Vom Wert der Stille

Es ist sicher sieben, acht Jahre her, als ich mich von zwei unabdingbaren Wächtern unserer Zivilisation verabschiedete: Der eine füllte meinen Kopf täglich mit einer Unzahl lauter Bilder, der andere Gegenstand legte mich an die Leine. Meine Frau und ich verabschiedeten unseren Fernseher und ich mein Handy dazu. Es ist stiller geworden in unserem Leben seither. Wir haben uns zu erzählen. Und haben wir das mal nicht, schweigen wir nebeneinander, aber miteinander. Hören den Vögeln zu, sehen den Katzen zu: Die Maikätzchen balgen sich, tauschen ab und zu mal die Mutter. Die abendliche Stille zieht herauf. es ist dieser Moment, den wir beide lieben.

„Wie ein gestilltes Kind bei seiner Mutter, so ist gestillt in mir meine Seele.“

Dieser wunderschöne Vers stammt aus dem ältesten Gebetsbuch der Bibel, aus den Psalmen. Er umschreibt eben auf eine sehr genaue Weise diesen Moment am Abend, wenn es still wird im Dorf und der Frieden in die Seele einzieht. Es ist ein schlichter Mensch, der vor mehr als 3.000 Jahren diese Sätze als Lied gesungen hat. Er schämt sich seiner Schlichtheit nicht. Er ist mit sich im Reinen. Er hat keine hohen Ziele mehr: „Ich habe besänftigt und gestillt mein Herz, wie ein gestilltes Kind bei seiner Mutter.“ Oh, Ihr gendergetriebenen Damen, da denkt man und spricht man abfällig vom Vatergott, und hier, wie selbstverständlich, beugt sich der Mann über das Bild der stillenden Frau als das Bild des heilmachenden Gottes. Er/Sie macht ihn still.

Sie merken, ich mag diesen Psalm, nicht zuletzt, weil er einfach ein Stück sehr alter, wunderbarer, schlichter Poesie ist. Die Poesie ist es wohl auch, in deren Gewand man sich am ehesten der Stille nähern kann. Per Definition bedeutet das aus dem althochdeutschen kommende Wort stilli: ohne Geräusch, aber auch: ohne Bewegung. Heute dient es als Bezeichnung für die so empfundene Lautlosigkeit.

Stille kann einerseits Entlastung bedeuten, das Aussperren von Lärmbedrohungen. Für Menschen, denen das Kontemplative eher fremd ist, kann Stille aber auch etwas Bedrohliches haben. Wir saßen mit Magdeburger Freunden sonntags Abend auf unserem Hof. Immer dann, wenn die Fledermäuse kommen, gegen halb sieben Uhr, legt sich die große Sonntagsruhe über das Dorf. „Das ist beängstigend“, sagte mein Freund. „Das ist ja furchtbar.!“ Er schüttelte ungläubig mit dem Kopf: „Bei uns hast Du dann wenigstens das Brummen von der Autobahn noch“, sagt er – und überlegt, welche Vorteile so ein Stadtleben noch haben kann. Kneipe, Tanz, Quatschen im Kiez. „Aber hier, das ist ja alles tot.“ Mit der Dämmerung kam ein zunehmendes Unwohlsein. Die Stille machte regelrecht Angst. Bald schlug einer der beiden dem anderen Aufbruch vor. „In der Stadt hast du immer ein Grundrauschen. Das tut gut. Du weißt, dass du nicht allein bist.“ Das erinnerte mich an die Erzählung eines Freundes, der mit seinem italienischen Freund durch Neapel ging. „Die Fenster der Häuser waren weit geöffnet. Je höher das Stockwerk, umso lauter der Fernseher. Durch die Straßen fuhren die Vespa. Ein Höllenlärm. ‚Wie haltet ihr das aus?’, fragte ich meinen Freund. Der stutzte, überlegte und, als er wusste, was ich gefragt hatte, antwortete er: ‚Weißt du, hier in Neapel bedeutete es dass, wenn die Stadt still war, entweder der Feind vor den Toren stand oder die Cholera ausgebrochen war. Stille bedeutete hier den Tod, der Lärm bedeutet Leben.“

Neuzugezogene Städter wollten zwar unbedingt aufs Land, aber ihre städtischen Spielregeln mitnehmen: Der Hahn kräht morgens, also muss die Rübe runter. Das Maisfeld versperrt die freie Sicht. Also muss es der Bauer umpflügen. Macht er es nicht, muss der Anwalt ran. Wir haben eine lebensfeindliche Kultur zum Joker erhoben. Die Stille, die wir meinen, dient nicht der Seele, sondern dem Machterwerb über den Nachbarn. Stille kann eben auch Bestandteil von Weißer Folter bei Verhören sein.  

Der Norweger Erling Kagge schrieb ein Buch über die Stille. Stille ist für ihn die Abwesenheit von Lärm, also die Abwesenheit von Ablenkungen, oder gar Erwartungen anderer. Aber auch Kagge weiß: „In der Stille begegnen wir uns selbst. Und das ist eine der härtesten Begegnungen, die man im Leben habe. Das klingt anders als in Psalm 131. Aber da ist die Stille ja auch nicht gegen mich gerichtet, sondern sie umfasst mich und stellt mich sozusagen in den Sauberraum Gottes, einem Raum, in dem die Stille den Menschen Geborgenheit schenkt statt Ablenkung, diese sehr kindliche Zufriedensheitserfahrung, die aus dem Sattsein und dem Wissen, angekommen zu sein, wächst. Das ist keine Stille um ihrer selbst willen, sondern eine Stille, welche die Persönlichkeit bereichert, sie angstfrei und dabei im guten Sinne wahrhaftig reich macht. Ludwig Schuman (Stille: Ein Wegweiser, Suhrkamp-Verlag)

Zehn Sätze über Stille

• Wenn Du mit 17 plötzlich die Luft anhältst und in aller Stille die Ohren ausfährst, glaubst Du, sie gehört zu haben. Wenn Du mit 47 plötzlich die Luft anhältst und in aller Stille nach draußen hörst, fürchtest Du, sie könnte heute früher nach Hause kommen. Wenn Du mit 77 plötzlich ganz still wirst, ist Dir so, als hätte er Dich gerufen.

• Im Raum der Stille ist kein Halten mehr.

• Mütter pflegen schreiende Kinder einfach zu stillen.

• Stille heißt man den Krach der Zwerge.

• Dass man dem Endgültigen gegenübersteht, merkt man an der Stille, die sich plötzlich ausbreitet.

• Stille und Glück heißen die Schwestern der Freudigkeit.

• Ein stilles Kind ist den Eltern Grund genug zur Sorge.

• Diese betretene Stille, die einsetzte, als sie ihrem Führungsoffizier ihre Schwangerschaft mitteilte, fühlt sie manchmal heute noch, wenn sie ihm als ihrem Versicherungsvertreter begegnet.

• In die erwartungsvolle Stille auf Bahnsteig 9 platzte der Bahnbeamte mit der Mitteilung, dass der Zug fünfundvierzig Minuten Verspätung haben wird. Der darauf einsetzende Handyverkehr katapultierte die Stille hinunter auf die Geleise.

• Im christlichen Himmel ist die Stille nicht zu Hause. Dort wird, soweit ich weiß, lauthals gesungen.

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