Mit 120 Zentimetern alles erreichen

Wackligen Schrittes kommt Max an der Hand seiner Oma ins Wohnzimmer. Einen halben Meter hinter der Türschwelle bleibt er stehen, streckt die Hände nach oben und sieht seine Mama mit großen, strahlenden Augen an – das Zeichen für Christina Lorf, ihren 2017 geborenen Sohn hochzuheben und auf den Arm zu nehmen. Doch Tinchen – wie die 31-Jährige von vielen genannt wird – schüttelt den Kopf. Sie hat Schmerzen im Rücken. Und inzwischen weiß Max, dass er in dieser Hinsicht manchmal zurückstecken muss. Auch sein Bruder Paul, der 2014 zur Welt kam, hat das schnell gelernt. „Sie nutzen die Gelegenheit und wollen auf Papas Arm, sobald er nach Hause kommt“, erzählt sie mit einem Lächeln im Gesicht. Auch wenn Christina der Meinung ist, dass es immer einen Weg gibt, so muss sie im Leben doch einige Einschränkungen in Kauf nehmen. Denn die junge Frau ist kleinwüchsig und einhergehend mit dieser Wachstumsstörung leidet sie an einer Verkrümmung der Wirbelsäule und der Beine. Doch das Wort „leiden“ verwendet sie selbst in diesem Zusammenhang nicht. „Ich empfinde es nicht als Leiden. Natürlich habe ich manchmal Schmerzen, wenn ich länger stehen oder längere Strecken laufen muss, wenn ich die Kinder mehrmals am Tag hochhebe … Und gewisse Dinge sind für mich umständlicher zu handhaben. Aber bislang habe ich alles erreicht, was ich erreichen wollte.“

Ein Ausdruck der Zufriedenheit spiegelt sich in ihrem Gesicht wider. Ihre Stimme klingt zuversichtlich. Und Christina Lorf strahlt ein starkes Selbstvertrauen aus. Die Mikrosomie – wie Kleinwüchsigkeit auch genannt wird – wurde mütterlicherseits vererbt. „Mein Vater hat eine normale Körpergröße, mein Bruder ebenfalls. Und meine Mama ist kleinwüchsig – wie ihre Eltern auch“, erzählt die in Halle geborene und in Quarmbeck aufgewachsene Frau. „Dass meine eigenen Kinder das erben könnten, dessen war ich mir bewusst. Mein Mann und ich waren jedoch bereit, dieses Risiko einzugehen – und wie man sieht, kommen sie in dieser Hinsicht nach ihrem Papa.“ Paul sitzt grinsend neben seiner 1,20 Meter großen Mutter auf dem Sofa und spielt mit Pu, dem Bären. Christina streicht ihm liebevoll durchs Haar, während sie davon erzählt, wie zuvorkommend ihr älterer Sohn ist. „Er hält mir oft die Tür auf, hilft mir auch ab und zu in der Küche und hat schnell akzeptiert, dass ich ihn nicht mehr getragen habe, sobald er laufen konnte.“ Dann springt der Vierjährige vom Sofa runter und rennt in sein Zimmer, um mit Autos zu spielen.

