Besser, bequemer, blöder?

Der Begriff Digital-Kapitalismus ist längst in viele Debatten eingezogen. Über die Macht der Tech-Giganten – vor allem aus den USA – werden für die Zukunft erschreckende Szenarien entworfen. Doch warum war und ist die Genese vom einstigen Turbo- zum modernen Hyper-Kapitalmechanismus überhaupt möglich? Vorrangig, weil die Verheißungen über eine bessere Zukunft die menschlichen Eigenheiten von Bequemlichkeit und Neugier nutzbar machen.

Die Liste der größten börsennotierten Unternehmen nach dem Ranking der Kapitalisierung wird derzeit von Microsoft (934 Mrd. Euro) auf Platz 1, gefolgt von Amazon (840,5 Mrd. Euro) und Apple (816,8 Mrd. Euro) angeführt. Auf Platz 4 findet sich der Konzern Alphabet Inc. (ehemals Google, 641 Mrd. Euro) und auf Platz 5 steht Facebook (405,3 Mrd. Euro). Nach den Big-Five der USA folgt die Firma Tencent aus China (363,6 Mrd. Euro), ebenfalls ein Internet-Unternehmen mit verschiedenen Netz-Angeboten. Die IT-Riesen beherrschen den Kommunikationsmarkt und sind Handelsgiganten. Der rasante Aufstieg dieser Branche, die, außer einer Programm-Matrix und große Speicherfarmen für den Austausch und die Verarbeitung von Informationen vorzuhalten, kaum reale Produkte erzeugt. Ihr Erfolg baut auf die rasante weltweite Verbreitung und Nutzung durch Milliarden Menschen.

Fakt ist das Onlinezeitalter hat viele Vorteile und Neuerungen gebracht und andererseits Multimilliardäre wie Jeff Bezos ermöglicht. 1994 gründete er Amazon.com und trieb damit die Idee eines Onlinebuchhandels voran. Die weitere Geschichte bis zum reichsten Mann der Welt ist hinlänglich bekannt. Auf welchen Mechanismen basiert jedoch die exorbitante Vermögensvermehrung der IT-Unternehmer? Die flächendeckende Verbreitung und die Nutzung der Angebote sind nur die eine Seite der Reichtumsmehrung. Die andere sind wir alle selbst. Jeder, der im Internet – egal auf welcher Plattform – Waren oder Informationen einstellt, leistet in gewisser Weise Arbeit. Das ist mit der altbekannten Sortimenteinordnung in ein Verkaufsregal oder dem Schreiben eines Buches oder Beiträge für eine Zeitung vergleichbar. Um die besondere Wertschöpfungskette im Internet besser zu verstehen, muss man aber auch auf uns Käufer, Nutzer und Leser schauen. 3,2 Stunden pro Tag, also statistisch 196 Minuten, ist jeder Deutsche täglich online. Und in der Regel erzeugt dann jeder – und zwar völlig kostenlos – genau die Werte, die Google, Facebook und Co. reicher machen. Facebook oder Twitter sind nur interessant, wenn ständig Posts erzeugt werden. Mit der Suche nach passenden Konsumartikeln leisten wir freiwillig die Arbeit, die sonst Verkäufer geleistet haben. Schon der deutsche Philosoph Martin Heidegger brachte es bereits 1949, als er vom Internet wirklich noch keine Ahnung haben konnte, mit der Bemerkung auf den Punkt: „… wir werden durch und durch zu Angestellten des Bestellens.“ Nutzen oder Mehrwert, die wir für uns daraus definieren, nennen wir dann Zeitersparnis, günstige Preise oder Angebotsvielfalt. Doch die wachsende Online-Zeit verschenken wir gleichsam an die Datensammler im Netz. Niemand ist heute mehr in der Lage zu überblicken, wie viele Daten eingesammelt und geschweige denn wie diese miteinander verknüpft werden. Kreditwürdigkeit, Konsumverhalten bis hin zu sozialem oder gar politischem Verhalten lassen sich analysieren und nutzen. Werbung und Marketing, um andererseits wieder Waren oder Dienstleistungen an Interessenten zu bringen, nehmen schon lange nicht mehr den großen Anteil am digitalen Vermögen ein.

