Am Rande des Abgrunds

Was ist in diesen Sommertagen bloß in dieses Deutschland gefahren? Da lässt ausgerechnet die Fußball-Nationalmannschaft, mit dem WM-Erfolg von 1954 in Bern so etwas wie ein Geburtshelfer dieses neuen demokratischen deutschen Staates, eine Säule des nationalen Selbstbewusstseins und somit ein schwarz-rot-goldenes Ur-Markenzeichen, die Leute von einer Ohnmacht in die nächste taumeln. Die Drohkulisse eines deutschen Vorrunden-Scheiterns war schon gezimmert, bevor die Löw-Elf dem sportlichen Tod gerade noch einmal von der Schippe sprang. Vorerst zumindest.

Da ist, fast zur selben Stunde, in Berlin eine Bundesregierung am Werk, die in der Flüchtlingsfrage mit ihrem Parteiengezänk die Stabilität der Republik aufs Spiel setzt. Die – ähnlich den Fußballern in der Mexiko-Partie – ziellos umherirrt, kaum eine taktische Linie erkennen lässt. Die ihr vorzeitiges Aus geradezu leichtfertig provoziert. Vergleiche und Analogien zwischen Löw und Merkel häufen sich im deutschen Blätterwald in verdächtiger Weise. Dass  die Automobilindustrie, ein einstiges Prunkstück deutscher Ingenieurskunst, zur selben Zeit von einem Skandal in den nächsten schlittert und einige ihrer Manager entweder in U-Haft sitzen oder vom FBI gejagt werden, dies rundet das trübe Bild nur ab.

Aber bleiben wir bei dem, was die Mehrheit der Deutschen – Bundesregierung hin, Autoindustrie  her – derzeit im Innersten wohl am meisten umtreibt: das Fußball-Nationalteam. Gewiss, der herbeigezitterte Last-Minute-Erfolg über Schweden wirkte zunächst irgendwie befreiend. Auf den Fan-Meilen schrien sie schon wieder: Jetzt geht’s los! Es sei „ein Sieg der Moral, des Nicht-Nachlassens und An-sich-Glaubens“, befand der Bundestrainer. Kurz zuvor hatten er und sein Team den Kopf gerade noch einmal aus der Schlinge gezogen. Das düs­te­re Sze­na­rio war schon als Menetekel an die Wand geschrieben: Es wä­re die schlimms­te WM-Nie­der­la­ge in der Ge­schich­te der  Na­tio­nal­mann­schaft gewesen, noch nie muss­te Deutsch­land bei ei­ner WM nach der Vor­run­de die Koffer packen.

Wie konnte es dazu kommen?
Noch nie in seiner Karriere als Bundestrainer war so viel Kritik auf Löw eingeprasselt wie seit der Mexiko-Niederlage. „Er  kann nicht mehr so weitermachen wie in den zwölf Jahren zuvor”, notierte die „Süddeutsche Zeitung“.  Die italienische „Gazzetta dello Sport“ witzelte: „In der modernen Welt gibt es keine Sicherheiten mehr: Päpste können zurücktreten, ein Mensch wie Trump kann zum US-Präsidenten werden und Deutschland kann beim ersten WM-Match verlieren.“

Über das Löw-Team hatte sich seit dem Titeltriumph 2014 schleichend und für viele unbemerkt so etwas wie lähmender Mehltau gelegt. Die Parallelen zur Situation im Land blieben unübersehbar: Innovationen waren kaum gefragt, man verharrte lieber beim Alten, Bewährten. Bestes Beispiel: die Kaderpolitik des Bundestrainers. So erfrischend die Jung-Stars beim Gewinn des Confed-Cups 2017 aufgespielt hatten, als es darauf ankam, setzte der oberste Übungsleiter auf seine Weltmeister von Rio.
Er­neue­rungs- und Er­obe­rungs­wil­le er­lahm­ten und ei­ne über­wun­den ge­glaub­te Schwe­re und Star­re legte sich über die Elf. Es führte zu einer Berechenbarkeit, die ins Mut- und Fantasielose reichte. Der Bun­des­trai­ner zog sich im­mer wei­ter in sich selbst zu­rück. Löw, so sagen Insider, lebe seit längerem in seiner eigenen Weltmeisterwelt, wie andere ihn sehen, sei ihm ziemlich schnuppe. Wäh­rend des Trai­nings­la­gers in Südtirol lehn­te er so­gar Fra­gen zu sei­ner wich­tigs­ten sport­li­chen Auf­ga­be ab: der Ka­der-No­mi­nie­rung.

