Wenn der Kanu-Bus wartet …

Magdeburger Kanu-Legenden und der Nachwuchs: Olympiasieger Mark Zabel (rechts) und Weltmeister Björn Bach inmitten der SCM-Paddel-Talente. Foto: Peter Gercke

Klatsch, klatsch, klatsch. Das schmatzende Geräusch eintauchender Paddel gehört auf der Magdeburger Zollelbe längst zur gewohnten Geräuschkulisse. Seit jeher wühlen schnelle Kajaks und Canadier, getrieben von kraftvollen Schlägen, das bräunlich schimmernde Wasser auf. Hier, kaum mehr als einen Steinwurf von der City entfernt, hat eine der erfolgreichsten Abteilungen des SC Magdeburg ihr Zuhause – die Kanuten. Am Werder residiert eine der Medaillenschmieden der Sportstadt  Magdeburg, hier wurden Olympiasieger, Welt- und Europameister geformt. Vor der Wende schon und erst recht auch danach.
 
Und doch, irgendwie hat sich das Bild mittlerweile ein wenig geändert. Nicht nur Modellathleten, die schweißtreibend das Wasser durchpflügen, prägen das Geschehen. Tag für Tag tummeln sich größere Kinderscharen rings um die Bootshäuser. Sie gehören zu einem außergewöhnlichen Projekt der SCM-Kanuten, genannt „Bewegungsfeld Wassersport“. Und das geht so: Pünktlich 13 Uhr warten von Montag bis Freitag vom Verein gestellte Kleinbusse vor fünf Magdeburger Schulen, um Drittklässler zur Fahrt ins Kanu-Zentrum abzuholen. Was es damit auf sich hat, erklärt der Chef des Magdeburger Kanu-Bundesstützpunktes, Björn Bach, verblüffend profan: „Ganz einfach, wir wollen ihnen das Paddeln beibringen.“
 
Etwa 60 Mädchen und Jungen betreut der Klub auf diese Weise derzeit. Dafür engagieren sich alle sieben Trainer des Stützpunktes und mehrere Ehrenamtliche. Bach: „Die Nachfrage unter den Jugendlichen ist riesig. Wir platzen wahrlich aus allen Nähten.“ Welcher Verantwortliche einer Randsportart – die Kanu trotz ihres Olympiastatus‘ ist – kann das heute noch von sich sagen?
 
Mit Leistungssport habe das Kinder-Projekt zunächst allerdings herzlich wenig zu tun, versichert der einstige olympische Silbermedaillengewinner und mehrfache Weltmeister. „Wir wollen den Kindern Spaß und Spiel in der Natur vermitteln. Bei uns lernen sie, wie man mit einem bisschen handwerklichen Geschick aus einem Stück Holz ein Paddel fertigt, bei uns können sie auf der Elbe Kröten, Biber, Otter und selbst Wasserschildkröten aus nächster Nähe beobachten. Wir zeigen ihnen, wie schön es am und auf dem Wasser ist.“ Der 43-Jährige muss lachen: „Die Hälfte derer, die zu uns kommen, hat noch nie eine Ente schwimmen gesehen.“
 
Doch frei von (durchaus löblichen) Hintergedanken haben die SCM-Kanuten ihr Projekt natürlich nicht gestartet. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Es fehlte lange Zeit an allen Ecken und Enden an Nachwuchs. Ein Problem, das, nebenbei gesagt, die Wassersportler mit vielen Sportarten und Vereinen in Deutschland inzwischen teilen. Die Trainerentlassungen nach der Wende, gerade in den kleineren Vereinen, zeigen ihre Langzeitwirkungen. In Magdeburg kam hinzu, dass der SCM irgendwann seine einst dominante Stellung im deutschen Kanu zu verlieren drohte, und damit möglicherweise ebenso den Stützpunkt-Status. Klar war: Es musste etwas getan werden.

