Ein Radrennen und der Frieden

Horst Schäfer, Gründer des Friedensfahrtmuseums in Kleinmühlingen. Foto: Holger Sieglitz

Wie im Bördedörfchen Kleinmühlingen versucht wird, die Erinnerungen an ein einst monumentales Sportereignis wachzuhalten.

Der ockerfarbene Bau mit dem ein wenig futuristisch anmutenden steilen Schrägdach und der blau-weißen Eingangspforte will auf den ersten Blick nicht so recht in die ländliche Idylle dieses kleinen Bördedorfes passen. Zumal auch der Seitenflügel mit einer riesigen Wandmalerei versehen ist. Nein, kein Graffiti. Eine Schar wild in die Pedale tretender Radrennfahrer ist zu sehen, daneben ein Monster-Konterfei von Täve Schur. Spätestens hier ahnt es der Unkundige, und der Kundige weiß es natürlich: Ja, das ist es, das Friedensfahrt-Museum.

Eine Einrichtung, die das weithin unbekannte Dörfchen Kleinmühlingen, südlich von Schönebeck, im vergangenen Jahrzehnt bekanntgemacht hat. Ein Museum, das es so nicht noch mal in Europa gibt. Auch deshalb, weil es versucht, die Erinnerung wachzuhalten an ein im früheren Ostblock bedeutsames Sportereignis, die Radfernfahrt Prag-Berlin-Warschau. Besser bekannt als Friedensfahrt. In der DDR ist sie nach Olympia und dem Fußball vielleicht das Wichtigste, was der Sportkalender hergibt. Millionen pilgern beim größten und härtesten Amateur-Etappenrennen der Welt an die Strecke, jubeln den Akteuren zu. Und dies keineswegs, wie Kritiker immer noch steif und fest wissen wollen, weil sie dazu von Partei und Staat genötigt oder gar gezwungen werden.

Alljährlich im Mai, dem einst traditionellen Termin der Friedensfahrt, rückt der 600-Seelen-Ort wieder in den Blickpunkt – obwohl das letzte Kapitel der Tour im Jahr 2006 vorerst für immer zugeschlagen wird. Dann hat ein Mann wieder seine großen Auftritte, der offiziell als Leiter des Hauses firmiert: Horst Schäfer. Ein wuseliger, 1,62 Meter großer Radsport-Enthusiast, der selbst nie ein Rennen gefahren ist. Er ist derjenige, der den ersten Stein wirft. Und das in einer Gegend, die mit dem Straßenradsport bis dato rein gar nichts am Hut hat. Schäfer: „Kein bekannter Fahrer kam von hier, hier führte nicht einmal die Tour vorbei, geschweige denn dass hier ein Etappenziel gewesen wäre.“ Einzig seine Begeisterung für die Friedensfahrt (manche sagen: sein Fanatismus) sorgt dafür, dass heute hier das Museum steht. „Es ist ganz einfach unser Anliegen, die Erinnerung an die Fahrt wachzuhalten“, sagt der 65-Jährige. „Nicht mehr und nicht weniger.

Es gibt, trotz massenhafter gegenteiliger Beispiele und Behauptungen, keinen Zweifel, dass Sport, zutiefst im olympischen Sinne, der Völkerverständigung dienen kann. Auch die Friedensfahrt besitzt vor allem in ihren frühen Jahren, in der Nachkriegszeit also, ganz unbedingt diesen Sinn. Dass sie später auch für andere Ziele instrumentalisiert wird, dürfte genauso unumstritten sein. Nun könnte die Frage fast ins Gesellschaftlich-Philosophische erhoben werden: Ist das, was Schäfer und seine Freunde vom Verein „Radfreizeit, Radsportgeschichte und Friedensfahrt“ da betreiben, also Ostalgie in Reinkultur? Festgemacht am Sport? Das Werk einer Handvoll Ewiggestriger? Schäfer lächelt milde und nachsichtig: „Nichts liegt uns ferner. Wir glauben einfach, dass die nach dem Schrecken des Zweiten Weltkriegs geborene Fahrt ihre Berechtigung hatte und auch weiterhin hätte. Wir versuchen, den Gedanken des Radrennens, nämlich einen Beitrag zu Völkerverständigung und Frieden unter den Menschen zu leisten, am Leben zu erhalten. Daran kann ich nichts Verwerfliches sehen“.

