Eine Sache unter Erzrivalen
SC Magdeburg gegen Füchse Berlin – das ist inzwischen eines der am heftigsten umkämpften Duelle im deutschen Handball. Über die Geschichte eines Derbys. Konkurrenz ist eine Ureigenschaft des Sports. Rivalität geht noch darüber hinaus. Sie macht im Sport genau das aus, was die Leibesübungen von anderen gesellschaftlichen Bereichen abgrenzt. Gerade diese Rivalität lässt das Kräftemessen in Stadien und Hallen für viele Betrachter so einmalig erscheinen, verkörpert den speziellen Reiz des Sports. Noch interessanter wird es, wenn sich diese Rivalität auf bestimmte Klubs, Städte oder Regionen fokussiert. Die Rede ist dann von Derbys. Und von deren einzigartigem Charakter.
Nun kennt die Geschichte der Körperkultur zahlreiche solcher Derbys – mittlerweile werden auch wiederkehrende Auseinandersetzungen berühmter Einzelsportler (etwa Armstrong gegen Ullrich, Senna gegen Prost, Becker gegen Stich, Kasparow gegen Karpow) hier eingereiht. Im Fußball sind es Begegnungen wie zwischen Deutschland und England, Schalke und Dortmund, Manchester United und Manchester City oder Real Madrid und FC Barcelona. Im deutschen Handball wiederum verkörpert das Duell zwischen Kiel und Flensburg seit eh und je so etwas wie die Mutter aller Derbys. Doch nicht Traditionen allein kennzeichnen Orts- und Regionalduelle: Mit dem Aufeinandertreffen zwischen dem SC Magdeburg und den Füchsen Berlin ist in Deutschlands Mannschaftssportart Nummer zwei seit etwa einem Jahrzehnt ein neues hinzugekommen – das Ost-Derby.
Gerade erst in der vergangenen Woche schlugen die Wogen wieder richtig hoch. Die Füchse empfingen den SCM im Pokalviertelfinale. Mit einem Erfolg über den Erzrivalen wollten sich beide für das Final-Four-Finalturnier in Hamburg um den deutschen Pokal qualifizieren. Der Ausgang ist bekannt, die Magdeburger triumphierten am Ende in einer erneut dramatischen Partie 30:29. Wie ausgeglichen es zwischen ihnen hergeht, zeigt ein Blick in die Statistik dieser Saison: Jeder siegte einmal, hinzu kommt ein Remis.
Es gehört zur Konstellation dieses Ost-Derbys – und das unterscheidet es grundsätzlich von ähnlichen Traditionspaarungen –, dass sich hier zwei Mannschaften begegnen, deren Ausgangslage nicht unterschiedlicher beschrieben werden könnte. Quasi David gegen Goliath. Hier die sieggewohnten Magdeburger, die seit nunmehr über 50 Jahren in der jeweiligen höchsten Spielklasse (erst DDR-Oberliga, heute Bundesliga) fast immer ganz oben mitmischten, 30 Titel holten. Und die als erster deutscher Verein 2002 sogar die Champions League gewannen, das Nonplusultra des Welt-Klubhandballs.
Dort die Füchse, die erst 2007 überhaupt den Schritt in die oberste deutsche Klasse schafften, dann aber geradezu einen Raketenstart hinlegten. Schon in ihrem dritten Jahr in der Eliteliga entwickelten sie sich zu einem Spitzenteam. 2011 qualifizierte sich die Mannschaft mit dem dritten Meisterschaftsplatz zum ersten Mal für die Champions League, in der man auf Anhieb das Final Four erreichte. Auch in der Spielzeit 2011/12 standen die Füchse am Ende auf dem dritten Tabellenplatz und qualifizierten sich erneut für die Champions League. Es sollte noch besser kommen: Zwischen 2014 und 2016 wurden der DHB-Pokal, der EHF-Cup und zweimal die Klubweltmeisterschaft in die Hauptstadt geholt.
