Vom Sinn Olympias

Auf die Ringe-Spiele fielen zuletzt viele Schatten. Hat das größte Sportfest der Welt auf lange Sicht überhaupt noch eine Zukunft?

Seit einigen Tagen nun liefert uns das Fernsehen, von den Nachtstunden bis in den tiefen Nachmittag, wieder massenhaft Live-Bilder von Olympia ins Haus. Gewiss, es sind beeindruckende und emotionale Bilder, die viele in ihren Bann ziehen. Bilder absoluter sportlicher Spitzenleistungen, Bilder voller Dramatik und Spannung im Kampf um das Höchste, was der Weltsport zu bieten hat: olympische Medaillen.

Und doch, bei vielen Zuschauern will sich rechte oder gar ungeteilte Freude über das, was da aus Südkorea herüberkommt, nicht einstellen. Die alte, oft gehörte Floskel, wonach es Zeit wird, dass all die Diskussionen nun aufhören sollten und endlich der Sport los­geht – sie greift nur noch bedingt. Zu hoch ist inzwischen der Berg an Vorbehalten gegen die Spiele angewachsen. Der dreiste russische Staatsdopingbetrug und der ebenso unsägliche wie dilettantische Umgang des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) mit dessen Verursachern ist nur die Spitze des Eisbergs. In vielen Kommentaren ist von einer Bankrotterklärung des IOC gegenüber Putins Riesenreich die Rede. Kommerzialisierung in nie gekanntem Ausmaß, Korruption sowie grenzenloser Gigantismus, der Ausrichterstädte an den Rand des Ruins bringt und gerade bei den Winterspielen einen enormen Raubbau an der Natur verursacht, sind andere Stichworte. Olym­pia leuch­tet – zu­min­dest für die west­li­che Welt – nicht mehr wie einst.

Ja, so ist zu fragen, haben die Ringe-Spiele langfristig überhaupt noch eine Zukunft? Klare Antwort: Wenn es in der heutigen Form weitergeht, niemand dem System energisch in die Speichen greift und grundlegende Reformen einleitet, dann bestehen ernste Zweifel. Die nächsten Fragen drängen sich förmlich auf: Wer kann das wahrlich hohe Gut Olympia noch schützen? Wer könnte denn einen Aufstand der Anständigen, vielleicht sogar eine olympische Revolution (das Wort scheint durchaus berechtigt, denn es geht nicht mehr nur um Reformen oder gar Reförmchen) auslösen oder wenigstens anschieben?

Das IOC jedenfalls scheidet dafür aus. Weder die Exekutive mit seinem deutschen Präsidenten Thomas Bach noch der erweiterte Führungskreis sind willens, etwas Grundlegendes am System zu ändern. Das zeigt nicht zuletzt der Dopingfall Russland. Sie, die ein Unternehmen führen, das Milliarden generiert und dem Einzelnen fette Pfründe verspricht, handeln nach dem Motto „Weiter so, uns kann doch keiner.“ Viel Hoffnung auf Regierungen, also auf die Politik im weitesten Sinne, zu setzen, scheint ebenfalls wenig zielführend. Zum einen fehlt da oft der Wille zu Veränderungen, zum anderen haben sie allesamt in der Vergangenheit in sportpolitischen Fragen (Boykotte, Doping usw.) in der Regel nicht gut ausgesehen.

Also die Sponsoren? Von ihrer wirtschaftlichen Kraft her wären sie theoretisch durchaus in der Lage, auf das IOC zumindest mäßigend einzuwirken. Beim Geld sind die Ringe-Chefs allemal zu packen. Nur scheitert dies in der Praxis an zu vielen Einzelinteressen (sprich: Profit) der Unternehmen. Springt tatsächlich einmal ein Multi als Olympia-Förderer ab, füllt sofort ein russischer Gaskonzern oder ein chinesisches Internet-Unternehmen die Lücke.

Von den Athleten selbst den großen Umschwung zu erwarten, wäre illusorisch. Sie sind mit einer solchen Aufgabe – das muss man so deutlich benennen – in der Regel überfordert. Gewiss, sie können auf das eine oder andere Detail einwirken, mehr aber auch nicht. Zudem wollen die meisten jungen Olympioniken, die ihr gesamtes Leben voll auf ihren Sport konzentrieren, die Bühne Olympia nicht missen.

Blieb also nur noch das Publikum. Da deuten sich in jüngster Vergangenheit zumindest Veränderungen an: Ablehnung in zahlreichen westlichen Städten, sich überhaupt noch um die Austragung der Ringe-Spiele zu bewerben, ergänzt durch zurückgehende Olympia-Stimmung in einer Reihe von Ländern. Bezeichnend ist eine repräsentative Umfrage vor Rio 2014, laut der nur noch ein Drittel (!) aller Deutschen der Überzeugung war, bei Olympischen Spielen stehe der Sport im Vordergrund. Die meisten glaubten, es gehe vorrangig nur noch um Kommerz.

Die ständigen Skandale um Olympia könnten zudem dazu führen, dass sich immer mehr Interessierte – da vor allem junge Menschen – von Olympia abwenden und sich anderen Seiten des Sports (zum Beispiel dem boomenden E-Sport) zuwenden. Oder, das mag lustig klingen, sich einstigen Außenseitern wie Darts zuwenden. Dort, so die möglichen Motive der Betroffenen, erhoffen sie sich, Doping und Betrug einigermaßen aus dem Weg zu gehen. Richtig ernst wird es freilich erst dann, wenn immer weniger Menschen olympische TV-Bilder sehen wollen, die Quoten richtig absacken und die Anstalten dem IOC die Milliarden-Überweisungen kürzen.

Bei allen unterschiedlichen Szenarien, die größte Gefahr droht derzeit den Winterspielen. Nicht nur, dass sich aus ökonomischen wie ökologischen Gründen immer weniger Veranstaltungsorte finden lassen (für 2022 waren Peking und das kasachische Almaty einzige Kandidaten). Der Klimawandel (Schneesicherheit) hinterlässt seine langfristigen Spuren. Dass nun ausgerechnet der Weiße Tiger, eine vom Aussterben bedrohte Spezies, zum Maskottchen von Pyeongchang erkoren wurde, zeigt: Zumindest der Sinn für unfreiwillige Symbolik ist dem IOC nicht abhandengekommen. Rudi Bartlitz

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