Mit Telemann in die zweite Liga

Alte Melodie und neuer Text – die Magdeburger Fußball-Fans wollen in einem ungewöhnlichen Projekt die Musik des großen Barockkomponisten ins Stadion tragen.
Dass in der Magdeburger Fußball-Arena bei Auftritten des heimischen FCM die Stimmung so richtig hochkocht, eine für die dritte Liga unvergleichliche Atmosphäre herrscht, dies muss man keinem mehr näher erklären. Das hat sich mittlerweile in ganz Deutschland herumgesprochen. Ebenso die Kreativität der hiesigen Fan-Szene. Doch damit nicht genug. Was derzeit hinter den Kulissen geplant wird, sucht in der deutschen Kicker-Szene bisher wahrlich seinesgleichen.
Sollte man es auf einen kurzen Nenner bringen, könnte es mit diesen Worten umrissen werden: Fußball meets Barock.  Hintergrund ist der 250. Todestag des in Magdeburg geborenen Komponisten Georg Philipp Telemann, der in der Landeshauptstadt  mit einem Festjahr begangen wird, der „Telemania 2017“.
Wer die auf den ersten Blick schier tollkühne Idee hatte, Telemannsche Barockmusik im Stadion von einem mehrtausendfachen Fan-Chor, der eigentlich auf ganz anderes Liedgut eingestimmt ist, erklingen zu lassen, lässt sich im Nachhinein gar nicht so leicht ergründen. Der Vorsitzende des FCM-Fanrats, Dirk Heidicke (52), im Hauptberuf Hausautor der Magdeburger Kammerspiele, erinnert sich: „Telemania-Intendant Marco Reiß trat irgendwann an mich heran und fragte, ob ich mir, da ich ja gute Beziehungen zu den Fans hätte, so etwas vorstellen könnte. Klar, sagte ich, vorstellen kann man sich viel.“ Doch ob gerade die in vielen Kreisen wegen ihrer Radikalität nicht unumstrittenen Ultras da mitmachen würden, blieb zunächst offen. Heidicke: „Nur wenn sie das Vorhaben akzeptieren und mittragen, kann es funktionieren.“
Inzwischen hat der Theatermann genügend
Signale empfangen, auch und vor allem aus den Reihen der Ultras, die ihn optimistisch sagen lassen. „Ja, ich glaube, das wird etwas.“ Entgegen kommt ihm dabei der Stolz der Ultras auf ihre Stadt: „Sie sind sehr lokalpatriotisch und lassen auf Magdeburg nichts kommen. Der Idee des Projektes stehen sie vor allem deshalb aufgeschlossen gegenüber, da sie damit in Magdeburg etwas Besonderes hätten.“ Etwas, so lässt sich folgern, was die (ungeliebte) Konkurrenz in Halle und Leipzig eben nicht hat. Heidicke: „Denn weder die Melodien von Händel noch von Bach, den beiden großen Komponisten dieser Städte,  werden dort in die Stadien getragen.“ Und genau diese Einzigartigkeit ist es, weiß der Mann, der seit fünf Jahren an der Spitze des FCM-Fanrats steht, „worauf die kreative Ultra-Szene bei der Gestaltung ihrer Repertoires immer achtet.“
Auserkoren für die Stadion-Aufführung wurde Telemanns sogenannte Kapitänsmusik, die er  1738 zu Papier gebracht hatte. Heidicke schreibt nun für das „Freudelied beim Capitäns-Convivium“ – einem Aufruf zu vereintem Handeln gegen Zank und Zwietracht – einen zeitgemäßen neuen Text, der sich um Magdeburg drehen wird. Aber ist Barockmusik für einen tausendstimmigen Laienchor nicht doch zu schwierig? Heidicke schüttelt mit dem Kopf: „Das Lied ist kaum länger als eine Minute und besitzt, wie ich denke, eine eingängige Melodie. Die kann jeder mitsingen.“
In der Vorbereitung stecken dennoch einige Unwägbarkeiten. „Ich glaube nicht, dass es im Vorfeld gelingt, die 3000 bis 4000 Leute, die die Hymne später singen sollen, zu Proben zusammen zu bekommen“, so Heidicke, der einst selbst dem Ball hinterherjagte und es in der Dynamo-Auswahl immerhin zu einem Spiel an der Seite von Ex-Nationalspieler Andreas Thom brachte. Es ist deshalb angedacht, den Text zuvor im Internet („Da kann jeder daheim für sich schon mal üben“) und später im Stadionheft zu veröffentlichen. Musikalisch ist Heidickes Sohn Jascha, Musiker durch und durch, derzeit dabei, auf dem Keyboard Stimme für Stimme einzeln einzuspielen – sodass am Ende ein virtueller Orchestersound entsteht.  Mehr noch: Kammersängerin Undine Dreißig und Chansonsängerin Susanne Bard bringen sich ebenfalls  in das ungewöhnliche Projekt ein und werden den Stadion-Chor unterstützen.
Noch offen ist allerdings der Tag der großen Premiere. Heidicke zögernd: „Wir stecken mitten in den mitunter nicht einfachen Vorbereitungen. Vor Mai wird es also kaum werden.“ Und da in diesem Monat zugleich die Saison endet, spricht eigentlich vieles für die letzte Partie – am 20. Mai gegen die Sportfreunde Lotte. Was für ein Datum!
Was für eine Gelegenheit, möglicherweise! An diesem Tag  könnte eben nicht nur erstmals Telemannsche Barockmusik, interpretiert von einem mehrtausendstimmigen Fan-Chor, in einem Fußballstadion die Luft zum Vibrieren bringen. Nein, dann könnte der 1. FC Magdeburg, sozusagen auf einem einzigartigen Klangteppich wandelnd, eine erneut aufsehenerregende Saison mit dem Aufstieg in die zweite Liga krönen. Rudi Bartlitz


