Von Helden und Novizen

Magdeburgs jüngster Sportverein trägt den Namen des berühmtesten Faustkämpfers der Stadt. Ein Besuch in der „Stieglitz Boxing Akademie“.

Von kaltem Männerschweiß und der oft leicht miefigen Atmosphäre, die viele ältere Box-Gyms verströmen, ist nicht viel zu bemerken. Neben Speedballs baumeln zwar auch hier die berühmten Sandsäcke an glitzernden Ketten von der Decke und in der Mitte des knapp 300 Quadratmeter großen Saals thront ein Ring in Originalgröße. Aber ansonsten: fast schon peinliche Sauberkeit, akkurat aneinander gereihte Trainingsgeräte und frisch installierte Sanitäranlagen prägen das Bild. MAGDEBURG KOMPAKT ist zu Gast in einer der jüngsten Sportstätten hierzulande: der Stieglitz Boxing Akademie, zehn Kilometer vor den Toren der Landeshauptstadt gelegen. So mancher Passant schaut auf seinem Weg zum Elbepark in Hohenwarsleben verdutzt auf das Logo über dem Eingang des zweistöckigen Geschäftshauses. Stieglitz? Ist das der Robert Stieglitz, der Ex-Weltmeister im Supermittelgewicht? Genau. Seit fünf Monaten trägt der jüngste Sportverein der Stadt den Namen des einstigen Magdeburger Box-Helden. „Seit wir Anfang Juni unsere Akademie aus der Taufe gehoben haben, können wir uns über Zulauf nicht beschweren“, berichtet Vereinschef Bas-tian Kirchner stolz. Als er erzählt, trägt er Trainingsklamotten, die kurze Sporthose leger über die Leggings gezogen. 60 Mitglieder zählt der Klub binnen weniger Monate. „Da sage noch einer“, meint der 41-Jährige und muss leicht schmunzeln, „das Boxen sei tot in Deutschland.“

Vor allem der Arbeit mit dem Nachwuchs hat sich die Akademie verschrieben, die sich selbst als „Old School Boxing Club“ bezeichnet. Ganz im Sinne ihres Patrons, des einstigen, in weit über 50 Ringschlachten gestählten Box-Profis. „Als wir bei einer Flasche Wein zusammen saßen und irgendwann die Idee entstand, etwas für die jungen Faustkämpfer zu tun, habe ich nicht gezögert, meine Hilfe zuzusagen“, erklärt der 37-Jährige, der 2017 seine Handschuhe an den berühmten Nagel hängte und inzwischen erfolgreich als Trainer bei seinem einstigen Arbeitgeber SES Boxing arbeitet.

Der Clou an der Akademie: Sie entstand praktisch aus dem Nichts. Allein die Suche nach einem geeigneten Trainingsort gestaltete sich schwierig. Die Finanzquellen sprudeln verständlicherweise nicht allzu üppig und die Quadratmeterpreise in der Stadt waren, wie sich schnell herausstellte, für die „Neulinge“ von der Faustkampf-Front kaum erschwinglich. Also eben Hohenwarsleben. Ein boxbegeisterter Geschäftsmann stellte dem Verein eine halbe Etage, die bis dahin als Lager genutzt worden war, zu güns-tiger Miete zur Verfügung. „Fast alles hier ist von uns selbst gemacht worden“, berichtet Kirchner stolz. „Vom Fußboden, über die Wände bis zur Decke. Drei Monate haben wir gewerkelt, in der Woche und an den Wochenenden, bis alles fertig war. Da hat keiner auf die Uhr geguckt.“ Etwa 25.000 Euro, schätzt er, kommen an Eigenleistungen zusammen. Und die nicht gerade billigen Geräte?

Da kommt wieder Robert Stieglitz ins Spiel, der Patron. Er ließ seine Kontakte spielen, kaufte selbst Ausrüstungsgegenstände, zahlt Monat für Monat die Hallenmiete. Sein weiter Freundeskreis, auch in der Geschäftswelt, half, das eine oder andere zu günstigen Konditionen zu erwerben. Den sechs mal sechs Meter messenden Ring, der 1977 bei den Box-Europameisterschaften der Amateure in Halle seine erste Feuertaufe erlebte und nun eine Frischzellenkur erhielt, erstand man zu einem Bruchteil des eigentlichen Preises. Geld kommt ebenso von heimischen Sponsoren wie Fliesenbau Hellmich, dem Autohandel Blaue Kuh oder dem Restaurant Santorin. Und auch so etwas gehört dazu: SES-Chef Ulf Steinforth spendierte für seine Gala in Weißenfels der Akademie gut ein Dutzend Tickets.

