„Da waren wir alle wie Träumende“

Friedliche Demonstrationen und Montagsgebete im Magdeburger Dom – teilweise heimlich fotografiert vom Autor Dieter Müller.

Ungläubiges Staunen steht am Anfang. Eine bis an die Zähne bewaffnete Macht tritt ab, ohne einen einzigen Schuss. Zwar geht ein ernster Blick zurück, denn es hätte ja auch eine „chinesische Lösung“ geben können. Schließlich waren im Sommer ‘89 auf dem „Platz des himmlischen Friedens“ in Peking Demonstranten mit Panzern niedergewalzt worden. Und Egon Krenz – letzter Chef der SED – hatte dies ausdrücklich gelobt. Uns, den Demonstranten im Herbst 1989, ist das durchaus bewusst. Und sicher ist es ja keineswegs, wie die Sache hier ausgeht. Zum friedlichen Verlauf des Geschehens mag – außer vielen anderen Faktoren – beigetragen haben, dass die Herrschenden wohl ein seltsam romantisches Bild von Revolution besaßen. Sie dachten vielleicht an Pulverdampf, Blut und Barrikaden, wie etwa beim „Sturm auf die Bastille“. Hier aber gehen – und das nur montags – Menschen mit Kerzen still durch die Nacht. Dass dies eine Revolution ist, wird nicht erkannt. Später drückt es ein Politbüromitglied so aus: „Wir waren auf alles vorbereitet, aber nicht auf Kerzen und Gebete.“ Hier wird ein weiterer Faktor genannt: Die Demonstrationen starten von den Kirchen aus. Von dort wird ihnen mitgegeben: „Keine Gewalt!“ Dieser Impuls – eine Kurzform aus der Bergpredigt – hatte bisher bei vielen als eher weltfremd gegolten. Nun aber zeigt er seine Kraft, wie schon bei Mahatma Gandhi und Martin-Luther King.

Was hier im Herbst ‘89 läuft, ist auch ein seelischer Prozess. Anfangs steckt in den Menschen noch viel an Angst, die ja die Hauptstütze einer jeden Diktatur ist. Man kann es an den Gesichtern sehen. Dann keimt allmählich Zuversicht. Die Spannung löst sich. Von Montag zu Montag erstarkt der aufrechte Gang. Das Selbstbewusstsein steigt. Schließlich mündet die Stimmung sogar in Heiterkeit. Die Demonstrationen treten aus der Nacht ins Tageslicht mit Händeklatschen und Lachen.

Übrigens ist zu dieser Zeit – also von Oktober bis Dezember 1989 – noch keine Rede von einer Einheit Deutschlands. Vielmehr geht es den Menschen um die Abschaffung der verhassten Staatssicherheit und um das Ende der „führenden Rolle der Partei“. So ist es von den Transparenten ablesbar: „Keine Chance der SED!“ „Unser Land in Volkes Hand!“  Man will eine wirklich demokratische DDR. Wie läuft es konkret hier in Magdeburg? Vor dem Barlach-Mahnmal im Dom hatte es schon seit längerer Zeit Gebete um Frieden und gesellschaftliche Erneuerung gegeben. Anfangs trafen sich dort vorrangig Ausreisewillige. Der Dom bot hierfür ein Schutzdach. Natürlich stand dies unter scharfer Beobachtung durch die Staatssicherheit, damit an die Betriebe gemeldet werden konnte, wer dort teilnahm. Schließlich lebt das System von Drohung und Druckausübung.