Bach schildert im Rückblick die Situation so: „Als wir Magdeburger noch fünf bis sieben Leute für die Nationalmannschaft stellten, wurde das Problem übertüncht, alles schien ja in Ordnung zu sein. Das geht so weiter, glaubten viele Verantwortliche. Schon damals wurde übersehen, dass die Großzahl der Talente nicht aus Magdeburg, sondern aus kleineren Orten wie Barby, Calbe, Schönebeck, Bad Dürrenberg oder aus Halle kam. Doch dort wurde die Zahl der Übungsleiter immer geringer, Ältere schieden aus. Bereits in meiner aktiven Zeit (Bach beendete 2008 seine Laufbahn, d.Red.) gab es beispielsweise zwischen 2003 und 2005 Jahre, in denen nicht ein neuer Kanute bei uns nachrückte.“
 
Als Bach gemeinsam mit seinem ehemaligen Teamkollegen Olympiasieger Marc Zabel nach dem Karriereende Trainer in Magdeburg wurde, „mussten wir quasi bei null anfangen“. Es galt, ein neues Nachwuchssystem aufzubauen. Erster Grundgedanke: Für eine starke Spitze benötigen wir eine viel größere Breite. Eine der wichtigsten Schritte dabei war, das Einzugsgebiet Magdeburg, also die Stadt selbst, viel intensiver zu nutzen. Zweiter Grundgedanke: Von allein kommt heute kaum noch ein Kind zum Kanu. Also müssen wir den ersten Schritt tun und sie dort abholen, wo sie einen Großteil des Tages verbringen – an den Schulen.  
 
Gesagt, getan. Von September bis Mai dauert das, was Bach eine „spaßorientierte Bewegungsschule“ nennt.  „Wir wollen, wie andere Vereine auch, die Kinder von der Straße holen, raus aus dem Alltagstrott, ihnen eine sinnvolle Freizeit anbieten. Abseits von Handy oder Tablet.“ Ohne Sponsoren (beispielsweise Humanas, Fides), so  der Stützpunkt-Chef, sei diese Aufgabe jedoch nicht zu stemmen. Sie stellen die Busse, aus Landesmitteln wird ein Teil der extra für die Anfänger bereitstehenden zehn Boote finanziert. Bach stolz: „Für die Projektteilnehmer ist alles, was sie bei uns machen, nahezu kostenfrei.“ Den Besten unter ihnen winkt dann ab der vierten Klasse sogar ein Aufnahmeantrag für die Abteilung Kanu des SCM; die anderen können, so sie denn wollen, ihren Sport bei den Magdeburger Vereinen KC Börde oder KC Falke (Kanuslalom) fortsetzen. Hier nun schließt sich der Kreis. Eine Win-Win-Situation. Der Klub verfügt zumindest über ausreichend Kanu-Nachwuchs und für die, die künftig das SCM-Trikot tragen dürfen, lässt sich von nun an tatsächlich von Leistungssport sprechen …
 
Stichwort Leistungssport. Natürlich hat Bach nicht nur den Nachwuchs, sondern – das versteht sich als für die Bundeskader verantwortlicher Stützpunktleiter von selbst – natürlich ebenso die Spitzen-Paddler des SCM jederzeit im Blick. Nächstes Ziel sind die Weltmeisterschaften Ende August im ungarischen Szeged. Heißestes Eisen im Feuer ist dort Yul Oeltze, der zusammen mit dem Leipziger Peter Kretschmer den Titel im Zweier-Canadier zu verteidigen hat. Den Sprung ins deutsche WM-Team geschafft hat aus Magdeburg ebenso Jasmin Fritz, die zusammen mit der Dresdnerin Steffi Kriegerstein im Kajak-Zweier startet.
 