„Ja“, sagt Stieglitz im Gespräch mit MAGDEBURG KOMPAKT, „es war immer schon meine Absicht, dem Boxen, dem ich seit meiner Übersiedlung aus Russland nach Deutschland im Jahr 2000 so viel zu verdanken habe, etwas zurückzugeben. Ich habe mit dem Boxen Geld verdient, jetzt geht etwas davon den umgekehrten Weg. Mit der Akademie-Gründung ist, da ich meine Karriere beendet habe, nun ein Weg gefunden, den Worten Taten folgen zu lassen. Klar bin ich auch ein wenig stolz, dass der Verein meinen Namen trägt.“ Ob er einen Traum verraten soll, fragt der Ex-Welt- und Europameister mit verschmitztem Lächeln. Nur zu. „Ich träume davon, dass aus diesem Verein vielleicht einmal ein Boxer hervorgeht, der es wie ich bis in die Weltspitze schafft. Das wünsche ich mir wirklich. Dass ein Junge aus Magdeburg wieder ganz oben anklopft. Mein zweiter Wunsch wäre es, uns so weiter zu entwickeln, dass wir irgendwann einmal den Status eines Box-Landesstützpunktes erwerben. Und drittens, dass wir bald 100 Mitglieder haben und künftig von kommunaler Seite ein wenig Unterstützung erhalten.“ Wobei die Wünsche sich sicher zuerst in umgekehrter Reihenfolge erfüllen ließen …

In die sportlichen Dinge greift der Champ, das unterstreicht er, nicht ein. Obwohl, das wird im Gespräch schnell deutlich, er schon die Stärken – und Schwächen! – einiger seiner „Jung-Stars“ ganz gut einzuschätzen vermag. Dass die Kids bewundernd zu ihm aufschauen und er ein Zugpferd par excellence ist, steht auf einem ganz anderen Blatt. Als er jüngst bei der SES-Gala in Dessau einen seiner Boxer betreute, kam ein etwas zehnjähriges Mädchen – gekleidet in T-Shirt und Trainingsjacke der Akademie – an den Ring geflitzt und fragte ihn ganz direkt: „Wann kommst du denn wieder zum Training vorbei?“ Stieglitz freut sich. „Im Sommer war der Verein für eine Woche zum Trainingslager im Harz, in Gernrode. Da habe ich es mir nicht nehmen lassen und zwei Tage vorbeigeschaut. Es hat Spaß gemacht, ein richtiges Gaudi.“

Vier Mal in der Woche fliegen jetzt bei den Übungsstunden die Fäuste, knallt – plopp, plopp, plopp – Leder auf Leder. Das Sagen hat dann Cheftrainer Andrej Sviridov, ein geborener Litauer. Er bringt viele Elemente der russischen Box-Schule ein. Bei ihm sollen die Eleven erst einmal den vielbeschworenen „ring sense“, das richtige Gefühl für den Raum zwischen den Seilen, bekommen. 45 Jungen und Mädchen haben Sviridov und Kirchner, beide mit einer Trainerlizenz ausgestattet, unter ihren Fittichen. Viele kommen, teils in Fahrgemeinschaften, aus Magdeburg herüber. Kirchner: „Aber auch aus den umliegenden Dörfern haben wir viel Zulauf. Damit hatte ich anfangs nicht gerechnet.“ Hinzu kommen 15 Erwachsene. Das jüngste Akademie-Mitglied ist erst vier, das älteste 30 Jahre alt. „Wettkämpfe dürfen Kinder freilich erst ab zehn Jahren bestreiten“, erläutert Kirchner.