Ebenso frappierend liest sich die Bilanz der Füchse gegen den SCM. Anfangs von manchen an der Elbe noch mildtätig belächelt oder gar verspottet („Haha, wollen die arroganten Berliner uns etwa zeigen, was Handball ist?“), gewann der einstige Nobody von den bisher insgesamt 25 Aufeinandertreffen in Meisterschaft und Pokal immerhin knapp zwei Drittel. 14 Siegen stehen sieben Niederlagen gegenüber, viermal trennt man sich unentschieden. Es schmerzte den eingefleischten Fan der Grün-Roten schon, immer wieder ausgerechnet gegen die Berliner den Kürzeren zu ziehen.
Wirtschaftliche Argumente – wie: die Hauptstadt ist eh reicher – können dafür allein nicht herhalten. Immerhin müssen sich die Berliner gegen starke und populäre Konkurrenz in den Mannschaftsportarten behaupten (Hertha BSC – Fußball-Bundesliga, Eisbären – DEL/Eishockey, Alba – Basketball-Bundesliga). Aktuelle Etatzahlen für 2017/18 sind nicht zu bekommen, der SCM nennt sie bewusst nicht, weil die Zahlen der einzelnen Vereine laut Geschäftsführer Marc Schmedt nicht miteinander vergleichbar seien. Er schätze, sagt er, sein Klub rangiere in der Bundesliga wirtschaftlich auf dem fünften oder sechsten Rang. Es ist davon auszugehen, dass sich beide Klubs derzeit etwa auf demselben Level bewegen. Das dürfte, schätzungsweise, irgendwo zwischen fünf und sechs Millionen Euro angesiedelt sein.
Schnell war ebenso klar: Immer, wenn beide Teams aufeinandertrafen, ging es hoch her – auf der Platte wie auf den Rängen. Der Zuschauerzuspruch ist überragend, in beiden Städten. Beim Pokalspiel vergangene Woche meldete die Berliner Schmeling-Halle mit knapp 9.000 Besuchern: ausverkauft. Darunter vielleicht knapp 1.000 aus Magdeburg. Da die Heimstätten der Kontrahenten kaum mehr als 150 Kilometer voneinander entfernt liegen und das Publikum recht schnell die Rivalität aufgenommen hatte, waren die Ingredienzien für echte Derbys bald zur Hand. „So richtig los ging es mit der Rivalität zwischen Magdeburg und Berlin“, meinte Ex-SCM-Ikone Stefan Kretzschmar dieser Tage, „als die Berliner uns 2009 Silvio Heinevetter weggekauft haben.“ Ausgerechnet Heinevetter, den Nationaltorhüter.
Doch Rivalität unter Erzrivalen lässt sie keineswegs auf nur negative Seiten reduzieren. Im Gegenteil. Sie ist Teil der Kultur und der Identität eines Vereins. Deren Anhänger, so fanden Wissenschaftler der Deutschen Sporthochschule in Köln in umfangreichen empirischen Studien heraus, definieren sich nicht nur darüber, wer sie sind, sondern insbesondere auch darüber, wer sie nicht sind. Das stärke unter anderem das Gemeinschaftsgefühl. Gute Nachrichten also für Vereine, die einen Erzrivalen haben. Schwieriger wird es für solche Klubs, bei denen unklar ist, wer eigentlich der Erzrivale ist. Oder ob es überhaupt einen gibt.
