traumgespinste und künftige Wunderwelten zusammenbasteln. Letztlich erzeugen wir das alles selbst. Ein Grund für sinkendes Vertrauen in Staat, Politik und andere Institutionen liegt auch darin, dass unsere Vorstellung über die Steuer- und Berechenbarkeit zunimmt und zwar für das gesellschaftliche Zusammenleben, für unsere nationalen sowie die anderer Nationen als auch für weltumspannende Belange. Faktoren wie spontanes Individuum, Zufall oder Schicksalhaftigkeit allen Seins wird scheinbar mehr und mehr ausgeblendet.
Wie wird eine Weltsicht künftiger Generationen sein, wenn alles Digitale zur bestimmenden Berechnung des Alltagslebens wurde? Wenn Inszenierungs- und Manipulationsmöglichkeiten ausgefeilter und wirkmächtiger sein könnten? Es mag beruhigend klingen, dass Menschen im Mittelalter im Vergleich zum heutigen Wissensschatz in manchem ziemlich blind durch ihr Leben stolperten. Allerdings – außer bei Aberglauben, Zauberei und Wundern – gingen unsere Vorfahren doch sehr bodenständig mit ihren eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten um. Wir indes erzeugen fortlaufend Gedankengebäude theoretischer und künstlicher Welten und erzeugen darunter vielleicht eine zunehmende Gläubigkeit, das Schicksal überlisten zu können. Den unbeschreiblich größeren Zusammenhang, aus dem das menschliche Bewusstsein erwachsen ist, wollen wir nach heutigem Vorstellungsmaßstab in die eigenen Hände nehmen und beeinflussen. Die Selbstermächtigung des Menschen über die Natur schreitet fort. Egal, ob Schöpfungsgeschichte oder naturgesetzliche Steuerung – die Menschheit hat die Demut davor verloren, was sie hervorbrachte und nun bastelt sie an einer neuen Qualität an Selbsterhöhung. Untergangspropaganda ist aus demselben Stoff wie Weltrettungsanmaßung – beides rührt aus der zunehmenden Vorstellung, alles berechnen oder alles beherrschen zu können. Doch mit dem Schicksal wird ebenfalls zu rechnen sein. Thomas Wischnewski