Vom Labortisch in die Apotheke

Mit Labortischen kennen sich die Wenigsten aus, mit Apotheken aber jeder. Schachteln und Schächtelchen warten hier auf Kundschaft, Tuben, Flaschen und Fläschchen. Es riecht besonders, die Verkäufer geben sich freundlich, wirken aber eher distinguiert. Ganz anders jedenfalls als die Bäckersfrau, der Fleischer oder die Verkäuferin im Supermarkt. Auch die Kunden unterscheiden sich von denen in anderen Läden. Sie machen einen leicht verunsicherten Eindruck und sind recht leise, ja regelrecht verhuscht, wenn sie ihr Rezept über die Theke schieben oder gar sagen sollen, wo ihnen der Schuh drückt. Denn hier, in der Apotheke, geht es ums Ganze, hier dreht sich alles um die Gesundheit, die es wiederherzustellen oder zu bewahren gilt.

Tabletten, Pillen, Kapseln und Tropfen werden dazu bereitgehalten, Salben, Gele, Injektionslösungen und Verbandstoffe. Alles nicht gerade preisgünstig. Immerhin, die Lebenserwartung und die Lebensqualität der Bevölkerung sind über Jahrzehnte hin ständig gestiegen, und das hat viel mit dem zu tun, was in den Apotheken über den Ladentisch gereicht wird. Doch auch in leichteren Fällen weiß der Patient die Mittel der Apotheke zu schätzen, da sie ihm Heilung bedeuten, zumindest Linderung.
 
Hier Fakt, da Fiktion

Dies gilt paradoxerweise selbst in den Fällen, in denen die Tabletten, Pillen, Tropfen, Tees und Salben objektiv völlig wirkungslos sind. Allein die Hoffnung auf Gesundung oder darauf, sich vor Krankheit zu schützen, verrichtet ein gutes Werk. Gemeint ist der Placebo-Effekt. Mit ihm mag nicht nur im Falle von Homöopathika oder der Scharen an Nahrungsergänzungs- und Gesundheitspflegemitteln gerechnet werden, sondern auch dann, wenn mittels regulärer Medikamente die Aussicht auf Heilwirkung ganz einfach überdehnt wird.

Denken wir zum Beispiel an Schmerzsalben, die mit ansonsten hochwirksamen Schmerzmitteln (nichtsteroidale Antirheumatika, wie Acetylsalicylsäure, Diclofenac oder Ibuprofen) versetzt sind. Sie sollen durch die Hautschichten, das darunter liegende Bindegewebe und durch Faszien hindurch bis in die Muskulatur eindringen oder gar tiefliegende Gelenke erreichen, um dort Schmerzen zum Verschwinden zu bringen. Gleichsam im Handumdrehen! Angepriesen wird so etwas im Schaufenster der Apotheken oder im (von uns bezahlten) Fernsehen allabendlich zu den besten Sendezeiten.

Früher war der Apotheker noch derjenige, der das, was er seinen Kunden ausreichte, selber herstellen musste. Dafür gibt es heute pharmazeutische Betriebe. Oft sind das riesige internationale Konzerne mit einem milliardenschweren Jahresumsatz. Aber auch kleinere Hersteller machen sehr gutes Geld, wenn sie es verstehen, mit ihren Produkten die Portemonnaies der Apothekenkundschaft bzw. die der Krankenkassen zu öffnen.

Forschung

Denken wir an seriöse Produkte, an Arzneimittel, die Krankheiten tatsächlich zum Verschwinden bringen, zumindest aber deren Symptome lindern. Wie kommt man dazu? Nun, im Prinzip ganz einfach: durch Forschung. Nur eben, dass Pharma-Forschung alles andere als einfach ist. Es genügt nicht, sich hinzusetzen und sich vorzunehmen, ein Mittel gegen Krebs zu ersinnen. Oder eines gegen Depression oder schizophrenen Wahn. Oder gegen Bakterien, gegen die kein Kraut gewachsen ist oder wo Antibiotika nicht länger helfen, obwohl sie früher wunderbar geholfen haben.

Allerdings hinsetzen muss man sich schon, nämlich um sich möglichst viel von dem anzueignen, was die Schule an Wissen über Biologie, Chemie, Physik, Mathematik und Informatik anbietet. Ansonsten bleiben die Aussichten, sein Geld einmal in der Arzneimittelforschung zu verdienen, mit großer Wahrscheinlichkeit lebenslang verschlossen. Vermutlich auch dem, der das Angebot von leichtfertigen Bildungspolitikern nutzt, Unterrichtsfächer abzuwählen, die Mühe machen. Gewöhnlich sind das die oben genannten Disziplinen.
 
Wiederum sein Sitzfleisch muss trainieren, wer sich für ein weiterführendes Studium mit Zielrichtung Arzneimittelforschung entscheidet. Außerdem braucht es handwerkliches Geschick und Beobachtungsvermögen, wie es in den jeweiligen Praktika trainiert werden muss. Intelligenz ist wichtig, keine Frage, Begeis-terungsfähigkeit und Beharrlichkeit aber sind für den Erfolg im Studium zumindest von gleichrangiger Bedeutung. Und später auch in der Forschung. Hauptanliegen ist zunächst erst einmal zu begreifen, was die Menschheit bislang von dem begriffen hat, „was die Welt im Innersten zusammenhält“. Für die Pharma-Forschung ist das nicht so sehr die große, ganze Welt, als vielmehr die kleine, nämlich die des Organismus und, eher mehr noch, die der Zellen und der Moleküle.

