Hetzjagden auf dem Rasen
Dem großen deutschen Kicker-Philosophen Lothar Matthäus wird folgender Satz zugeschrieben: „Schiedsrichter kommt für mich nicht in Frage, schon eher etwas, dass mit Fußball zu tun hat“. Ob gewollt oder nicht, der Rekord-Nationalspieler bestätigt damit einen weitverbreiteten Vorbehalt, der sich, scheinbar unausrottbar, ziemlich tief in der Gesellschaft eingegraben hat: Fußball und die Männer mit der Pfeife – in diesem Verhältnis stimmt irgendetwas nicht, das ist so etwas wie ein Widerspruch in sich. Deshalb Vorsicht vor Referees!
Wären es doch nur Vorbehalte wie diese, möchte man angesichts jüngster Nachrichten von deutschen Rasenplätzen ausrufen! Was sich da zuletzt wieder Wochenende für Wochenende ereignete, muss die Alarmglocken in schrillen Tönen klingen lassen. Wahre Hetzjagden auf Unparteiische werden gemeldet, in den Lokalteilen der Zeitungen sind die schockierenden Bilder teils zu besichtigen. In der Spielzeit 2018/19 wurden bei den Amateuren 685 Begegnungen abgebrochen. Insgesamt wurden 2906 Schiedsrichter körperlich oder verbal angegriffen. Die restlichen gut 1,3 Millionen Partien sind laut DFB jedoch friedlich verlaufen. Es gilt als sicher, dass die Dunkelziffer weit höher ist. Weil die Opfer schweigen. Oft aus Angst.
Der dramatischste Übergriff in diesem Jahr: Im hessischen Dieburg wurde Ende Oktober ein 22-jähriger Schiedsrichter, der zuvor einem Spieler Rot gezeigt hatte, durch einen Faustschlag derart niedergestreckt, dass er bewusstlos mit einem Rettungshubschrauber ins Krankenhaus geflogen werden muss-te. Da die Attacke von grober Brutalität war und im Video festgehalten wurde, fand sie sogar Einzug in die Hauptnachrichtensendungen der großen TV-Anstalten. Der Täter Hayri G. wurde aus dem Verein (FSV Münster) ausgeschlossen, die Mannschaft zurückgezogen.
Der Vater des Attackierten wurde später grundsätzlich. Er umriss in einem einzigen Satz die beklagenswerten Zustände, die im deutschen Fußball nun schon seit Jahren von der C-Klasse bis zur Bundesliga gegenüber Unparteiischen herrschen: „Der Schiedsrichter muss wieder eine Respektsperson sein.“ Aber das sind Schiedsrichter weder für Fußballschläger aus den untersten Klasse noch für viele Fußball-Millionäre in der Eliteliga, die sich in jedem Spiel nach Entscheidungen, die ihnen nicht gefallen, aggressiv vor Schiedsrichtern aufbauen. Da muss man sich nicht wundern, welche Haltung sie damit verbreiten. In anderen Sportarten wie Handball oder Hockey sind solche alltäglichen Rüpeleien gegenüber Schiedsrichtern keineswegs verbreitet. Auch im englischen Fußball herrscht ein erkennbar respektvolleres Verhältnis gegenüber Schiedsrichtern.
Es mag ein zeitlicher Zufall mit dem Zwischenfall in der hessischen Provinz gewesen sein, einer in der Sache war es nicht, warum fast parallel dazu Schiedsrichter in Berlin in den Ausstand traten. Rund 1600 Partien fielen aus. Die Unparteiischen der Hauptstadt hatten in erster Linie wegen der zunehmenden Gewalt gestreikt, der sie sich weitgehend schutzlos ausgesetzt fühlen. Aber auch wegen der Unfähigkeit der Verbände, entschieden und erfolgreich gegen die seit Jahren zunehmende Verrohung und die daraus resultierende Gewalt auf den Plätzen vorzugehen. Auch die saarländischen Schiedsrichter hatten deswegen schon gestreikt. Es handelt sich also offenbar um kein lokales Phänomen, sondern eher um ein bundesweites Problem des Fußballs. „Das ist ein starkes Zeichen für die Verrohung in unserer Gesellschaft“, stellte der für den Sport zuständige Innenminister Horst Seehofer fest, „die mittlerweile auch im Sport sehr um sich greift.“ Zuvor war oft bereits der Respekt gegenüber anderen Funktionsträgern verloren gegangen: Rettungsmänner, Polizisten oder Feuerwehrleuten.
