Kompakt Magazin: Der Schrei der Stille

Die Stille erscheint oft wie ein Sehnsuchtszustand. Das Leben ist wie ein Wandel durch einen Geräuschdschungel. Man fühlt sich von Lärm umschlungen und durchdrungen. Es mag einst Zeiten gegeben haben, die vortechnischen, solche ohne Maschinen, Motoren und Signale. Klänge kamen aus der Natur. Vogelgezwitscher, wiehernde Pferde, blökende Schafe, ab und an rasselte ein Fuhrwerk über holprige Pflastersteine oder sang der Hammerschlag des Schmieds beim Niederprall auf den Amboss. Nur vom Kirchenturm kam täglich verlässlich das Geläut der Glocken. So eine Beschreibung mag romantisch klingen. Und genau das ist sie, weil ausschließlich der Sehnsuchtsaspekt dabei herausgeschält bleibt und kein Wort über andere Beschwerlichkeiten dieser Menschheitsphasen gesagt ist. Genauso ließe sich für die Moderne mit ihren Errungenschaften ein einseitig verklärendes Bild zeichnen. Nur der permanente Krach ist aus ihr nicht nicht mehr herauszulösen. Oder doch?

Ratgeber und Angebote, die Ruhe und inneren Frieden versprechen, haben Hochkonjunktur. Sie existieren und funktionieren, weil es einen spürbaren Mangel an Abgeschiedenheit gibt. Es bedarf keiner Hellseherischen, um hier einen Wachstumsmarkt erkennen zu können.

Auch wenn längst Lärmschutzwände Landschaften durchschneiden, Grenzwerte Regelverstöße für tonale Belästigungen hervorbringen und leise Elektroantriebe das Beschleunigungsheulen von Verbrennungsmotoren ersetzen, lassen sich die Phänome eines permanenten Schalls nicht mehr abschalten. Und diese Erscheinungen sind weniger technischer bzw. akustischer Natur, sondern messen sich mehr an einem inneren Pegel. Ist das Leben wirklich laut oder lassen wir uns selbst vom Sound der Unruhe zudröhnen? Man mag beide Fragen mit Ja beantworten können.

Wer ständig das Smartphone zur Hand nimmt, um Nachrichten oder Posts und Profile zu checken, verliert zusehends stille Phasen. Wer den Blick immer wieder auf Bildschirme – egal, ob solche von Computern und TV-Geräten – richtet, verlernt mit der Zeit Ruhe und Stille. Eigentlich muss dieser Trend niemandem erklärt werden. Wir wissen um die Wirkmechanismen. Doch es gibt nun Abhilfe. So kann uns das Smartphone sagen, wie oft und lange ich es am Tag genutzt habe. Dass damit jedoch ein Prüfzwang in den Alltag krachen kann, der sich irgenwann wie das Pochen eines schlechten Gewissens anhört, wird im schönen Vorsatz, sich selbst besser zu steuern, übersehen.

Sich selbst besser steuern? Diesen Gedanken mag man heute lauthals im Chor singen. Und die Botschaft schallt aus allen Kanälen. Was ist gesund? Wie bewege ich mich angemessen? Welche Ernährung passt zu mir? Was sollte ich tun oder besser lassen? Wie kontrolliere ich mein Gewicht? Zu jeder Frage findet man Informationen und man kann sich mit eigenen Daten von Herzfrequenz und Blutdruck über Schritte und Treppensteigen mit Grenzwerten und Analysetools verbinden, um sich Bescheid sagen zu lassen, was gut sein soll. Das sind nur kleine Aspekte des gewaltigen Lebenskonzert, das offenbar unabschaltbar über allen schwingt. Wer mit vielen „Freunde“ in sozialen Netzwerken verbunden ist, muss dort ständig mitsingen, um wahrgenommen, höflich oder emphatisch erscheinen zu wollen. Mit unter fordern solche Freunde, dass man ihnen Zeichen von Aufmerksamkeit schenkt, indem man irgendwelche vorgefertigten Sätze kopiert, die eine gegenseitige Beachtung signalisieren sollen. Man ist gefordert. Natürlich muss das niemand mitmachen. Doch Hand aufs Herz – wer verliert schon gern „Freunde“?