Ohne Schweiß keinen Preis

Nach einem beschwerlichen Studium kann es dann endlich losgehen mit der Forschung. Zunächst mit dem Versuch einer Antwort auf eine winzige Teilfrage, wie sie zum Abschluss für die Erlangung des Diplom- oder Mastergrades gestellt wird. Zum Beispiel, wie arbeitet eines der abertausenden Enzymarten in einer der mehr als 200 Zelltypen eines Säugetierorganismus (also auch des unsrigen), wenn man ihm statt des üblichen Stoffwechselproduktes einen chemisch veränderten Molekültyp anbietet? Oder was passiert, wenn man in die Zelle ein leicht verändertes Gen einschleust oder ein abgewandeltes Transport- oder Signalmolekül? Oder wie reagiert die Zelle auf ein chemisch umfrisiertes Signalmolekül-Bindungsmolekül? Immerhin könnte das eine oder andere in Bezug auf Fehlfunktionen interessant sein, mithin auf eine Krankheitsursache hinweisen. Entweder wird für die Zelle alles schlimmer, oder ihre Situation verbessert sich. Und damit auch die des Gewebes, deren Bestandteil sie ist, und schließlich die des jeweiligen Organs sowie die des gesamten Organismus.

Leider ist alles noch viel komplizierter, als das hier klingen mag. Ansonsten hätten andere Forscher in der Welt die Antwort längst herausgefunden. Ständig muss bei den Experimenten mit Pannen gerechnet werden, oder die entsprechenden Geräte fehlen, die man zur erfolgreichen Arbeit braucht. Denn diese kosten Geld, häufig sehr viel Geld, und auch dann noch muss man mühsam lernen, mit ihnen umzugehen. Misserfolg lauert an allen Enden. Hinzu kommt der Zeitdruck, denn die Anstellung jüngerer Mitarbeiter ist immer befristet. Mittlerweile auch die der älteren! 

Wer in der vorgegebenen Zeit mit seiner Arbeit nicht fertig wird, muss sich im Regelfall eine neue Stelle suchen und dann zumeist eine ganz andere Fragestellung in Kauf nehmen. Und das oft sonst wo in der Welt, denn Geld für Forschungsstellen ist überall knapp. Nicht von ungefähr liegt die allgemein übliche Wochenarbeitszeit für forschende Wissenschaftler bei 50, 60 oder gar noch mehr Stunden. Selbst verordnet – die Chefs müssen nicht drängen. Wer sich nicht sputet, verliert. Die Gewerkschaften bleiben da daußen vor, über Stress reden nur die anderen (möglicherweise die mit einer 35-Stundenwoche).

Publish or Perish

Großes Ziel aller wissenschaftlichen Untersuchungen ist deren Veröffentlichung, und die natürlich in einer Fachzeitschrift. Ohne Publikation kein Doktortitel und schon gar nicht die Habilitation. Nationale Fachzeitschriften spielen in der Pharma-Forschung wie überhaupt in den Naturwissenschaften keine Rolle, ebenso wenig Veröffentlichungen in einer der jeweiligen Landessprachen. Alle diese Wissenschaften sind nun mal international und deren Sprache ist ausschließlich Englisch.

Die Qualität der Forschungsergebnisse lässt sich anhand des Ranges der Fachzeitschriften ablesen. Für jedes der eingereichten Manuskripte sind zwei oder drei Gutachter zuständig, die sich bei den hochrangigen Journalen als besonders wählerisch erweisen und oft genug einer Veröffentlichung im Wege stehen. Darauf dann die Ochsentour mit dem nächsten Journal und dem übernächsten bis hinunter zu den weniger wählerischen. Im Kampf um eine künftige Arbeitsstelle gewinnen jene, die die meisten Publikationen aufweisen und diese zudem in den anspruchsvollsten Zeitschriften. Der Hit, wenn irgendwann mal eine unbefristete Mitarbeiterstelle herausspringt, gar eine Chefstelle, oder im akademischen Bereich – was gibt es dort Besseres? Natürlich eine Professur!

Neue Wirkung für viel Geld
 
Bei immer genauerer Kenntnis der Mechanismen, die einen Organismus gesund erhalten oder, umgekehrt, krank machen, sollten sich wirksamere Arzneimittel gleichsam von allein ergeben. Leider ist die Realität weit davon entfernt. Häufig bedarf es eines glücklichen Zufalls, der eine verheißungsvolle Spur liefert. Aber auch dann geht es erst so richtig los. Das Resultat muss in jeder Richtung abgeklopft werden. Nach den Experimenten an Molekülen, an einzelnen Zellen und an Tierversuchen müssen Studien an gesunden Menschen zeigen, ob das neue Mittel nicht etwa schadet. Dann die Studien an Patienten, die zu erweisen haben, inwiefern die Wirkung besser als die eines bisherigen Arzneimittels ist. Tausende und abertausende Patienten sind dazu nötig!

Errechnet wurde: Von 5.000 bis 10.000 Substanzen, die mit dem Ziel untersucht werden, ein neues Medikament herzustellen, sind es im Durchschnitt gerade mal neun, die in ersten Studien mit Menschen erprobt werden. Und nur eine erreicht später den Markt. Das alles braucht viele, viele Jahre. Und kostet im Schnitt eine bis zu 2 Milliarden US-Dollar. Den Preis bezahlt der Patient bzw. seine Krankenkasse.

Zuletzt ein guter Rat für verschreckte Abiturienten: Es gibt auch weniger aufwändige Arbeitsrichtungen! Prof. Dr. Gerald Wolf

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