Unsere gesamte Freiwilligkeit – auch das ist allseits bekannt – baut einerseits auf Neugier und andererseits auf Bequemlichkeit. Wenn wir sagen, dass uns online ein Nutzen „besser“ erscheint, meinen wir eher, dass wir uns nicht mehr auf den Weg machen mussten, dass wir uns nicht mühen mussten, etwas zu finden. Das Argument von Zeitersparnis erübrigt sich schon deshalb, weil die Zeit vor den Bildschirmen weiter steigt und man sich damit selbst um ein höheres Potenzial erlebter Realzustände bringt. Die Folgen unserer Bequemlichkeit kann man am schleichenden Aussterben des Einzelhandels besonders krass bereits in Kleinstädten ablesen. Auch vor mittelgroßen Metropolen wie Magdeburg macht die Entwicklung nicht halt.

Ein anderer Trend des Digital-Kapitalismus wirdderzeit selten gesehen: nämlich das Vermeiden von sozialer und rechtlicher Verantwortung. Es ist bekann, dass Gewinnanteile, die durch unser eigenes, wertschöpfendes Verhalten entstehen, kaum in deutsche Steuertöpfe fallen. Aber wem ist schon bewusst, dass die Firma Flixbus gar keine Busse besitzt, sondern nur Fahrten von A nach B organisiert. Der Kapitaleinsatz für die Unterhaltung der Busse, die Sozialversicherungspflichten und arbeitsrechtlichen Aspekte verbleiben bei den angeschlossenen Kleinunternehmern. Ähnlich funktioniert das Uber-Prinzip mit Taxis. Eigentlich bauen alle Plattformen auf diese Mechanismen. Ob jemand Waren herstellt und wie viele eine Firma davon verkauft, ist Amazon egal. Urlaubs- und Hotel-Buchungsplattformen wie „bocking.com“, „trivago“, oder „expedia“ gehören heute alle zum selben Konzern. Als Mittelständler im Übernachtungsgewerbe hat man kaum eine Möglichkeit, auf einen Eintrag in den Buchungsportalen zu verzichten. Sonst wird man heute nicht mehr gefunden und gebucht. Außerdem muss man sich den Buchungsrichtlinien der Plattformen unterwerfen.

Dieser Trend zu mehr Abhängigkeit von Online-Seiten hält an. Wer groß genug ist, kauft andere Portale auf und bestimmt am Ende das Geschäft, dass im Grunde auf reine Nutzerzeit und Monopolisierung baut. Schließlich sorgen die Großen im Netz für die höchste Priorität beim Auffinden ihrer Webseiten. Davon profitieren dann wieder Google & Co. Im Musikgeschäft wurde in Zeiten der Langspielplatten und CDs häufig die Marktmacht der Plattenlabels kritisiert. Die reichten pro verkaufter Scheibe aber noch fast 10 Cent an ihre Urheber aus. Beim Musikstreamingdienst Spotify erhalten Musiker pro abgespieltem Song sage und schreibe 0,01 Cent. Der Konzern Apple, der einige Zeit lang als teuerstes Unternehmen gehandelt wurde und erstmals in der Geschichte den Börsenwert von einer Billion Dollar übersprang, erwirtschaftet den höchsten Umsatz pro Mitarbeiter. 132.000 Leute beschäftigte Apple 2018. Auf jeden Mitarbeiter entfielen über 2 Millionen Euro Umatz und jeder erwirtschaftete einen Gewinn von 450.992 Euro. Volkswagen kommt mit weltweit 664.500 Beschäftigten auf einen Pro-Kopf-Umsatz von 354.927 und einen Pro-Kopf-Gewinn von 17.798 Euro. Dass Apple alkuell ins Filmstreaming-Geschäft einsteigen will, liegt auf der Hand. Denn es ist und war vor allem die Plattform „iTunes“, die dem Konzern große Margen bescherte und weniger Computer und iPhones.

