Ein Cup und seine Wurzeln
Vor 50 Jahren gewannen die Magdeburger Fußballer den DDR-Pokal. Jetzt trafen sich die Recken von einst wieder.
Um Jörg Ohms Mundwinkel bilden sich kleine Grübchen. Ein leichtes Lächeln huscht über sein Gesicht. Hier ein Interview fürs Fernsehen, dort eines für die Zeitungsleute. Das Medieninteresse an seiner Person kann an jenem 1. Juni 1969 kaum größer gewesen sein als heute, 50 Jahre danach. Immer wieder muss der 75-Jährige jene Momente schildern, die ihn damals als zweifachen Torschützen im Finale des DDR-Fußballpokals in Dresden zum, wie man es dieser Tage nennen würde, „Man of the Match“ werden ließen. Tore, die entscheidend zum triumphalen 4:0 (1:0)-Endspielerfolg des 1. FC Magdeburg über den FC Karl-Marx-Stadt beitrugen. Jetzt, exakt ein halbes Jahrhundert später, trafen sich die blau-weißen Recken von einst in der Elbestadt wieder.
„Das war schon ein wenig verrückt damals“, erzählt der Mann aus Haldensleben im Gespräch mit MAGDEBURG KOMPAKT. „Nie zuvor und nie wieder danach, habe ich für den FCM in einem Spiel zwei Tore geschossen. Ausgerechnet im Finale des FDGB-Pokals klappte es. Hinzu kommt noch, dass ich ja Abwehrspieler war, der vorn eigentlich wenig zu suchen hatte.“ Die Szenen, die ihn zum Doppeltorschützen werden ließen, hat Ohm, der 1968 von Chemie Leipzig zum FCM gestoßen war, noch vor seinen Augen, als wäre es gestern gewesen: „Beim 1:0 in der 28. Minute ließ Hermann Stöcker auf der linken Seite die Karl-Marx-Städter Göcke und Müller stehen, seine halbhohe Flanke habe ich dann mit einem Flugkopfball verwandelt.“
Von diesem Moment an hatten die Schützlinge von Trainer-Legende Heinz Krügel das Geschehen im Griff, dominierten die Partie. Ohms Torhunger war an diesem Tag allerdings noch nicht gestillt. Nachdem Achim Walter das 2:0 (51.) gelang, war der rechte Abwehrspieler, der an diesem Tag, so ganz nebenbei, auch den ansonsten überragenden Mittelfeldregisseur und DDR-Nationalspieler Dieter Erler nahezu komplett ausschaltete, erneut am Zug. Diesmal traf der FCM-Mann noch spektakulärer als zuvor. Er schildert es so: „In der 60. Minute kam ich an der Mittellinie in Ballbesitz und entschloss mich, da niemand richtig angriff, zu einem Solo. Als ich sah, dass Torwart Gröper zu weit aus seinem Gehäuse geeilt war, hob ich das Leder aus 25 Metern mit einer Bogenlampe über ihn hinweg.“ Die Anerkennung seiner Mitspieler war Ohm sicher. Selbst wenn der Torschütze heute sagt: „Einige aus der Mannschaft waren offenbar von meinen zwei Treffern derart überrascht, dass sie hinterher frotzelten, da sei ein Blinder eben zweimal angeschossen worden. Aber das habe ich gern ertragen.“ Nur eines bedauert Ohm im Nachhinein ein wenig: „Ein Empfang des Siegerteams auf dem Rathausbalkon stand damals noch nicht auf dem Programm.“
Dennoch, für die Magdeburger war dieser Erfolg – Jürgen Sparwasser hatte mit dem 4:0 (68.) für den Endstand gesorgt – der erste Titel unter dem neuen Namen 1. FCM, den man seit Dezember 1965 trug. Und auch der erste für Coach Krügel, der den Club als Zweitligist im Jahr darauf übernommen hatte. Beifall gab es für die Blau-Weißen, die erstaunlicherweise nur von ein paar hundert Fans begleitetet wurden, nach dem Endspiel nicht nur von den Medien. Richard Hofmann, Dresdens Fußballidol vergangener Zeiten, gratulierte begeistert. „Vielen Dank Jungens für diesen Fußballgenuss“, äußerte er am Tag danach in der „Volksstimme“. „Das war eine echte Werbung für unseren schönen Sport. Ihr habt klar und verdient gewonnen. Souverän habt ihr den Pokal erkämpft. Es war ein schönes Spiel, es war eine Freude, euch spielen zu sehen.“
Bereits seinerzeit war unübersehbar: FCM und Pokal, das passte irgendwie zusammen. Denn schon 1964 und 1965 wanderte die vom DDR-Gewerkschaftsbund FDGB gestiftete Trophäe – ein wahrer Material-Koloss, der in seiner Ur-Fassung drei ziemlich martialisch dreinblickende Akteure zeigte – an die Elbe. Am 13. Juni 1964 traf Stöcker in der dritten Minute der Nachspielzeit mit seinem Tor zum 3:2 gegen den SC Leipzig zum Sieg im Finale des FDGB-Pokals, damals im Dessauer Paul-Greifzu-Stadion. Es war der Anfang einer glorreichen Pokalhistorie des 1. FC Magdeburg, der damals noch SC Aufbau hieß. Unter Ernst Kümmel gelang zwölf Monate später sogar die Titelverteidigung. Motor Jena wurde in Berlin mit 2:1 geschlagen – wieder gelang der Siegtreffer quasi fast mit dem Schlusspfiff. In Erinnerung bleibt auch das Last-Minute-Siegtor Sparwassers beim 3:2-Erfolg gegen Lok Leipzig im Mai 1973. Magdeburg und Pokal, da hatten sich zwei gefunden.