Es beginnt alles mit einem Mann namens Tarek Aboul Zahab, ein Libanese. Der macht sich, allein, ohne Mannschaft, ohne Trainer, ohne Mechaniker, aus dem Nahen Osten auf, um bei ebenjener Friedensfahrt zu starten. Man schreibt das Jahr 1962. Der neunjährige Horst in Kleinmühlingen findet es toll, wie Tarek sich durchschlägt, sich mal von den Franzosen, mal von den Niederländern helfen lässt. Seine Kräfte auf den 2.400 Kilometern gut einteilt und am Ende auf einem respektablen 41. Rang landet. Ein Jahr später, die Fahrt führt durch den damaligen Bezirk Magdeburg, sitzt Schäfer am Bierer Berg auf einem Apfelbaum und jubelt dem Peloton zu. Die Tour wird ihn von nun an nie mehr loslassen.

Er beginnt sich für alles zu interessieren, was irgendwie mit der Fahrt – später oft als „Tour de France des Ostens“ bezeichnet – zusammenhängt. Dennoch sagt er heute: „Ich bin kein Sammler im hergebrachten Sinne, horte keine Zeitungsausschnitte. Und noch etwas: Wir haben noch nie etwas für Ausstellungsexemplare bezahlt. Alles, was hier zu sehen ist, sind Geschenke ans Museum oder in einigen Fällen Leihgaben.“ In den siebziger und achtziger Jahren wird Schäfer zum Edel-Fan der Tour. Im Schlepptau Ehefrau Gudrun. Sie begleiten die Fahrt, wann immer und wo immer sie können.

Dann der Bruch. Für Schäfer fühlt es sich an, als treffe ihn ein Hammerschlag. 1991 rollt die Friedensfahrt erstmals nicht durch Deutschland. Er will sie retten. Als Täve Schur aus Heyrothsberge mit anderen ein Kuratorium Friedensfahrt gründet, ist Schäfer an dessen Seite. Er soll, wird festgelegt, so etwas wie der Lordsiegelbewahrer der Tour sein. Quasi ihr Chronist. „Uns fiel ein Stein vom Herzen, als es Mitte der neunziger Jahre weiterging“, erinnert sich Gudrun Schäfer. „2002 sind wir dann in einem alten Opel-Transporter die gesamte Route mitgefahren.“

Da hat sich im Kopf ihres Mannes längst eine Idee festgegraben: Wir eröffnen in Kleinmühlingen ein Friedensfahrt-Museum. Jetzt ist er größenwahnsinnig geworden, spotten einige. Erster Standort ist ein alter Schuppen. Das platzt jedoch bald aus allen Nähten. Also wird beschlossen, ein nicht mehr bewohntes altes Haus in der Nachbarschaft zu nutzen. Aber Grund und Boden sind noch in fremder Hand und Geld ist knapp. Dennoch: 2005 wird der Grundstein für einen Neubau gelegt. Schäfer schart Gleichgesinnte um sich. Bis zur Eröffnung im November 2007 vergehen gerade mal zwei Jahre. Alles passiert ehrenamtlich. Dennoch entstehen am Ende Werte von rund einer Viertelmillion Euro.

Unternehmen vor allem aus Sachsen-Anhalt und Sachsen geben Unterstützung, selbst Firmen aus Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern engagieren sich. Sie stellen Technik, Baumaterialien oder Ausrüstungen zur Verfügung. Ein Magdeburger Architekt hilft. Sie würden dies wohl kaum tun, wenn sie damit – siehe oben – nur Wasser auf die Mühlen Ewiggestriger schütteten. Schur äußert immer nur einen Geburtstagswunsch: „Schenkt mir keine Blumen oder Ähnliches. Spendet fürs Museum.” Für Schäfer, den studierten Landwirt, der alle Fäden zusammenhält, ist es längst ein Full-Time-Job. Seit der Jahrtausendwende ist er arbeitslos. Er bleibt es, bis er mit 63 in Rente geht. Manchmal, sagt er und lacht spitzbübisch, glaube er, dass er wegen des Museums sowieso keine Zeit zum Arbeiten mehr gehabt hätte. Ehefrau Gudrun bringt die Familien-Philosophie auf den Punkt: „Erst kommt das Museum – und dann irgendwann wir.“

Schäfers Schau lebt heute von liebevoll kultiviertem Friedensfahrt-Zubehör. Und diversen Devotionalien. Sage und schreibe 10.000 Ausstellungsstücke sind zusammengekommen. Auf zwei Etagen sind zu bestaunen: Rennräder, Trikots, Schuhe, Abzeichen, Streckenpläne, Wink-Elemente, Tücher, Tassen, Pokale, Siegerkränze, Siegerschärpen, Briefe, Medaillen, Abzeichen, Helme, Handschuhe, Urkunden. 2.500 Besucher (Schäfer: „Eintritt nehmen wir nicht.“) kommen etwa pro Jahr, Busse laden vor dem Haus in der Grabenstraße Interessierte aus vielen Teilen Deutschlands ab. Der Hausherr sammelt mit seinem Verein weiter alles, was noch an Friedensfahrt-Nachlass im Umlauf ist. Zu den eigentümlichsten Stücken gehört ein alter Seesack. „Der steckt voll mit Liebesbriefen, Autogrammwünschen und Heiratsanträgen, die Täve im Laufe seiner Karriere erhielt“, beteuert der Sammler mit schelmischem Grinsen. Zu fast jedem Exemplar könnte er eine Story oder Anekdote beisteuern.