Es klingt wundervoll, mit der „Welt“ verbunden zu sein und sich nicht einsam fühlen zu müssen. Doch sind vielleicht die mit so zahlreich Verbundenen am Ende die eigentlich Einsamen. Weil die Verbindung mit ein wenig Strom und Funkwellen hergestellt wird, weil ein paar Pixel auf dem Bildschirm als Smileys oder Kurzbotschaften erscheinen. Daraus ist der Sound der Zeit. Menschen, die starrend auf ihr Smartphone durch die Straßen marschieren, vielleicht sogar noch Kopfhörer tragen, mögen den Geräuschen des Straßenverkehrs entfliehen, aber niemals dem Singsang virtueller Sirenen. Was offenbar wenige bedenken, ist, wie tief und komplex sich das Hirn mit all diesen Reizen verbindet. Sie sind eben irgendwann nicht mehr nur außen, sondern wachsen quasi ins eigene Bewusstsein. Wer oft Stille ersehnt, leidet seltener an Umgebungsgeräuschen als an den unheimlichen Melodien eigener Wünsche, Träume und Illusionen, die Glücksverheißungen aussenden, sich hier oder dorthin aufzumachen, um zu finden, was erwartet wird. Stille zu finden, gehört zu wachsenden Wünschen. Ganze Urlaubsparadiese werden dafür hergerichtet und Tausende marschieren im Gleichschritt unter der Inszenierung, um sich nach 14 Tagen wieder dem Alltagsradau unterworfen zu fühlen. Deshalb erfreuen sich die Angebote nach Abgeschiedenheit und Abschalten einer großen Nachfrage. Doch einfach Wegsein ist noch keine Zuflucht in Stille. Natürlich kommen da Experten für Meditation und seelischen Frieden gerade recht. Wer sich nicht selbst am Schopfe fassen kann, um sich aus dem Sumpf der Stimmen zu ziehen, nimmt die Hand jedes Versprechens gern an. Geräusche für Wasserplätschern, Vogelgesang im Wald und Meeresrauschen erfreuen sich bei Musikportalen großer Beliebtheit. Ohnehin ist Musik heute überall. Vermutlich soll sie vor Umgebungslärm schützen. Man bekämpft Töne mit Tönen.

 

Illustrationen: Thomas Westermann

Mitten in das moderne schwellende Chaos eines Online-Gebrülls platzten Schreie, man müsse politisch-gesellschaftlich die Stimme erheben. Wer schweigt, macht sich schuldig – so rufen die Mahnungen. An den Fronten türmen sich die Lautsprecheranlagen für eine gegenseitige Beschallung auf. Wer kann lauter? Lautstärke ist keine Lösung. Gleichzeitig versammeln sich die Kämpfer für die gute Sache und gegen die erklärten Feinde. Sie schreien aus in Videoselfies oder schlagen auf Tastaturen ein. Jeder kämpft auf seine Weise. Man muss froh sein, dass das Waffengerassel aus Parolen besteht. Doch wie lange noch? Es ist vorbei mit der Stille im Land. Wer seinen politischen Feind erkannt hat, beteiligt sich am Aufschrei gegen jeden, der nicht ins selbe Horn bläst. Übertönt wird alles vom medialen Bombardement, das selbst einen kleinen Satz zu einem großen Empörungsterror aufbauen kann. Letztlich sind es alle, die hinschauen und hinhören, die sich mit empören, die am Lautstärkeregler des gesellschaftlichen Seins drehen und einen schmerzenden Schall erzeugen. Darunter verstummt jede Form der Stille. Das alles mag wie ein Orkal für eine düstere Zukunft daherkommen. Doch tanzen wir mit jeder kleinen Äußerung, bei jeder Teilnahme am Austausch und Mitmachen, sich mit Infofetzen und Interpretationen zu überschütten, alle im Rambazamba mit. Wir sind selbst die Erzeuger dieses gesellschaftlichen Krakelens. Ist Stille also unweigerlich verloren, wenn man nicht schweigen darf?

Menschen passen sich neuen Bedingungen an. Sie machen ihre Erfahrungen und richten danach ihr Leben aus. So war es immer, so beweist es uns die Geschichte. Allerdings sind manche Bedingungen entscheidend verändert. In der Vergangenheit haben wir uns den technischen Systemen angepasst, haben beispielsweise gelernt, uns im Straßenverkehr zurecht zu finden und angemessen zu fahren. Doch hinter den Computern, die wir mittlerweile aufgrund ihrer vielfältigen faszinierenden Fähigkeiten quasi verinnerlicht haben, geht eine Entwicklung vor, die sich uns anpasst und zwar unseren Bequemlichkeiten, heimlichen Gelüsten und Süchten. Sie werden darin besser werden und uns gleichzeitig signalisieren, dass sie uns genau davor beschützen können. Das erzeugt keine Stille, nur mehr Sehnsucht danach.

