Wenn die Gesundheit Kopf steht
Wenn man krank ist, steht die Gesundheit Kopf und jeder wünscht sich eine schnelle und möglichst unkomplizierte medizinische Hilfe. Doch Wunsch und Wirklichkeit klaffen häufig auseinander. Im Wartezimmer der Hausärzte brauchen akute Leiden zunächst viel Geduld. Mit einer Überweisung an einen Facharzt geht das Warten für einen freien Termin meistens erst los. Oft genug kann nicht sofort eine sichere Diagnose gestellt werden. Weitere Untersuchungen sind nötig. Laborbefunde oder bildgebende diagnostische Verfahren verzögern die Gewissheit über die Ursache einer Erkrankung zusätzlich. Selbst bei einem Krankenhausbesuch erscheinen die Abläufe zwischen Aufnahme, Bettenplatz, Untersuchungen und pflegerischer Betreung manchmal wie ein Martyrium im Labyrinth einer bürokratischen Gesundheitsfabrik, deren Fließbänder wie unter einer sozialistischen Planerfüllung fortwährend einen Mangel an Zeit und Ressourcen zu Tage fördern. Die Schlussfolgerungen aus solch empfundener Marter münden dann in Flüche über ein kaputt gespartes Gesundheitssystem, Ärztemangel und unterbezahltes Pflegepersonal.
Die Einnahmen und Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen (GKV) steigen von Jahr zu Jahr (s. Grafik Seite 6). 2017 betrugen die Gesamteinnahmen für die GKV 233,9 Milliarden Euro. Ausgegeben wurden 230,4 Milliarden Euro. Für das laufende Jahr werden gar Ausgaben von 244 Milliarden Euro prognostiziert. Mit jährlichen Gesundheitsaufwendungen von rund 375 Milliarden Euro – knapp 100 Milliarden davon für ärztliche Leistungen – fließt in Deutschland so viel Geld in den Gesundheitsbereich wie in kaum einem anderen Land. Der Anteil der Gesundheitsaufwendungen am Bruttoinlandsprodukt lag zuletzt bei 11,5 Prozent. Nach Angaben der BARMER hatten 2017 rund 93 Prozent der deutschen Bevölkerung Kontakt zu einem ambulanten Arzt. Bundesweit wurden dabei rund 709 Millionen Behandlungsfälle registriert.
Wo bleibt das Geld für ständig steigende Ausgaben? Schließlich beklagen wir allseits einen fortschreitenden Ärztemangel. Nur zeigt die Statistik zunächst andere Fakten. 1960 gab es in Deutschland (West) ingesamt 92.806 berufstätige Ärzte. Im Jahr 1990 waren es im vereinigten Deutschland 237.750. Zum Stichtag 31. Dezember 2018 zählte die Bundesärztekammer 392.402 berufstätige Mediziner. In keinem Jahr ist die Gesamtanzahl zurückgegangen, sondern stetig gestiegen. Die statistische Arztdichte entwickelte sich von 452,3 Einwohnern pro Arzt zu 211 Einwohner auf einen Mediziner. Aus diesen stets gestiegenen Zahlen der Bundesärztekammer lassen sich schwer Mangel und rückläufige Versorgung ablesen. Schon gar keine Lücken im System. Dennoch werden ständig die Klagelieder über einen fortwährenden Niedergang gesungen. Es muss also andere Faktoren geben, aus der die Sichtweisen über ein wenig effizientes Gesundheitssystem enstehend und aus der laufend Engpässe in medizinischen Bereichen erklärt werden.
Aufschlussreicher ist da schon die Gliederung der Ärzteschaft nach Fachgebieten. So sank beispielsweise die Anzahl niedergelassener Allgemeinmediziner 2018 gegenüber dem Vorjahr um 1,8 Prozent auf aktuell 30.975. Ebenso rückläufig sind die Zahlen für Fächärzte der Frauenheilkunde (-0,7%) und Geburtshilfe, bei den Hals-Nasen-Ohren-Ärzten (-0,9%), bei Haut- und Geschlechtskrankheiten (-0,5%) als auch bei den Radiologen (-2,1%). Rückgänge bei den Allgemeinmedizinern sind vor allem bei den stationär tätigen Medizinern zu verzeichnen. Ihre Zahl nahm um 2,5 Prozent gegen 2017 ab. Fachgebiete, in denen mehr Ärzte als zuvor arbeiteten, findet man in der Hygiene- und Umweltmedizin (stationär +13,9%), in der Neurochirurgie (stationär + 5,2%) in der Psychosomatischen Medizin und Psychotherapie (stationär +2,8%). Bei den niederglassenen Ärzten findet man Steigerungsraten in der Kinder- und Jugendlichen Psychotherapie (+2,8%), in der Neurologie (+4,5%), im Öffentlichen Gesundheitswesen (+4,8%) oder in der Psychiatrie und Psychotherapie (+3,0%).
In der Ärzteschaft findet man wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen vermehrt den Trend, in Teilzeit zu arbeiten. Vor allem in ländlichen Gebieten wird also die Versorgung auf manchem medizinischen Fachgebiet schwieriger. Gerade Allgemeinmediziner und Fachärzte fehlen dort. Absolventen der Hochschulen und Universitäten wollen genauso wie viele andere ihrer Generation lieber in Städten mit einem bunteren Angebot für Freizeit, Unterhaltung und Infrastruktur für Kinder leben. Das Missverhältnis zwischen Stadt und ländlichem Raum wird die Differenz in der medizinischen Versorgung weiter wachsen lassen. Dies wird möglicherweise Auswirkungen in der statistischen Lebenserwartung zeigen. Wenn Notfälle nicht mehr in kurzer Zeit versorgt werden können, steigt logischerweise die Morbiditätsrate.
Es gibt aber noch einen weiteren Aspekt, der enormen Druck auf das Gesundheitssystem ausübt. Und das sind die Bürger bzw. Patienten selbst. So steigen die Arztbesuche pro Kopf ebenfalls seit Jahren. Statistisch konsultierte 1991 jeder Deutsche 5,3 Mal einen niedergelassenen Mediziner. Bis 2017 hat sich die Zahl auf zehn Besuche pro Kopf fast verdoppelt. In der Zahl sind die Kontakte mit stationären Einrichtungen noch nicht berücksichtigt. Insgesamt soll sie dann 17 Kontakte pro Brüger betragen. Der Anspruch nach medizinischer Hilfe hat also weit über dem Maß zugenommen, wie möglicherweise einzelne ärztliche Fachgebiete diesem gerecht werden können. Kritik am Gesundheitssystem kann also nicht nur mit Argumenten wie zu wenig Geld oder zu wenig Personal geäußert werden, sondern muss stets auch um ein weiter steigendes Wunschdenken nach maximaler Gesundheitssicherheit gedacht werden. Dass dann das individuelle Leiden mit dem komplexen Versorgungs- und Abrrechnungssystem kaum auf einen Nenner gebracht werden kann, liegt eigentlich auf der Hand. Die Politik, die in diesem Bereich steuernd eingreifen soll, hat aber kaum Einfluss darauf, welche Versorgungserwartungen die Patienten mit der Zeit entwickeln. Der medizinische Fortschritt wird weitere Therapiemöglichkeiten hervorbringen, die Wünsche nach Inanspruchnahme befördern werden. Das Gesundheitssystem kann also niemals perfekt werden und wird weiter unter kritischem Beschuss stehen. Und zwar durch jeden, der damit konfrontiert ist. Thomas Wischnewski