Schon die Vorbereitung auf diese WM verlief suboptimal, bereits in der Europapokal-Saison war das Niveau des deutschen Fußballs und seiner Klubs kritisiert worden, die Nationalmannschaft hatte in so manchem Testspiel (Österreich, Saudi-Arabien) überraschend schwach ausgesehen. Sehen wollte das beim DFB so recht keiner. Was wollt ihr denn, hieß es in der Überzeugung der eigenen Großartigkeit, wir sind der Titelverteidiger! Dem von Özil und Gündogan heraufbeschworenen „Erdogan-Gate“ versuchte man in einer Art „Basta“-Politik (Manager Bierhoff) beizukommen. Weiter: Löws beschwichtigende Ein­schät­zung, das Team wä­re bei der Endrunde in Russland auf den Punkt da, er­wies sich als Fehl­ein­schät­zung. Auf die of­fen­sicht­li­chen Un­zu­läng­lich­kei­ten re­agier­te er ge­gen Me­xi­ko nicht. Oder zu­min­dest viel zu spät.

Das gan­ze Di­lem­ma der deut­schen Mann­schaft wur­de in ei­nem ein­zi­gen Satz auf­ge­zeigt. „Den Spiel­plan“, sag­te der me­xi­ka­ni­sche Trai­ner Juan Car­los Oso­rio, „ha­ben wir viel­leicht schon vor sechs Mo­na­ten auf­ge­stellt.“ Der Auf­takt­geg­ner war al­so schon seit ei­nem hal­ben Jahr (!) si­cher, dass der Welt­meis­ter nichts Über­ra­schen­des bie­ten, dass er sei­ne Schwä­chen nicht ana­ly­sie­ren und ab­stel­len, dass er ge­nau­so agie­ren wür­de, wie er im­mer agiert. Als der deut­sche Plan gegen die Mittelamerikaner nicht funk­tio­nier­te, wur­de er aber un­be­irrt wei­ter­ver­folgt. Es wurde offensichtlich, einen Plan B hatten die Deutschen nicht in der Tasche. Es gab nur diesen einen Plan A, dogmatisch und unflexibel, ohne Netz und doppelten Boden. Löw hatte sich, schlicht gesagt, vercoacht. Kurzzeitig sah es sogar so aus, als wollten die ge­al­ter­ten Wohl­fühl-Welt­meis­ter trotz des Fehl­starts in ihrer Welt der Selbst­täu­schung ver­har­ren. Doch die knapp eine Woche bis zur Schweden-Partie nutzte Löw, im Gegensatz zur Kanzlerin in Berlin, um über seinen Schatten zu springen, zu reagieren, Veränderungen vorzunehmen. Als es richtig brenzlig wurde und auch sein Ruf (und berufliches Schicksal?) auf dem Spiel standen, reagierte er. Und siehe da, es funktionierte – zumindest reichte es zu einem Kraftakt gegen die Skandinavier.

Wie  nun weiter? Gegen Schweden, das sollte nicht übersehen werden, war man wieder einem Rückstand hinterhergelaufen. Das wettzumachen sei mental brutal schwer gewesen, räumte Kapitän Manuel Neuer hinterher ein. Lücken im Defensivverband sprangen erneut ins Auge. Wenn man die Koreaner am Mittwoch bezwingt (wovon auszugehen ist), könnten im Achtelfinale dann gleich die Brasilianer warten. Dass ein Balancieren am Abgrund ein zweites Mal überstanden würde, darauf sollte die DFB-Elf lieber nicht wetten. Deutschland ist allerdings, um eine alte Phrasenschwein-These zu bemühen, eine Turniermannschaft. Und wird von Spiel zu Spiel besser. Das sollte die gute Nachricht sein. Rudi Bartlitz

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