Unterricht zur Religion wird gebraucht

Die Religionslehrerin Heike Schumann über ihren Traumjob.

Der Netzkritiker Jason Lanier hat neulich in einem Interview mit einer großen deutschen Wochenillustrierten aus der Schule geplaudert: Die Kinder der in die Elternjahre gekommenen leitenden Mitarbeiter der großen Internetkonzerne wie Google, Apple, Facebook etc. müssen auf Smartphone, Tablet etc. verzichten. Ihre Eltern untersagen ihnen den Gebrauch, um ihre Kinder vor den Folgen zu schützen. Diese Kinder spielen wie wir früher: Draußen auf dem Spielplatz, auf dem Bolzplatz, mit Holzspielzeug und so weiter. Eine unmittelbare Folge des ungehemmten Gebrauchs dieser elektronischen Geräte ist eine zunehmende Konzentrationsunfähigkeit, eine andere der Verlust des Gedächtnisses. Ich arbeite in der Grundschule aus diesem Grund wieder ganz herkömmlich, indem ich beispielsweise Merksätze entwickle und diese die Kinder unter Zuhilfenahme leichter Handbewegungen lernen lasse. Sie glauben gar nicht, welchen Spaß die Kinder dabei haben, wie sie sich das wirklich merken, es wiederholen können, auch noch nach einem halben Jahr.“

Heike Schumann (57), als ordinierte Pfarrerin die erste Schulpfarrerin des Evangelischen Kirchenkreises Elbe-Fläming freut sich. Als ich nach der Sehnsucht des Lehrers frage, irgendwann den Dienst quittieren zu dürfen, blitzt es in ihren Augen unwillig auf: „Das ist mein Traumjob. Wie käme ich dazu, auch nur einen Gedanken ans Aufhören zu verschwenden? Ich wollte schon als Kind Lehrerin werden. Mein Vater war mit Leib und Seele Lehrer. Er war freilich auch Mitglied einer Freikirche. Da war in der DDR ein Lehrerstudium kaum möglich. Ich machte zwar mein Abitur in Buckau, aber ein Germanistikstudium war nicht drin. Nun, dann habe ich eben Theologie in Leipzig studiert, wurde nach dem zweiten Examen ordiniert. Nach meiner Trauung zog ich sieben Kinder auf. Das heißt, mit dem Pfarrdienst wurde es erst einmal nichts, aber ich unterrichtete in der Rhön Kinder, später, nach dem politischen Umbruch 1989, übernahm ich ehrenamtlich die Rolle der Gefängnisseelsorgerin in der JVA Hohenleuben. Schließlich wurde ich Religionslehrerin an einer Geraer Berufsschule. Am Unterrichtskonzept für die Berufsschulen in Thüringen arbeitete ich damals mit. Das heißt, wenn auch auf Umwegen, aber ich habe es geschafft. Ich konnte unterrichten. Später, als ich nach Zeppernick zog, in den Evangelischen Kirchenkreis Elbe-Fläming, konnte ich diese Tätigkeit fortsetzen. In diesem Jahr gebe ich von der 1. bis 13. Klasse Unterricht, in der Grundschule Biederitz, in der IGS „Willy Brandt“ in Magdeburg, in der Grundschule Buckau, in der Grundschule Tucheim im Jerichower Land und in der Sekundarschule Genthin.“ Das heißt schon, dass in der Regel 4.00 Uhr Aufstehenszeit ist, weil man die Zeit bis zur Abfahrt für das Nachsehen von Arbeiten braucht oder das Vorbereiten der Stunden, also alles das tut, wozu man keine Konzentration mehr hat, wenn man 17 Uhr nach Hause kommt. „Wie, aufhören? Die Frage ist eine Unmöglichkeit.“ Das will man gerne glauben, wenn man Heike Schumann in ihren Schulen beobachtet. Da muss sie die „Fünf“ geben, dort muss jemand schnell noch sein Problem erzählen, da kommt eine Schülerin auf sie zu und drückt ihre Lehrerin. „Zuhören. Sie wissen, dass ich ihnen zuhöre. Das schätzen sie an mir. Die Zeit muss man sich nehmen. Leider erleben sie das heute oft nicht einmal mehr zu Hause.“

 

Religionslehrerin Heike Schumann.

Religionsunterricht im säkularen Osten. Was sich im Westen erst nach und nach herausbildet, ist auf ehemaligem DDR-Gebiet längst Realität. Ist da der Religionsunterricht statt Ethikunterricht nicht unzeitgemäß? „Ich mache da unterschiedliche Erfahrungen“, erzählt Heike Schumann. „In den Grundschulen und Gymnasien gehört Religionsunterricht noch zum ‚guten Ton’. In den Sekundarschulen ist das schwieriger. Je bildungsferner Schüler sind, desto schwieriger ist es, Religionsunterricht anzubieten. Wir sind momentan dabei, uns mit diesem Ist-Zustand auseinanderzusetzen, nach den Ursachen zu gucken, um zu sehen, ob man dagegensteuern kann. Bei Gesprächen mit Eltern von Grundschülern, aber auch mit Eltern von Gymnasiasten höre ich oft als Argument für die Teilnahme am Unterricht, dass der Religionsunterricht zum Allgemeinwissen gehört. Wer in unserem Kulturkreis aufgewachsen ist, erfährt hier etwas über die Wurzel dieser Kultur. Und das eben nicht als objektive Geschichtsunterrichtseinheit, sondern in der Lebendigkeit, wie das eben nur jemand vermitteln kann, der aus der Kirche kommt. Beim Glauben geht es auch um Fakten, aber eben auch um den Menschen, der vor einem steht.“