Fangesänge

Fangesänge im Stadion sind zwar nicht so alt wie der Fußball selbst, aber ohne sie ist das Spiel mit der runden Kugel inzwischen kaum mehr denkbar. Und so, wie die Jagd nach dem (einstigen) Lederball – wie wir sie heute kennen – ihren Ursprung auf den britischen Inseln hatte, waren auch die ersten Gesänge der Fans in den Stadien von London, Manchester und Liverpool zu vernehmen. England gilt mithin als Wiege des Fangesangs, und das Gesangsrepertoire ist bei vielen Clubs beachtlich. Im Gegensatz zu anderen Ländern handelt es sich im englischen Fußball zumeist tatsächlich um Gesänge mit Inhalt, nicht um stupide und monotone Schalalala-Marathone.
Das heute weltweit berühmteste Fan-Lied ist zweifelsohne der ehemalige englische Chart-Hit „You’ll Never Walk Alone“. Dreimal stand der Song, der 1963 von der Liverpooler Band Gerry & Pacemakers produziert wurde, auf Platz 1 in den britischen Hitparaden. Seine Uraufführung erlebte der Song allerdings 18 Jahre früher. Am 1. Mai 1945 hatte Frank Sinatra die erste Single-Version des ursprünglichen Musical-Songs aufgenommen.  
Dass „You‘ll Never Walk Alone“ zum Lied im Liverpooler Fan-Block The Kop wurde, hatte der Legende nach den Grund, dass vor einem Spiel die Soundanlage des Stadions an der Anfield Road ausfiel, während der Song lief. Der Fan-Block intonierte das Lied daraufhin selbst. Seit diesem Tag wird vor Spielbeginn in Liverpool das Lied vom Publikum angestimmt, als eine Art Hymne des Vereins. Seit der Hillsborough-Katastrophe 1989, bei der 96 Liverpool-Fans ums Leben kamen, steht in Anlehnung an den Song der Schriftzug „You'll Never Walk Alone“ im Vereinswappen des FC Liverpool.
Fangesänge gibt es mittlerweile in vielen Stadien rund um den Erdball. In Deutschland lebten sie vor allem nach der Gründung der Bundesliga (1963) auf. Mit 202 Liedern haben die Fans von Borussia Mönchengladbach inoffiziellen Erhebungen zufolge die meisten eigenen Lieder im Repertoire. Es folgen Schalke 04 (182) und Borussia Dortmund (151). Beim 1. FC Magdeburg werden vor jedem Heimspiel das „Magdeburger Lied“ und „Heja, heja – wir sind vom FCM“ angestimmt.
Die „Produktion“ von Fan-Liedern ist kein ein für alle Male abgeschlossener Prozess. Ständig liefert die kreative Szene neue Lieder. So wurde bei der Europameisterschaft 2016 der nordirische Gassenhauer „Will Grigg’s On Fire“ innerhalb weniger Tage zu einem Song, den ganz Fußball-Europa kannte. Die Ode (zur Melodie von „Freed from Desire“ der Gruppe Gala), die dem eigentlich ziemlich erfolglosen Nationalspieler Will Grigg gewidmet ist, geht so herrlich über die Lippen, dass bei Nordirlands Spielen sogar die Fans des Gegners inbrünstig mitsingen.
Ähnlich verhält es sich mit dem EM-Schlachtgesang der Isländer, der überall auf dem Kontinent seine Nachahmer fand. Nach Siegen gehen die Spieler des kleinen Inselstaates zu ihrer Fankurve. Dort breiten sie ihre Arme zum Klatschen aus. Die eindrucksvolle Choreografie wird durch einen "Huh"-Ausruf verstärkt. Das Ganze hört sich an wie ein Relikt aus vergangenen Wikinger-Zeiten.

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