Starke Männer und ein starkes Dorf
Samswegens Gewichtheber haben es geschafft: Sie richten im April die Finalrunde um die deutsche Mannschaftsmeisterschaft aus. Wie eine kleine Gemeinde am Nordrand Magdeburgs eine Randsportart am Leben hält.
In Samswegen beginnt so langsam das große Kribbeln. Der Grund dafür: Am 28. April steigt in dem kleinen Gewichtheber-Dorf ein Höhepunkt, wie es ihn seit einem Jahrzehnt am Nordrand Magdeburgs nicht mehr gegeben hat. Der SSV 1884, der emsige Kraftsportler-Verein, hat nämlich das Recht erworben, Ausrichter der Finalrunde der deutschen Mannschaftsmeisterschaft zu sein. Letztmals gab es das 2007. Damals wurde das Event dadurch gekrönt, dass sich die „Bördekräne“, wie schon zwölf Monate zuvor, den Gewinn der Meisterschaft sicherten. Ein ganzes Dorf stand Kopf.
„Ja, das ist diesmal für uns wieder ein absolutes Highlight, sportlich für den Verein sowieso – aber auch für unseren kleinen Ort“, sagt Wolfgang Weber, der Sportliche Leiter des SSV, im Gespräch mit Magdeburg Kompakt. „Wir stehen überraschend bereits vor dem letzten Wettkampftag am 7. April, wenn wir den Berliner TSC empfangen, als Sieger einer der beiden Vorrundengruppen uneinholbar fest. Damit haben wir auch das Recht erworben, die Endrunde, für die sich ebenso der Gewinner der anderen Gruppe, der AV 03 Speyer, und der beste Zweiplatzierte beider Gruppen, wahrscheinlich Germania Obrigheim, qualifizieren.“ Am Ende werden also drei Teams um die Krone des deutschen Gewichthebens kämpfen.
Noch sind die Vorbereitungsarbeiten im „Stärksten Dorf der Welt“ in vollem Gange. Eine Auszeichnung übrigens, die der Gewichtheber-Weltverband dem Bördedorf 1996 als bisher einziger Gemeinde überhaupt verliehen hat. Besiegelt mit Urkunde und Plakette. Weil, so die damalige Begründung, kein anderes Dorf des Erdballs die stolze Bilanz von 34 Medaillen bei internationalen Wettbewerben und Weltmeisterschaften vorweisen konnte. Dazu kamen noch 580 Plaketten aus DDR-Zeiten. Über das Rahmenprogramm am 28. April, an dem eifrig gebastelt wird, will man noch nicht allzu viel verraten. So viel sagt Weber aber dennoch: „Wir platzen aus allen Nähten, das ist jetzt schon klar. Unsere Halle der Freundschaft, die eigentlich nur für 450 Besucher zugelassen ist, wird da nicht ausreichen. Wahrscheinlich werden wir draußen zusätzlich ein großes Zelt aufbauen und ein Public Viewing veranstalten.“
Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen: Public Viewing beim Gewichtheben! In einer Sportart, die hierzulande, wie auch weltweit, beim Publikum, um es vorsichtig auszudrücken, nicht gerade zu den Rennern zählt. Eher im Gegenteil. Eine derartige Begeisterung für das Hochwuchten zentnerschwerer Eisenlasten, die gibt es wahrscheinlich in dieser Form nur in Samswegen. Hier ist die Halle meist rammelvoll, sagen auswärtige Athleten neidisch. In anderen, größeren Orten sind oft die Verwandten die einzigen Tribünengäste. Ein anderes Beispiel der Fan-Begeisterung: Zum entscheidenden Duell um Platz eins in der Ostgruppe begleiteten diesmal Dutzende Fans in einer Auto-Karawane die SSV-Stemmer nach Chemnitz. Ebenso ein Novum in Deutschland.