Da Online-Dienste, Vernetzungkapazitäten und Netzgeschwindigkeiten wachsen, ist schon heute ablesbar, wie die Macht der Marktführer und Oligopole weiter zunehmen wird. Wenn dann in Europa händeringend im Europäischen Parlament über steuernde und beschränkende Regeln für diese Monopole gerungen wird – beispielsweise mit einem Urheberrecht oder einer Datenschutzverordnung – deuten das vor allem Parteien wie die SPD, Linke und Grüne als vermeintlichen Freiheits- und Meinungsfreiheitsverlust. Im Grunde stärken und sichern sie damit auf wundersame Weise die Wertschöpfungsketten der IT-Giganten. Man müsste annehmen, dass sie ihren Karl Marx nicht verstanden hätten. Und genauso machen wir es, wenn wir jeden Online-Vorteil als Verbesserung bezeichnen, ohne dabei die Kehrseite mitzudenken, dass wir eigentlich die Förderung von Bequemlichkeit meinen. Und Freiheit wird hinter Bildschirme projiziert, vor denen Abhängige sitzen.

Sollte es Facebook-Gründer Mark Zuckerburg im kommenden Jahr gelingen in seinem Social-Media-Kanal die eigene Währung namens „Libra“ einzuführen, entkoppelt sich die Wertschöpfung gänzlich von fiskalischen Steuerungsmöglichkeiten. Wie sollte der Rechtsstaat einerseits den Bestand eines digitalen Facebook-Kontos gewährleisten und andererseits würden Gewinne aus welchen Geschäften auch immer, nicht mehr ins Gemeinwesen zurückfließen. Dies kommt eigentlich einem Einbruch in den Sozialstaat gleich. Der Finanzsektor ist heute schon außerhalb jeder nationalen Steuerung und zeigt in Finanzkrisen seine ganze Destruktivität. Aber welche Kräfte entfaltet erst ein Netzwerk, das eine User nicht mehr nur in Zeitabhängigkeit fesselt, sondern diese zusätzlich noch monetär anbindet? Im Bildungs- und Wissensbereich kursiert oft genug noch die Vorstellung, dass einzig ein wachsendes Informationsmeer vor den Augen für mehr Klugheit dahinter sorgt. Mittlerweile werden jedoch mehr Kinder eingeschult, die deutliche Artikulationsdefizite mit ihrer Muttersprache haben. Und damit sind keine Menschen mit Migrationshintergrund gemeint. Des Weiteren registrieren Pädagogen Mängel bei motorischen Fähigkeiten. Jeder wird in eine gesellschaftliche Entwicklung geboren, in der bestimmte Selbstverständlichkeiten existieren. Oft genug wird die Gegenwart dann wie ein natürlicher Urzustand begriffen. Die Phasen der vorherigen und ursächlichen Grundlagen bleiben häufig verschleiert. Auf diese Weise wird Gegenwart zum Maßstab der Dinge. Die jeweiligen historischen Gegebenheiten – ob nun vermeintlich besser oder genauer gesagt bequemer – werden zu Maßstäben an denen Individuen sowie die Gesellschaft ein Leistungsvermögen messen. Man muss annehmen, dass ein mehr an Beqeumlichkeit zu einer sinkenden Leistungsbereitschaft führen würde. Ebenso wenig würden sicher bestehende Abhängigkeiten von digitalen Kapitalmechanismen erkannt und infrage gestellt. Wollte man drastische Vokabeln für die wachsende Macht eines Digital-Kapitalismus verwenden, müsste man die Freiheit im Netz, von der stets gepredigt wird, eher als eine neue Form der Sklaverei bezeichnen. Die Gefangennahme erfolgt nicht mehr mit Gewalt, sondern eher mit Selbstunterwerfung aus Bequemlichkeit. Aber es ist noch nicht zu spät, deswegen blöd zu werden. Vor- und Nachteile der digitalen Entwicklung müssen unter kritische Begutachtung. Wenn wir uns nicht selbst helfen, helfen uns auf jeden Fall die Digital-Kapitalisten, natürlich zu ihrem Vorteil. Thomas Wischnewski

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