Das sieht Hans-Georg Moldenhauer ebenso. Der spätere Präsident des ostdeutschen Fußballverbandes und DFB-Vize hütete 1969 beim Dresdner Endspiel das Magdeburger Tor. „Im Pokal wollten wir es unbedingt noch einmal wissen“, sagt er. „In der Meisterschaft waren wir drei Spieltage vor Schluss Tabellenführer, hätten erstmals sogar etwas bis dahin Einmaliges schaffen können: das Double. Leider verspielten wir den Titel ein wenig leichtfertig, umso größer war der Hunger auf den Pokal. Das hat ja dann überzeugend geklappt.“
Bereits damals unübersehbar; die Handschrift von Trainer Krügel. Er führte das Team auf Anhieb wieder ins Oberhaus. „Das entscheidende Aufstiegsspiel im einstigen Grube-Stadion gegen Post Neubrandenburg erlebten 35.000 Zuschauer mit“, berichtet Moldenhauer. „Heute fast unvorstellbar. Ein 1:1 reichte uns damals. Es war so etwas wie die Geburtsstunde des neuen FCM. Unter Krügel wurden wir bereits eine Saison nach seinem Amtsantritt Dritter in der Oberliga. Es folgte der Pokalsieg 1969. Es war so etwas wie ein Übergangsjahr, weitere hochtalentierte junge Spieler kamen hinzu. Drei Jahre später dann die ersehnte erste Meisterschaft.“
Wenn heute immer wieder vom FCM, einem der großen Traditionsklubs aus dem Osten gesprochen wird, liegt diese Tradition auch in Erfolgen wie dem von 1969 begründet. Diesem Triumph fügten die Männer aus Sachsen-Anhalt noch weitere sechs hinzu und waren damit erfolgreichster Verein in der DDR-Pokalgeschichte. Abgerundet – und gleichzeitig gekrönt! – wird das Bild durch die internationalen Cup-Auftritte. In ihren goldenen Zeit, den Siebzigern, gehörten die Schützlinge von Krügel und dessen Nachfolger Klaus Urbanczyk fast regelmäßig zu den DDR-Startern in den Europacup-Wettbewerben. Wobei hinter dem Sieg im Pokal der Pokalsieger 1974 in Rotterdam gegen den italienischen Star-Klub AC Mailand (2:0) natürlich alles andere verblasst.
Im Jahr 2000 sorgte der FCM, damals allerdings in die vierte Liga abgerutscht, noch einmal deutschlandweit für Furore. Im DFB-Pokal wurden nacheinander der 1. FC Köln, Titelverteidiger Bayern München und der Karlsruher SC aus dem Wettbewerb gekegelt. Erst im Viertelfinale endete die Reise. Magdeburg scheiterte am späteren Sieger FC Schalke 04 knapp mit 0:1. Das Kuriose daran: Eigentlich hatte sich Magdeburg nur über seine zweite Mannschaft qualifiziert, die sich im Landespokal durchgesetzt hatte.
Geschichten wie diese und viele andere machten an diesem ersten Juni-Wochenende die Runde, als das Siegerteam von 1969 nach einem halben Jahrhundert wieder zusammenkam. Nahezu alle Akteure von einst saßen, samt Ehefrauen, an einer überdimensionalen Tafel. Ex-Präsident Eckhard Meyer spendierte in seinem Gasthaus „Zum Lindenweiler“ Speis und Trank, neben einer Elb-Dampferfahrt stand ebenso ein Besuch im Stadion auf dem Programm. „Sag‘ mir“, fragt Doppeltorschütze Ohm, „wo gibt es das noch? 50 Jahre danach! Es sind also nicht nur die berühmten Vierundsiebziger, die mit ihren regelmäßigen Treffen die Geschichte des FCM pflegen.“ Jene legendären Europapokalgewinner, zu denen übrigens auch er selbst zählt. „Ich war damals in Rotterdam dabei, wenn auch nur als Ersatzspieler. Auf dem Siegerfoto hocke ich vorn ganz links. Natürlich hätte ich auch gern gespielt. Aber ich habe die Entscheidung des Trainers akzeptiert. So ist der Sport, du kannst nicht alles haben.“ Rudi Bartlitz