Sportlich, so betont Weber, sieht sich Samswegen im Finale allerdings in einer Außenseiterrolle. Dazu sind die Ausgangsleistungen – errechnet nach einer etwas komplizierten Punktetabelle, die das Körpergewicht eines Athleten in Relation zur gehobenen Last setzt – von Speyer und Obrigheim einfach besser als die ihrer ostdeutschen Konkurrenz. „Speyer liegt in dieser Saison bei 945 Punkten, Obrigheim bei 934. Unser Bestwert steht bei 890.“ Der SSVSportchef ist jedoch alles andere denn unzufrieden: „Unser Ziel war es, die Finalrunde zu erreichen. Das haben wir mit Bravour geschafft. Was jetzt noch kommt, ist schönes Beiwerk.“ Und dann kündigt er schon mal den Kampfgeist seiner Truppe an: „Wir heben zu Hause, wir werden den Kopf keinesfalls in den Sand stecken. Jeder Wettbewerb läuft anders. Eine Verletzung eines Spitzenathleten kann auch beim Gegner so manch dicken Strich durch die Rechnung machen. Dann müssen wir da sein …“
Die Hoffnungen der Samsweger ruhen am 28. April vor allem auf zwei ausländischen Gaststartern und zwei mehr oder weniger Einheimischen. Da sind zum einen der tschechische Superschwergewichtler Jiri Orsag (wiegt 128 Kilogramm), Olympiasiebter von Rio, und der Pole Lukasz Grela. Zum anderen der Berliner Nationalmannschaftsheber Robert Joachim und ein Samsweger Ausnahmetalent, der erst 17-jährige Roberto Gutu. „An Joachim, der noch nie deutscher Mannschaftsmeister war, sind wir schon jahrelang dran“, erläutert Weber. „In dieser Saison hat es endlich geklappt. Und wenn sein Berliner Mitstreiter Michael Müller, den wir ebenfalls vom TSC abgeworben haben, nicht verletzt wäre, könnten wir vielleicht sogar in den Kampf um Platz eins eingreifen.“
Etwas Besonderes im deutschen Gewichtheben ist Roberto Gutu. Seit 2011 lebt der in Moldawien geborene Junge mit seiner alleinerziehenden Mutter in Deutschland, fragte eines Tages über einen Sponsor bescheiden an, ob er in Samswegen mittrainieren dürfe. Nachdem die SSV-Trainergilde Gutu an der Hantel gesehen hatte („Ein Jahrhunderttalent“), jubilierten einige schon, beantwortete sich die Frage von selbst. Samswegen stattete Gutu mit einem Fünf-Jahres-Vertrag aus – üblich sind in der Branche Ein-Jahres-Kontrakte. Seit zwei Jahren trainiert der Leichtgewichtler (bis 69 Kilo), den Weber heute schon in seinem Limit international etwa auf Rang sechs oder sieben taxiert, nunmehr am Bundestützpunkt in Frankfurt/Oder.
So erfreulich die Causa Gutu im Einzelnen sein mag, generell steht es mit nachwachsenden Talenten im Gewichtheben nicht zum Besten. Selbst in Samswegen nicht. „Bescheiden, sehr bescheiden“, sehe es da aus, findet Weber. „Wir suchen händeringend Nachwuchs. Ich habe den Eindruck, die heutige Generation will sich nicht mehr quälen. Gewichtheben ist ein sehr trainingsintensiver Sport. Dreimal pro Woche ist das Minimum, besser sind vier oder fünf Mal. Es fehlt die Breite, aus der dann auch einmal Klasse erwachsen kann. Es geht einfach nicht mehr leistungsorientiert zu. Die meisten Jugendlichen wählen als Freizeitbeschäftigung lieber Dinge, die sich am Handy oder Computer erledigen lassen.“
Sagt der Mann, dessen Urteil auch international zählt. Der knapp 60-Jährige, im normalen Leben Zivilangestellter bei der Bundeswehr, lebt Gewichtheben geradezu. 1971 begann er mit dem Hantelstemmen, danach fungierte er fast ein Vierteljahrhundert als Übungsleiter und Trainer, ehe er 2000 Sportchef bei den Samswegern wurde. Sein internationales Netzwerk, über Jahrzehnte aufgebaut, sorgt immer wieder dafür, leistungsstarke ausländische Athleten zu gewinnen, für die kleine, nur 1.700 Einwohner zählende Gemeinde an den Start zu gehen. Wenn auch jene Zeiten ein für allemal vorbei zu sein scheinen, als sich der einst stärkste Mann der Welt, der weißrussische Recke Alexander Kurlovich, zweimaliger Olympiasieger und vierfacher Weltmeister, oder der zweimalige Olympiadritte und zweifache Weltmeister Stefan Botev aus Bulgarien das Hebertrikot des Dorfklubs überstreiften.