In unseren Studien, sagen die Kölner Wissenschaftler weiter, empfanden Fans, die keinen Erzrivalen angeben konnten, ein signifikant schwächeres Gemeinschaftsgefühl ihrer Gruppe, weniger Besonderheit und auch weniger Ansehen bei anderen Fangruppen als Anhänger, die einen Erzrivalen identifizieren konnten. Trotz gegenseitiger Abneigung wollen beispielsweise 80 Prozent von befragten Fußball-Fans nicht, dass der Erzrivale absteigt. Diese Aussage lässt sich sicher mit ein paar kleineren Abweichungen auf den Handball übertragen. Der Erzrivale ist einfach zu wichtig für die eigene Identität, und zu amüsant sind wahrscheinlich die gegenseitigen Frotzeleien. „Erzrivalen sind keine Freunde“, resümieren die Gelehrten, „aber auch nicht wirklich Feinde.“
Wer die Geschichte der Rivalität zwischen den Füchsen und dem SCM erzählen will, kommt an zwei Männern nicht vorbei, die sich einst im Westen der Republik aufmachten, im Ost-Handball für Furore zu sorgen. Hier der Rheinländer Schmedt, dort Hans Robert Hanning, der Junge aus dem Ruhrpott, den sie alle nur Bob nennen. Schmedt, von Hause aus kein Handballer, kam nach einer Banklehre 1991 nach Magdeburg. Er arbeitete zunächst bei einer Privatbank und wechselte später zur Investitionsbank Sachsen-Anhalt. Seit 2010 ist er Geschäftsführer bei den ausgegliederten Handballern des SC Magdeburg. Es war eine schwierige Zeit damals. Finanzielle Verfehlungen der Vergangenheit drückten den Verein. Das Negativkapital belief sich auf 1,1 Millionen Euro. An sportliche Höhenflüge war zunächst kaum zu denken. Es gehörte zu den ersten Aktionen Schmedts und seiner Mitstreiter, den am US-amerikanischen Profigeschäft orientierten Kampfnamen des SCM (Gladiators) wieder abzulegen. „Wir wollen zurück zu den Wurzeln.“
Dort sind sie, vor allem sportlich, längst wieder angekommen, wurden deutscher Pokalsieger 2016, mischen in der Liga, mit Ausnahmen, ziemlich weit oben mit, qualifizierten sich mehrfach für den EHF-Cup. Höhepunkt in diesem Jahr wird an den Pfingsttagen das EHF-Pokal-Finale sein, das Schmedt erstmals nach Magdeburg geholt hat. Und noch ein weiterer Höhepunkt im Leben des 48-Jährigen steht an: Er und seine Frau Sandra erwarten in diesen Tagen die Geburt ihres ersten Kindes. Er will auf jeden Fall dabei sein, hat alle Reisen zu Spielen vorerst gestrichen: „Das besitzt absolute Priorität.“
Wegen seiner Größe (168 Zentimeter) und einer teils unorthodoxen wie forschen Herangehensweise an bestimmte Dinge des Handballs handelte sich Hanning den Spitznamen „Napoleon“ ein. Als französischer Kaiser drapiert posierte er sogar vor Fotografen. Bekannt geworden war er vor seiner Berliner Zeit als Trainer. Unter anderem coachte er Solingen und den HSV Hamburg, unter Heiner Brandt arbeitete er zeitweise als „Co“ der Nationalmannschaft. Er ist also durchaus ein Mann vom Fach. Als er 2005 nach Berlin kam, schien dort niemand mehr bereit, Spitzenhandball fördern zu wollen. Multitalent Hanning sah das als Herausforderung. Er sagte sich: Wenn ich nach Berlin gehe, dann, um ein Team in die Erste Bundesliga zu führen. 15 Jahre hatte die Stadt keinen Handball-Erstligisten mehr gehabt. „Du bist bekloppt“, kommentierten Freunde seine Pläne. Heute ist der 50-jährige Vizepräsident des Deutschen Handball Bundes (DHB) und unter den 100 wichtigsten Köpfen des hiesigen Handballs unbestritten die Nummer eins. Seitdem Hanning „mit der ehemaligen Sprint-Weltmeisterin Katrin Krabbe liiert ist“, schrieb der „Spiegel“, sei er „sogar für den Berliner Boulevard eine Größe geworden“.
Hanning wäre jedoch nicht Hanning, wäre da nicht noch eine andere Geschichte. Er führte Füchse-Geldgeber DKB-Bank, so das Hamburger Nachrichtenmagazin, auch dem DHB als Sponsor der Nationalmannschaft zu. In der Bundesliga stieg das Kreditinstitut als Namensgeber ein. Dafür gibt es von der Liga seit 2012 jährlich eine stolze Vermittlungsgebühr von gut 198.000 Euro. Empfänger der Summe: Bob Hanning. Selbst wenn das Geschäft nicht mit den Regeln und Statuten von DHB und Liga kollidiere, wie die Dachverbände übereinstimmend betonen, bleibt laut „Spiegel“ die Frage, ob ein ehrenamtlich Tätiger (wie Hanning es 2012 war) das Geld in Empfang nehmen durfte – und weiter darf. Wie auch immer, ein Geschmäckle hat die Geschichte allemal. Rudi Bartlitz