Obwohl seit der Eröffnungs-Party, bei der über 500 Leute vorbeischauten, und dem ersten eigenen Turnier noch nicht einmal ein halbes Jahr ins Land gegangen ist, sammeln die Sviridov-Schützlinge schon fleißig Medaillen ein. Bei den Nachwuchs-Landesmeisterschaften im Herbst wurde die Stieglitz-Akademie, natürlich­ längst Mitglied im Stadt- und Landessportbund, mit fünf Titeln und zwei Landesbesten sogar auf Anhieb erfolgreichster Verein Sachsen-Anhalts. Boxen im Ehrenamt braucht Enthusiasmus. Viel Enthusiasmus sogar. Bei Kirchner ging es soweit, dass er dafür sogar den Job wechselte. „Früher war ich Kraftfahrer, das wurde immer schwierig mit der Zeit fürs Training und für die Wettkampfreisen an den Wochenenden“, sagt er. Jetzt ist er Hausmeister. „Da kann ich mir alles viel besser einteilen.“  25 bis 35 Stunden, rechnet er vor, kommen für ihn und Sviridov in der Woche in Sachen Faustkampf schon zusammen. Für jeden von ihnen.

Zu der Zeit, die sich beide für den Sport nehmen, gehöre auch ihr erstes soziales Engagement als Verein, wie der Chef stolz berichtet. An einer Förderschule in Klein Oschersleben hoben sie mit der Arbeiterwohlfahrt das Projekt „Boxen gegen Gewalt“ aus der Taufe. Der Zulauf sei „mehr als erfreulich“. Wieder zog der Name Stieglitz. Einmal in der Woche zunächst für zwei Stunden wird hier mit den Fäusten gefochten. Bald soll auf fünf Stunden aufgestockt werden. „Wir wollen die Kinder von der Straße wegholen“, unterstreicht Kirchner. Gerade in Gegenden, wo es ein bestimmtes Gewaltpotenzial gibt. „Unser Motto heißt: Gewalt gehört nicht auf die Straße. Wer kämpfen will, der soll lieber zu uns kommen.“ Ein Satz, wohl ganz im Sinne des Patrons. Rudi Bartlitz

Robert Stieglitz

Robert Stieglitz (l.) mit seinem SES-Schützling Roman Fress. Fotos: Peter Gercke

Robert Stieglitz ist der erfolgreichste und bekannteste Magdeburger Boxer überhaupt. Er war von 2009 bis 2012 und von 2013 bis 2014 Weltmeister im Supermittelgewicht des Verbandes WBO. Seine Karriere beendete er im Frühjahr 2017 als Europameister im Halbschwergewicht. Stieglitz wurde am 20. Juni 1981 in der heutigen russischen Stadt Jeisk geboren. Nach der Trennung seiner Eltern übersiedelte der Russlanddeutsche zu seinem Onkel nach Magdeburg, um für den deutschen Mannschaftsmeister 1. BC Magdeburg zu boxen. Seit Februar 2001 steht er beim SES-Boxstall unter Vertrag. Sein Profidebüt bestritt er zwei Monate später. Im Oktober 2002 gewann er den vakanten Juniorentitel der IBF im Halbschwergewicht. Nach drei Titelverteidigungen wechselte er 2004 in das Supermittelgewicht und gewann auch hier den Juniorentitel sowie im April 2005 den „Intercontinental“-Titel der IBF. Seinen ersten WM-Kampf verlor er hingegen am 3. März 2007 in Rostock gegen den Kolumbianer Alejandro Berrio (Tko in der dritten Runde). Zwei Jahre später holte er sich aber den Titel in Budapest gegen den ungarischen WBO-Weltmeister Károly Balzsay (Tko in der 11. Runde). Stieglitz war nach Max Schmeling, Ralf Rocchigiani und Markus Beyer erst der vierte Deutsche, der im Ausland Weltmeister wurde. Dann folgten die vier legendären WM-Kämpfe gegen den Berliner Arthur Abraham, mit denen der SES-Mann in die Geschichte einging. Drei der vier Gefechte verlor er. Er wechselte anschließend ins Halbschwergewicht und wurde im November 2016 in Magdeburg gegen den Franzosen Mehdi Amar Europameister. Diesen Titel verteidigte er in seinem letzten Kampf im März 2017 durch ein Remis gegen den Montenegriner Nikola Sjekloća in Leipzig. Danach beendete er seine Laufbahn. Ein halbes Jahr später unterschrieb er bei seinem einstigen Arbeitgeber SES einen Vertrag als Trainer. Stieglitz hat in einem dreijährigen Fernstudium sein Diplom als Sportlehrer an der Universität Jeisk erworben. Seit dem Frühjahr 2018 trägt eine Box-Akademie in seiner Heimatstadt seinen Namen.

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