Hin zum 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober 1989 steigern sich die Spannungen. Demonstrationen werden gewaltsam aufgelöst. Es kommt zu Prügelattacken und „Zuführungen“. Und es werden gewaltige Drohkulissen aufgebaut. In der „Leipziger Volkszeitung“ vom 6. Oktober 1989 schreibt ein Kampfgruppen-Kommandeur: „Wir sind bereit … diese konterrevolutionären Aktionen endgültig und wirksam zu unterbinden. Wenn es sein muß, mit der Waffe in der Hand.“ Alles steuert auf den Montagabend des 9. Oktober zu, an dem eventuell Schlimmes zu erwarten ist. In mehreren Städten versammeln sich die Menschen, auch bei uns im Dom. Unten auf dem Schleinufer ist eine Armee aufgezogen. An diesem Abend gibt es in Magdeburg nur ein Treffen, keine Demo. Anders in Leipzig. Kirchenleute, Parteifunktionäre und der Dirigent Kurt Masur rufen über Lautsprecher beide Seiten zur Gewaltlosigkeit auf. Die Demonstration startet von der Nicolaikirche aus und wächst auf 70.000 an. Auch unser Sohn ist dabei, der in Leipzig studiert. Um 21 Uhr kommt der erlösende Anruf: „Demo ruhig und gewaltfrei verlaufen.“ Uns ist klar: Das ist die Entscheidung. In einem später veröffentlichten Stasi-Bericht heißt es: „Da die Demonstration ruhig verlief, mussten die vorgesehenen Mittel nicht eingesetzt werden.“ Ein kleines Ereignis – fast eine Anekdote – wird aus Leipzig berichtet. Dort liegt am „Ring“ eine Feuerwache. Sie hatte Anweisung, in Berlin anzurufen, sobald sich der Demonstrationszug nähert. Der Zug nähert sich. Der Wachhabende ruft in Berlin an. Dort nimmt niemand ab. Die Genossen müssen sich vielleicht noch von der DDR-Geburtstagsfeier erholen. Nach einigen Minuten meldet sich Berlin doch: „Zug sofort aufhalten!“ Da sagt der Feuerwehrmann: „Nu sin se durch!“ Was wäre wohl geschehen, wenn? Jemand sagt an diesem Abend: „Ein Engel hat über der Stadt gewacht.“

Wie weiter in Magdeburg? Inzwischen hatte Günter Schabowski am 9. November 1989 seinen Zettel vorgelesen und so den Mauerfall ausgelöst. Das ließ befürchten, dass nun die Luft raus ist aus der Protestbewegung und sich die Macht der DDR wieder stabilisieren könnte. Darum ist es wichtig, nicht lo-cker zu lassen in den Aktivitäten und nun gezielt zu bestimmten Objekten zu demonstrieren. Es ist Montag, der 20. November. Wieder kommen Menschen in den Dom, sogar mehrere Tausend. Arbeiter aus dem Magdeburger Schwermaschinenbau stehen da und haben ihre Mützen auf. Sie waren wahrscheinlich noch nie in einer Kirche. Jetzt aber ist das ganz einfach nur ein Schutzraum. Wieder eröffnet Pastorin Waltraut Zachhuber mit dem Satz: „Steh auf von den Toten!“ Domprediger Giselher Quast mit der Gitarre stimmt Lieder an. Singen entspannt ja. Und dann wird das Ziel genannt: Die Verwaltung der Staatssicherheit in der Walter-Rathenau-Straße. Quast sagt: „Wir gehen jetzt zu diesem militärischen Objekt. Laut Absprache ist die Wache vor dem Eingang eingezogen. Die Besatzung befindet sich im dunklen Gebäude. Wir enthalten uns jeglicher Provokation. Die Gruppe Dom wird mit Leinentüchern das Objekt symbolisch einfassen und schützen.“ So ziehen nun etwa 30.000 Magdeburger über das Schleinufer, vorbei am Kloster, mit Kerzen und phantasievollen Transparenten hin zur Stasi-Verwaltung. Den Abschluss bildet das Abstellen der Kerzen auf den Treppenstufen des Eingangs. Studenten aus dem gegenüberliegenden Wohnheim drücken mit Topf- und Löffelschlagen ihre Solidarität aus.

Ja, was war das nun? Es bleibt ein Rest, der sich nicht in Worte fassen lässt. Ein alter Berliner meinte einmal: „Ein Wunda is, wenn ick mir wundare.“ Zwar salopp formuliert, trifft dies jedoch das Wesentliche. Da wird einem im Nachhinein bewusst, dass da etwas Erstaunliches und Unwahrscheinliches geschehen ist, das mich betrifft. Manche zitieren im Herbst ‘89 den Psalm von der Befreiung Israels aus Babylon: „Als der Herr das Los der Gefangenschaft Zions wendete, da waren wir alle wie Träumende.“ Dieter Müller

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