Auf den ersten Blick wirkt die Wohnung wie jede andere auch. Es gibt nur ein paar Kleinigkeiten, die aufgrund von Christinas Körpergröße angepasst wurden. „Im Badezimmer steht unter dem Waschbecken beispielsweise ein Bänkchen, damit ich ohne Probleme an den Wasserhahn komme. In der Küche haben wir zwei Arbeitsflächen – eine höhere für meinen Mann und eine niedrigere für mich. Zudem fehlt bei allen Einrichtungsgegenständen in der Küche der Sockel, sodass die Schränke und der Herd nicht zu hoch sind. Für die Hängeschränke brauche ich dennoch einen kleinen Tritt, wenn ich etwas rausholen oder wegräumen möchte. Der Wickeltisch im Kinderzimmer ist in der Höhe verstellbar und wenn ich Max ins Bett bringe, kann ich ihn an einer seitlichen Öffnung hineinlegen – ihn über das Gitter zu heben, ist für mich unmöglich. Für alles andere entwickelt man mit der Zeit ein paar Tricks.“ Tricks, die innerhalb der eigenen vier Wände funktionieren, aber außerhalb nicht. Dann muss sich die 31-Järige geschlagen geben und auf gewisse Dinge verzichten. Am Automaten Geld abzuheben ist für sie beispielsweise nicht möglich. Es kam auch schon vor, dass Christina zum Arzt wollte und vor verschlossener Tür warten musste, bis jemand das Gebäude verlässt, weil sie die Klingel nicht erreichen konnte und in der Praxis niemand ans Telefon ging. Beim Einkaufen ist sie hin und wieder auf die Hilfe fremder Menschen angewiesen, wenn sie Dinge benötigt, die sich im Regal an für sie zu hohen Positionen befinden. „Da darf man nicht scheu sein und muss einfach fragen. Und im Normalfall sind die Menschen sehr hilfsbereit. Nur wenn mich jemand schon komisch ansieht, dann verzichte ich darauf, diese Person um einen Gefallen zu bitten und warte einfach auf die nächste.“

Auch die Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel ist für die Wahl-Magdeburgerin eine große Anstrengung. „Der Weg zur Haltestelle ist aufgrund meiner kürzeren Beine und ihrer Verkrümmung oft schon zu lang. Zudem bin ich mit zwei Kindern samt Kinderwagen unterwegs, was die Sache nicht einfacher macht.“ Lieber fährt Christina mit ihrem eigenen Auto, das für sie umgebaut wurde. Es verfügt über verlängerte Gas- und Bremspedale sowie einen verlängerten Schalthebel. „Autofahren bedeutet für mich ein Stückchen Unabhängigkeit. Da ich auf dem Dorf aufgewachsen bin, war für mich klar, dass ich das lernen muss – schon allein, um zur Arbeit fahren zu können“, schildert die gelernte Kauffrau für Bürokommunikation. Ihr erstes Auto musste zweimal umgerüstet werden: verlängerte Pedale und Schalthebel für sie und zusätzliche Pedale für ihren Fahrlehrer. „Anders wäre es nicht möglich gewesen, den Führerschein zu machen. Schließlich baut keine Fahrschule ihre Autos für Kleinwüchsige um.“

Mit dem Geräusch, das Kinder machen, um ein schnelles Auto nachzuahmen, kommt Paul zurück ins Wohnzimmer – in der einen Hand einen kleinen Rennwagen, in der anderen eine Hose mit Tigger-Aufdruck. Die möchte er unbedingt anziehen und Mama soll ihm helfen, weil sie noch auf links gedreht ist. Während Christina die Hosenbeine umkrempelt, erzählt sie von einer weiteren Herausforderung, die die Kleinwüchsigkeit mit sich bringt: „Die passende Kleidung zu finden, kann nervenaufreibend sein. Ich brauche zwar Kindergrößen, mein Körper hat jedoch die Proportionen einer Erwachsenen. Hinzukommt, dass die Kleidung für Kinder mit Motiven ausgestattet ist, die nicht zu meinem Alter passen. Bei Hosen ist mir meine Mama behilflich, weil sie diese für mich umnähen kann. Aber Schuhe in Größe 30/31 zu finden, die dann auch schick aussehen, ist wirklich problematisch. Die muss ich oft online bestellen, denn in den Geschäften gibt es nichts Passendes für mich. Und ich habe einfach nicht die Auswahl, auf die andere zurückgreifen können. Aber das soll meine größte Sorge sein“, sagt Christina mit einem Lächeln. Und dann hebt sie Max hoch und nimmt ihn auf den Arm, damit sich seine Mutter auch mal für einen Moment aufs Sofa setzen kann. Tina Heinz

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