Nicht unwesentlich dazu beigetragen, Gewichtheben mächtig in Verruf zu bringen, hat das weltweit grassierede Doping. Aufgrund ihrer Natur ist die Sportart für die Einnahme unerlaubter Mittel besonders anfällig. In einigen Ecken des Erdballs schlucken die schweren Jungs auf Teufel komm raus, alles, was Muskeln anschwellen lässt. Ganze Nationalteams wurden in den zurückliegenden Jahren gesperrt. Geholfen hat es wenig. Nur ein Beispiel: 2016 war bekanntgeworden, dass nahezu die Hälfte der positiven Doping-Nachtests der Olympischen Spiele von Peking 2008 und London 2012 aus dem Gewichtheben stammen. Das IOC hatte den Schwerathleten zwischenzeitlich sogar schon gedroht, eine der traditionsreichsten Sportarten überhaupt aus dem olympischen Programm zu streichen. Bei den jüngsten Weltmeisterschaften 2017 in den USA glänzte knapp ein Dutzend Länder durch Abwesenheit. Schnöder Grund: Sie waren komplett gesperrt.
„Es ist traurig zu sehen, wie diese Staaten unseren Sport regelmäßig in den Dreck ziehen“, sagt Weber dazu. Obwohl auch einige seiner ausländischen Gaststarter in den vergangenen Jahren wegen des Gebrauchs unerlaubter Mittel sanktioniert wurden. „Wichtig ist mir allerdings, darauf hinzuweisen, dass dies nie bei Wettkämpfen geschehen ist, bei dem diese Sportler für Samswegen angetreten sind.“
Fakt bleibt, Gewichtheben besitzt derzeit nicht den allerbesten Leumund. Selbst wenn der Olympiasieg von Matthias Steiner 2008 in Peking und dessen zu Herzen gehende Lebensgeschichte der Sportart hierzulande zwischenzeitlich wieder positive Schlagzeilen bescherte. Die Zahl der Mitglieder geht systematisch zurück. Wurden in Deutschland nach der Wende noch 38.659 in 385 Vereinen gezählt, halbierte sich deren Zahl in den folgenden 25 Jahren nahezu. 2014 registrierte der Verband nur noch 20.000 Mitglieder in 230 Vereinen.
Zaghafte Versuche, die Sportart vor allem für TV und Zuschauer attraktiver zu machen, hat es gegeben. So wurden die Steigerungsraten bei den Gewichten variiert, um die Wettbewerbe insgesamt spannender zu machen. Es ist nicht bekannt, dass die Zuschauer daraufhin die Hallen gestürmt hätten. Andere, vor allem von privaten TV-Sendern inszenierte Show-Einlagen wie das Ziehen von Bussen oder Lkw oder, im Osten gern genommen, das Stemmen von Trabis erwiesen sich eher als Rohrkrepierer denn als Publikumsmagneten. Selbst der Auftritt einer Stripperin mitten in einem Wettkampf, wie zu Beginn der neunziger Jahre einmal in Samswegen praktiziert, brachte dem Verein wenig Zulauf und erst recht keine Ehre – eine Verwarnung des Verbandes gab es gleich noch obendrauf. Aus dem Stadium einer Randsportart sind die schweren Jungs jedenfalls nie herausgekommen. Umso höher sind die Bemühungen der Eisen-Enthusiasten in der Börde und ihrer etwa fünf Dutzend Sponsoren anzusehen, allen obwaltenden Schwierigkeiten immer wieder zu trotzen und Gewichtheben als Sport – darauf liegt die Betonung – am Leben zu erhalten. Höhepunkte wie die Finalrunde am 28. April können da nur helfen. Und eines wird auf jeden Fall bleiben: Es ist weit und breit niemand auszumachen, der Samswegen den ebenso griffigen wie Aufmerksamkeit erheischenden Titel „Stärkstes Dorf der Welt“ streitig machen könnte. Rudi Bartlitz
Kompakt
Sieger beim Gewichtheben ist, wer in einer bestimmten Gewichtsklasse die größte Last zur Hochstrecke bringt. Ausgetragen werden heute nur noch die beiden Disziplinen Reißen und Stoßen; das Drücken wurde nach 1972 eliminiert. Jeder Heber hat zweimal drei Versuche. Gezählt wird jeweils nur jener gelungene Versuch mit der schwersten Last. Aus Reißen und Stoßen wird das Zweikampfergebnis errechnet. Die Versuche werden auf einer 4×4 Meter großen Plattform durchgeführt. Beim Verlassen der Plattform während des Versuchs wird dieser ungültig. Als Sportart entstand Gewichtheben Ende des 19. Jahrhunderts. Ab 1880 wurden die ersten Vereine für Schwerathletik gegründet, der Deutsche Athletik-Sportverband dann 1891. Seit jenem Jahr finden auch Weltmeisterschaften statt. Seit 1896 ist das Gewichtheben – mit Unterbrechungen – Teil der Olympischen Spiele. Bei Olympia werden Einzeldisziplinen nicht gewertet. Seit 1987 gibt es Weltmeisterschaften für Frauen.