Der von den Hessen-Vorkommnissen aufgeschreckte DFB sieht auch den Staat stärker in der Pflicht: „Gefragt ist nicht nur die Sportgerichtsbarkeit, sondern vor allem Polizei, Justiz und auch die Politik. Fußballplätze sind keine rechtsfreien Räume“, hieß es. Und weiter: „Von den Staatsanwaltschaften und der Polizei wünschen wir uns mitunter einen größeren Ermittlungseifer, wenn es um Straftaten auf dem Fußballplatz geht.“
Aber Quasi-Bodyguards an der Seite der Schiedsrichter, wie es in den zurückliegenden Tagen aus Berlin gemeldet wurde? Das kann nun wirklich nicht der Weisheit letzter Schluss sein; außerdem wäre es nicht zu finanzieren. Als Allheilmittel taugt leider eben so wenig das Beispiel des Güney Artak aus dem niedersächsischen Langenhagen. Als der 30-Jährige vor drei Jahren immer wieder von Gewalt-attacken auf Unparteiische las, beschloss er, selbst Spiele zu pfeifen. „Ich habe“, sagte er der „FAZ“, „so viel Schlechtes gehört, da habe ich gedacht: Jetzt muss ich handeln.“ Und siehe da: Immer dort, wo der schon von seiner Gestalt her furchteinflößende Kurde eingesetzt wurde, gab es kaum noch Auswüchse. Seither wird der WBU-Weltmeister im Kickboxen meist für Partien nominiert, die als besonders konfliktreich angesehen werden. Mit dem Mann, der im Ring den Kampfnamen „Das Biest“ trägt, will sich kaum einer auf dem Rasen anlegen. Da sind die Rüpel plötzlich lammfromm und kleinlaut. Eigentlich schade, dass nicht alle deutschen Schiedsrichter aussehen wie Artak. Rudi Bartlitz
„Fußball ist nicht die Quelle“
KOMPAKT-Interview mit dem Geschäftsführer des Fußball-Landesverbandes Sachsen-Anhalt, Christian Reinhardt.
Herr Reinhardt, sind Vorfälle wie die in Dieburg in Sachsen-Anhalt auszuschließen?
Christian Reinhardt: Auszuschließen ist nichts. Zum Glück mussten wir uns aber mit solchen brutalen Ausfällen wie in Hessen noch nicht beschäftigen. Um es auch klar zu formulieren: Als Fußballverband stehen wir für Fairplay und verurteilen jegliche Form von Gewalt sowie übertriebener Härte. Wir sind sehr froh, dass es solche brutalen Fälle bei uns im Landesverband nicht gibt. Wenn ich aber die gesellschaftliche Entwicklung in Deutschland insgesamt betrachte, werde ich schon nachdenklich und muss wohl hinzufügen: Das gibt es noch nicht.
Wie meinen Sie das?
Ich meine, derartige Gewaltakte entstehen nicht im Fußball, und der Fußball als Sport ist nicht ihre Quelle. Auf den Fußballfeldern manifestiert sich diese Gewalt nur.
Die logische Konsequenz kann doch da nur lauten: Den Anfängen wehren, gegensteuern, präventiv sein, oder?
Richtig, und das tun wir auch. Zusammen mit dem Landessportbund haben wir seit Jahren ein Programm dafür, es nennt sich „MUT“. Es steht für drei Worte: Mut Und Toleranz. Ausgebildete Trainer beschäftigen sich in diesem Programm eingehend mit Spielern, die auf dem Feld über die Stränge geschlagen haben oder Wiederholungstäter sind. Die Spieler, mit denen wir so arbeiten, stehen danach signifikant seltener erneut vor dem Sportgericht, als Spieler, die einfache Sperrstrafen erhalten. Pro Kreisverband gibt es bei uns mindestens einen dieser „MUT“-Trainer.
Was halten Sie von drastischen Strafen, im Extremfall auf Lebenszeit, wie sie nach Dieburg von verschiedenen Seiten gefordert werden?
Nicht viel, weil man nach meiner Überzeugung mit Sperren, und mögen sie noch so lang sein, keine Verhaltensänderung erreicht. Ein Ausschluss kann wirklich nur das allerletzte Mittel sein. Man muss mit den Leuten arbeiten. Denn wenn man sich mit ihnen näher beschäftigt, merkt man, die wenigsten von ihnen wollen im Sinne des Wortes Täter sein.
Nun besitzt das Schiedsrichteramt, egal wo in Deutschland, gewiss nicht den besten Leumund. Sie werden beschimpft und verleumdet. Resultat: Den Verbänden laufen die Referees weg, beziehungsweise wollen zu wenige überhaupt die Pfeife in den Mund nehmen. Wie stellt sich das in Sachsen-Anhalt dar?
Es ist ein Ehrenamt und wird leider – wie die meis-ten Ehrenämter - zu wenig geschätzt, auch bei uns. Wir haben 1.446 aktive Referees im Land, benötigen aber mindestens 2.000. Ursachen gibt es viele. Der demografische Wandel erschwert die Situation zusätzlich. Wir rekrutieren ohnehin aus einer geringeren Population und im Alter von 18 oder 19, wenn für viele Schiedsrichter ein neuer Lebensabschnitt beginnt, verlassen immer noch viele unserer Schiedsrichter Sachsen-Anhalt. Ein neues Phänomen ist der Mangel an Unparteiischen dennoch nicht, darüber haben wir schon vor 30 Jahren geklagt.
Hat man sich also damit abgefunden?
Nein, natürlich nicht. Wir sind in diesem Sommer einen neuen Weg gegangen und haben sogenannte Junior-Schiedsrichter ausgebildet. Auf der Basis einer Untersuchung, die wir mit der Hochschule Harz durchgeführt haben, wurde ein spezielles Curriculum für diese Zielgruppe entwickelt und gemeinsam mit der ÖSA haben wir diese neue Ausbildungsform mit einem Pilot-Lehrgang auf die Beine gestellt. Das heißt, junge Leute zwischen 13 und 22 Jahren haben in den Schulferien einen Lehrgang absolviert. Am Ende hatten wir 36 neue Referees, die nun über ein Patensystem von erfahreneren Schiedsrichtern bei ihren ersten Spielen betreut und begleitet werden.
Fragen: Rudi Bartlitz