Projekt soll Bewohner in Heimen mobilisieren
Die linke Hand auf die rechte Schulter, die rechte Hand auf die linke. Den Kopf drehen und abwechselnd nach hinten schauen …“ Der Gruppe von Übungsleiterin Nadine Günther macht es sichtlich Spaß, sich zu bewegen. Dass es bei einigen etwas mühsam vonstatten geht, wundert nicht, denn hier ist die 70-Plus-Generation zu Gange. Die älteste Aktive ist sogar schon 98. Die 79-jährige Lisa Penquitt ist seit der ersten Stunde dabei. Körperliche Fitness ist der rüstigen Seniorin sehr wichtig. „Das mache ich hier gerne mit, denn ich will ja nicht rasten und gelenkig bleiben. Das macht mir Spaß“, sagt die Bewohnerin des Azurit-Seniorenzentrums Quedlinburg, welches als eines der ersten am landesweiten Projekt „Pflegebedürftige aktiv fördern“ teilnimmt.
Astrid Staudenraus, Leiterin des AZURIT-Seniorenzentrums Quedlinburg, war begeistert, als sie vom Projekt erfuhr. Mit dem Programm unter Federführung der AOK Sachsen-Anhalt wollen die gesetzlichen Krankenkassen im Land die Mobilität von Pflegeheimbewohnern steigern und so einen Beitrag zur Umsetzung des Präventionsgesetzes leisten. „Beweglichkeit ist für die Lebensqualität unserer Bewohner von großer Bedeutung“, sagt Staudenraus. Auch für die Mitarbeiter sieht sie einen positiven Nebeneffekt: „Wenn wir die Leute mobilisieren, haben wir weniger Arbeit in der Pflege.“
Regelmäßiges Training unter fachlicher Anleitung
Das sechsmonatige Programm wird durch Experten der Eumedias Heilberufe AG, einem spezialisierten Bildungs- und Beratungsunternehmen, umgesetzt. Nach einer eintägigen Fortbildung, in der theoretische Grundlagen und praktische Übungen an Betreuungskräfte bzw. Ergo- oder Physiotherapeuten vermittelt werden, führen diese selbst regelmäßig Übungen nach dem neuen Konzept zum Kraft- und Balancetraining mit ihren Bewohnern durch. Inzwischen betreut Ergotherapeutin Nadine Günther drei Gruppen á zehn Personen. Je zweimal pro Woche treffen sie sich, um zu trainieren.
Ein Praxis-Coaching durch Eumedias-Mitarbeiterin Anja Schröder ist Bestandteil des Programms. In der Manöverkritik nach der Übungsstunde gibt sie Hinweise und erklärt, was man noch verbessern kann. „Die Steigerung des Schwierigkeitsgrades und die Aufforderung zum richtigen Atmen haben Sie gut eingebaut“, sagt sie. „Der Übergang von der Erwärmung zum Hauptteil war etwas schnell. Und beim Schulterblick daran denken, den Oberkörper zu bewegen. Aber insgesamt: Klasse gemacht.“ Anja Schröder wird (neben einer weiteren Kollegin), auch künftige Schulungen für neue Programmteilnehmer durchführen und diese im Praxiscoaching begleiten.
Doch das Eumedias-Coaching beschränkt sich nicht auf diesen praktischen Bereich. Auf einer gemeinsamen Begehung der Einrichtung mit der Heimleitung werden bauliche Mobilitätshindernisse identifiziert und Möglichkeiten ausgelotet, wie man die Bewohner zu mehr Bewegung motivieren kann.
Landesweit bereits mehr als 80 stationäre Pflegeheime interessiert
Das Konzept wurde auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse entwickelt. Im Alter reduziere sich die Muskelmasse deutlich, um 50 Prozent bis zum 80. Lebensjahr, weiß Gesundheitswissenschaftlerin Kerstin Baumgarten von der Hochschule Magdeburg-Stendal. Pflegeheimbewohner seien deshalb kaum noch mobil. Dass gezielte Muskelübungen wirken, hätten Studien belegt. „Es geht dabei nicht ausschließlich um Muskelaufbau. Vielmehr helfen gezielte Bewegungsübungen, die Koordination zwischen Muskeln neu anzuregen und so Bewegungsabläufe zu festigen und zu verbessern“, erklärt die Professorin. „So erreichen wir, dass auch unvorhersehbare Situationen, beispielsweise ein drohender Sturz, besser beherrscht und im Idealfall vermieden werden können.“
Landesweit sind bereits mehr als 80 stationäre Pflegeheime an dem Projekt „Pflegebedürftige aktiv fördern“ interessiert. „Wir sind mit diesem Angebot offene Türen eingerannt“, sagt Gerriet Schröder, Leiter des Präventionsbereichs der AOK Sachsen-Anhalt. „Offensichtlich gab es in diesem Bereich eine Versorgungslücke, die wir nun schließen können.“ Sachsen-Anhalt sei das erste Land, das das Präventionsgesetz mit einem solchen, kassenübergreifenden Projekt umsetzt. Ziel der Projektpartner sei es, dass bis Ende 2018 rund 330 der landesweit 456 stationären Pflegeeinrichtungen an dem Programm teilnehmen.
Nadine Günther sieht sich bestätigt: Nach den ersten Übungsstunden seien die Teilnehmer nicht nur körperlich agiler, sondern auch mental besser drauf.