Aber mit welchen Themen will man denn die Schüler, die aus der gegenwärtigen Welt kommen, in diese Themen ziehen, die doch erst einmal aus Texten bestehen, die mindestens 2000 Jahre, teils 3500 Jahre alt sind? „Die Psalmen aus dem Alten Testament sind zweitausendfünfhundert Jahre alte Gebete, die oft in sehr direkter Weise klagen. Dieses Klagenkönnen ist etwas, was meine Schüler bewegt. Da hört jemand zu, wenn ich zu klagen habe und antwortet in irgendeiner Weise auch darauf. Das ist faszinierend. Nicht zuletzt deshalb, weil ihnen, den Schülern, ja selten jemand zuhört. Das heißt, wir geraten mit einem solchen alten Text mitten in die Fragen, in das Leben eines Viertklässlers. Für den ist das dann nichts Altes mehr, weil die Tatsache der Klage seine Situation heute trifft. Sie glauben nicht, welche Aufmerksamkeit da plötzlich in der Klasse ist. Das kann man fortsetzen, indem man auch andere Gefühlswahrnehmungen anhand der Psalmen buchstabiert, Trauer, Wut, Zorn oder Verzweiflung. Also Gefühlsregungen, die in unserer Gesellschaft eher tabuisiert werden, Da wird dann die Bibel lebendig. ‚Frau Schumann, wissen Sie was ADHS ist?’, fragte mich kürzlich ein Junge zu Beginn des Unterrichts. ‚Ja.’ ‚Ich habe heute vergessen, meine Tabletten einzunehmen!’ Das war eine Kampfansage. Ich habe sie zugelassen als eine Möglichkeit, mit der aggressiven Gefühlswelt der Psalmen in der Realität umzugehen. Wir sprachen darüber. Er hörte gespannt zu und vergaß darüber ein wenig sein Problem. Das Thema Klage hatte ich kürzlich in einer Klasse verhandelt, in der einer der Schüler einen Todesfall in der Familie hatte. Glauben Sie mir, das war so direkt am Leben, da muss man nichts mehr nacharbeiten. Da ist man mittendrin.

In der Grundschule verhandeln wir gerade die Abrahamgeschichte. Die Kinder erzählen dann von ihren Umzügen und vergleichen sie mit denen Abrahams. Wieder sind wir mitten im Leben der Kinder und die alten Geschichten dienen dazu, ihre Situation zu filtern. Mal abgesehen davon, dass wir hier auch über die Erzählung einen Eindruck gewinnen, wann denn diese Geschichten stattgefunden haben. Einer der Schüler, der Abraham zeichnete, wie der das Zelt abbaute, meinte, jetzt muss da noch ein Auto hin. Nun, ich erzählte davon, dass das ja noch eine autofreie Zeit war. „Dann male ich ein Kamel.“ So einfach, so schnell nimmt man die Realität zur Kenntnis und bekommt ein Gefühl für die Dehnbarkeit von Zeit. Nein, ich habe nicht das Gefühl, dass ich überflüssig wäre. Im Gegenteil. Und wenn ich nun mal länger als ein Jahr an den Schulen sein könnte, ehe mich das Schulamt wieder versetzt, könnte ich auch meine Zusatzausbildung als Schulseelsorgerin in Anschlag bringen. Ich jedenfalls merke, wie wichtig es wäre, verfügten die Schulen über eine Schulseelsorgerin. Das könnte auch manche Spannungen innerhalb der Schulen abbauen helfen.

Im vorigen Jahr haben von 15 Schülern einer dreizehnten Klasse 10 das Abitur in Religion abgelegt. Da ist schnell die Behauptung da, Religion wäre eben ein leichteres Fach. Glücklicherweise hospitieren die Schuldirektoren immer mal bei ihren Lehrern, so auch den Religionslehrern. Unlängst kam eine Schuldirektorin aus meinem Unterricht und stöhnte im Lehrerzimmer, dass sie nicht gedacht hätte, dass Religionsunterricht so fordernd und anspruchsvoll sein könne. Das ist doch ein schönes Kompliment. Ja, ich fordere etwas von meinen Schülern. Aber ich habe das Gefühl, dass sie das auch wollen. Im Übrigen verweise ich noch mal auf den Anfang: Jason Lanier ist unbestritten einer der Internetpioniere. Hören Sie ihm aufmerksam zu, wenn er sagt, dass die Generation derer, die die heute weltweit größten Konzerne aufgebaut hat, ihren Kindern ihr höchsteigenes Produkt verbietet.“

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