Storys, da ist Schäfer in seinem Element. Die Geschichten sprudeln nur so aus ihm heraus. Ein Mann mit Entertainer-Qualitäten. Er wiegt den Oberkörper hin und her, rollt die Augen, wackelt mit seinem Lockenschopf, gestikuliert wild mit den Armen. Schäfer kann den verzwickten (Rechts-)Weg des Museums ins Grundbuch so spannend erzählen, als ginge es um ein olympisches Radfinale. Über die Fahrt weiß er einfach alles. Halt, fast alles. Auf die eigentlich harmlos gedachte Reporterfrage, aus wie vielen Nationen denn die 3.500 Fahrer in der fast 60-jährigen Historie der Friedensfahrt kamen, gerät er ins Stocken: „Oh, das wollte noch keiner so genau wissen.“ Es ist ihm sichtlich peinlich, die Antwort nicht sofort parat zu haben. Wenige Stunden später wird sie via Mail nachgereicht: „54 Länder.“ Akkurat, wie er ist, folgt noch eine Ergänzung: „Einschließlich Sonderfall Triest, das damals als Land gewertet wurde.“

So ist er eben, der Museumsleiter. Und hat sofort wieder eine neue Begebenheit parat. Diesmal geht es um einen ehemaligen mongolischen Fahrer. Dessen Tochter lebt in den USA und hört dort von einem Friedensfahrt-Museum irgendwo in East Germany. Jenem Sportereignis, von dem ihr der Vater einst so begeistert berichtet hatte. Nun der fast unglaubliche Clou: Eines Tages läutet es an Schäfers Haustür in Kleinmühlingen – da stehen sie vor ihm, Vater und Tochter, Arm in Arm, auf Nostalgie-Tour, angereist aus dem fernen Land der Jurten. Schäfer wischt sich über die Augen, als er es erzählt.

Einzig beim Thema Doping und Friedensfahrt wird die Stimme etwas leiser. „Ja“, räumt er ein, „das ist eine schwache Stelle bei uns. Wir haben schon mehrfach Anlauf genommen, dieses Kapitel vielleicht mit Hilfe eines Wissenschaftlers etwas näher zu beleuchten. Aber so richtig vorangekommen sind wir bisher nicht.“ Umso größer ist das Engagement des Museums-Vereins, wenn es um die sogenannte Kleine Friedensfahrt geht, jenen aus DDR-Zeiten herübergeretteten Radwettbewerb für Kinder und Jugendliche. Da sind Schäfer und seine Mitgesinnten alljährlich im Frühjahr als emsige Organisatoren in vielen kleinen Orten im Süden Sachsen-Anhalts unterwegs.

„Wir geben die Hoffnung einfach nicht auf, noch einmal auch die große Friedensfahrt zu erleben“, sagen Horst und Gudrun Schäfer unisono. In Tschechien, wo die Rechte der Fahrt, dem „Course de la Paix“, liegen, bastelt man seit Jahren an Plänen einer Wiedergeburt. Abstecher nach Deutschland eingeschlossen. Erschwert wird das Ganze, weil ein windiger Leipziger Manager den Leuten in Prag irgendwann einmal die Vermarktungsrechte abluchste. Dennoch, neue Tour-Pläne sind alles andere denn Hirngespinste. Selbst der führende TV-Radsport-Sender Eurosport hat die Fahrt für 2018 bereits in seinem Kalender vermerkt, wenn auch ohne konkretes Datum. Planspiele sehen sogar vor, die Route einmal durch Kleinmühlingen zu führen. Ganz Verwegene träumen davon, hier einen Prämienspurt auszutragen. Zu Ehren des Museums – und vielleicht auch ein wenig zu Ehren von Horst Schäfer. Der stände dann wahrscheinlich mit Tränen in den Augen direkt am Zielstrich. Und wäre ausnahmsweise einmal sprachlos. Für ihn würde sich, im Wortsinn, ein Lebenswerk vollenden. Rudi Bartlitz

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