Es mag erfreulich erscheinen, dass es Gegenbewegungen gibt, solche, die aus dem Lärm des Zeitgeschehens herausführen. Doch finden wir diese wiederum im selben virtuellen Trubel, der auch alles andere in seinen Bann zieht. Wer die Pausentaste für einen oder gar mehrere Tage nicht von allein findet, wird künftig keine Ruhe mehr finden.

Wenn sich zwei Partner nichts mehr zu sagen haben und nebeneinanderher schweigen, ist es nie still. Der Aufschrei ist im Innern, in den quälenden Fragen, in der Entrüstung über die fehlenden Antworten. Unser Geist verfügt über ein Potenzial an Nichtstille, unter dem er sich bis zur Selbstzerstörung anstacheln kann. Die Anzahl ermittelter Burn-outs und Depressionen sind ein Indiz dafür. Oft sind die Ursachen dafür nicht in der Länge der Arbeitszeit oder den physischen Beschwernissen einer Tätigkeit zu finden, sondern an der inneren Unruhe. Und die kommt wiederum seltener von äußeren akustischen Reizungen. Man glaubt solange, alles meistern zu können – die Möglichkeiten, Erlebnisse und Erfahrungen – laut sein bis zur letzten Ruhe. Doch dann ist es schon zu spät, still sein zu können. Thomas Wischnewski


Thomas Westermann: Mein STILLES Selbstporträt nachdem es zu LAUT war.

Foto: Wolfgang Schneider. (Werbung)

Der Magazintitel „STILL LEBEN“ passt zu mir. Er redet nicht und spricht doch, STILL eben, eher mit meiner inneren Stimme. Ich lasse lieber Bilder sprechen. Ansonsten muss man schon fragen (und nachhaken). Geboren bin ich 1962 in Magdeburg und aufgewachsen am nördlichen Stadtrand. Man könnte es das damalige Stadtende nennen. Meine Kindheit war wohl überwiegend STILL, isoliert von Gleichaltrigen. So blieb ich fokussiert auf mich selbst. Das mag unrelevant erscheinen, war allerdings prägend. 1980 erreichte ich an der Magdeburger EOS „Otto von Guericke“ das Abitur und wurde für eineinhalb Jahre ins Niemandsland hinter Salzwedel verschickt. Anschließend wurde ich Mitarbeiter am AMO-Kulturhaus in Magdeburg. Ab 1986 arbeitete ich als Siebdrucker und grafischer Zeichner in Schönebeck. Hier zog ich hin – vielleicht wurde ich im Bleiben auch verzogen, jedenfalls wurde ich nie Schönebecker bzw. konnte mich nie als solcher fühlen. Seit 1994 bin ich als selbstständiger Kommunikationsdesigner für Klein(st)unternehmerinnen, Mittelständler und Gewerkschaften tätig. Weil ich weder wortgewandt noch mit ‘nem musikalischen Gespür ausgestattet war, begann ich 1977, Bilder zu machen – Ölbilder und Druckgrafik, dann vor allem Bleistift- und Kreidezeichnungen. Dank meines Zeichenlehrers Rainer Löhr gab es 1979 die erste Ausstellung in der Magdeburger „Galerie Süd“. Es folgten weitere in Magdeburg, in Wolmirstedt und in Schönebeck. Die Werke zu zeigen, war meist der eigentliche Antrieb fürs Bildermachen. Da hatte ich etwas zu sagen oder zu erzählen und zu fragen. Höhepunkt war 1984 die GAUKLER-Ausstellung im „Haus Klee“, die bei der „Abnahme“ der Ausstellung wohl Verletzungen zufügte. Die Bilder waren wohl zu laut gewesen. Danach folgten ein paar stille Schönebecker Stadtlandschaften und einige Porträts, aber keine Selbstdarstellungen mehr. Für andere machte ich noch Galeriearbeit und etwas MAIL ART. Dann war’s STILL. Und die Zeiten seit 1989 für mich erstmal zu laut. Doch man findet das Erzählen und Fragen, das Spielen mit Interpretationen und Denkweisen natürlich weiterhin in meinen Arbeiten. Und nun, seit einem guten Jahr, gibt es wieder neue freie Arbeiten. Die Gefahr, wieder zu laut zu sein, besteht heute eher nicht und es geht hierbei ja um NICHTS mehr – oder etwa doch um ALLES? In (Selbst-)Porträts mit Kreide, mit denen ich an den GAUKLER anknüpfe oder in fotografierten STILL-LEBEN, mit inszenierten kleinen Modellfiguren. Vielleicht ist mir die STILLE mittlerweile ZU LAUT geworden.

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