Doch so wichtig Szeged als Zwischenziel und Bestandsaufnahme ist, die Regattastrecke in der drittgrößten Stadt  Ungarns steht schon im Bann der Olympischen Spiele 2020 in Tokio. Neben Oeltze und Fritz können sich vom SCM noch die beiden Kajak-Fahrerinnen Julia Hergert und Nina Krankemann sowie Canadier Michael Müller zumindest Hoffnungen auf einen Olympiastart machen. „Wir wollen in Tokio auf jeden Fall den Aufwärtstrend des Magdeburger Kanus nachweisen“, sagt Bach. Zuletzt war nämlich eine ziemlich tiefe Talsohle zu durchschreiten. 2016 in Rio blieb der so erfolgsgewohnte SCM völlig ohne Medaille, vier Jahre zuvor war Bronze von Andreas Ihle im Kajak-Zweier sogar die einzige Edelmetall-Plakette für Sachsen-Anhalt gewesen. Nicht zu vergleichen mit 2008, als Ihle und Conny Waßmuth (Kajak-Vierer der Frauen) gleich mit zweimal Gold aus Peking an die Elbe heimkehrten.
 
„Unser Ziel ist, mit zwei SCM-Aktiven in Tokio im deutschen olympischen Kanu-Team vertreten zu sein“, unterstreicht Bach. Jenem Team, das vor vier Jahren in Rio immerhin knapp ein Viertel aller deutschen Goldmedaillen einheimste. Die größten Magdeburger Hoffnungen ruhen dabei natürlich auf dem zweifachen Weltmeister Oeltze (C2, 2017 und 2018). „Natürlich gibt es bei uns so etwas wie ein Projekt Gold. Als amtierender Weltmeister zu sagen, man will nur dabei sein, das ist nicht unsere Sache. Das Potenzial, ganz oben auf dem Podest zu stehen, besitzt Yul auf jeden Fall …“
 
Indes, die olympischen Blicke gehen am Werder sogar schon weit über Tokio hinaus. Im   nächsten Jahr feiern die Frauen im Canadier-Boot ihre Premiere bei den Ringe-Spielen. „Gott sei Dank“, atmet Bach noch nachträglich auf, „sind wir seinerzeit dem Rat des Verbandes nicht gefolgt, uns in Magdeburg nur auf Kajak zu konzentrieren.“ Seit fünf Jahren steigen auch Frauen auf der Zollelbe in das Boot mit dem Stechpaddel. „Vorerst liegt das Schwergewicht jedoch noch im Nachwuchs“, schränkt Bach ein. „2020 kommt deshalb für uns noch zu früh, aber 2024 in Paris rechnen wir uns schon Chancen aus, im Wettbewerb um die olympischen Tickets unseren Hut in den Ring zu werfen.“ Rudi Bartlitz

Steckbrief: Björn Bach

Der 43-jährige Leiter des Bundesstützpunktes Kanu in Magdeburg gehört zu den erfolgreichsten Athleten des SCM in dieser Sportart. Der geborene Magdeburger und studierte Sportwissenschaftler gewann mit dem Kajakvierer knapp 20 Medaillen bei Europa- und  Weltmeisterschaften sowie Olympischen Spielen, darunter sechsmal WM-Gold und zweimal Silber bei Olympia (2000 in Sydney und 2004 in Athen). Als 21-Jähriger brachte Bach 1997 von seiner ersten Weltmeisterschaft gleich einen kompletten Medaillensatz mit nach Hause. In den darauffolgenden Jahren war er mit dem deutschen K4 permanent international erfolgreich. 2008 beendet er seine leistungssportliche Laufbahn. Danach war er als Trainer tätig. 2014 wurde er Landestrainer und übernahm im Vorjahr hauptamtlich die Stelle des Leiters des Bundesstützpunktes. Im Bundeskader ist er für elf Athleten verantwortlich. „Ohne meine sieben Angestellten wäre die umfangreichen Aufgaben nicht zu erfüllen“, sagt er. „Vieles geht nur, weil sich die insgesamt 300 Vereinsmitglieder als eine echte große Familie fühlen.“ 

Zurück