In die Steinzeit düsen
In die Steinzeit düsen. Klingt absurd, ist aber ganz real. Nämlich dann, wenn man sich Neuguinea als Ziel gesteckt hat. Und genau dorthin zog es mich, zur Insel der Menschenfresser und Paradiesvögel. Paradiesvögel – klingt glaubhaft, aber Menschenfresser, Man Eaters?
Offensichtlich haben mir diese seltsamen Menschen Spaß gemacht. Und ich ihnen. Doch wäre einige Jahrzehnte zuvor ein solches Zusammentreffen weniger spaßig gewesen. Zwar ist der Kannibalismus auf Neuguinea offiziell Vergangenheit. Niemand aber weiß genau zu sagen, ob er heutzutage nicht vielleicht doch noch praktiziert wird, irgendwo. Das Land ist riesig, seine Wälder sind auf größere Distanzen hin undurchdringlich und dürfen regierungsseitig größtenteils auch gar nicht betreten werden. Wenn Kenner nach den uralten, für Fremde so wenig bekömmlichen Bräuchen befragt werden, wedeln sie bedeutungsschwer mit der Hand. Der Berühmteste, der in entlegenen Gefilden einfach mal verschwand, und das für immer, ist Michael Rockefeller, der Sohn des früheren New Yorker Gouverneurs und US-Vizepräsidenten.
Heimat der Papuas
Neuguinea – nördlich von Australien gelegen, nach Grönland die zweitgrößte Insel – ist die Heimat der Papuas. Die Papuas entsprechen vom Typus her am ehesten den australischen Aborigines: dunkelhäutig, breite Nasen, kraushaarig (malaiisch papua: „kraushaarig“). In Neuguineas Wäldern leben noch so manche von ihnen in Verhältnissen, die den Urbedingungen durchaus nahekommen. Im Extremfall sind ihnen Metalle unbekannt und sie verwenden stattdessen Steine. Steinbeile zum Beispiel. Nicht anders hielten es unsere eigenen Vorfahren, die in den Urwäldern von Europas Mitte lebten, zu einer Zeit, die wir aus ebensolchem Grunde die „Steinzeit“ nennen. Die Papuas haben die Grenzen ihrer Stammesreviere immer sehr ernst genommen. Diese zu ignorieren, war in früheren Zeiten tödlich. So strikt voneinander isoliert, haben sich hier mehr als 1.000 verschiedene Sprachen herausgebildet. An Geister wird noch heute geglaubt, an Zauberei und an Hexen. Selbst bei der Polizei, heißt es.
Neuguinea verfügt über eine großartige, weil sehr spezielle und bis heute nur ansatzweise erforschte Flora und Fauna. Hier wollte ich hin, schon seit Langem. Ganz wenige Reiseanbieter führen Neuguinea in ihrem Programm und dann fast nur für den Ostteil der Insel. Seit den 1970er Jahren ist er ein selbstständiger Staat, Papua-Neuguinea genannt. Mittlerweile blüht hier die Kriminalität. Von einem Besuch durch Einzelreisende wird daher abgeraten, des Öfteren wurden auch Reisegruppen überfallen. Nein, nicht dorthin wollte ich, stattdessen in den seit 1963 von Indonesien regierten Westteil, schlicht „Westneuguinea“ genannt. Rundreisen werden dafür kaum irgendwo angeboten, in Deutschland gar nicht. Ohnehin wollte ich keine Rundreise, vielmehr das Land auf eigene Faust erleben. Die Erlebnistiefe ist dann weit, weit größer.
Der Start erfolgte am heimischen PC: Flüge, Hotels für die Zwischenlandungen und vor allem die Frage, wohin genau. Reiseliteratur für Westneuguinea gibt es so gut wie nicht, auch nicht englischsprachliche. Da bleibt nur, im Internet herumzusuchen, um eigene Pläne zu machen.
Wald, Wald, Wald
Mitte Februar dieses Jahres ging es dann wirklich los. Zwischengelandet in Jakarta und Makassar (auf Sulawesi), war vom Flugzeugfenster aus endlich Neuguinea in Sicht: Wald, Wald, Wald, hier und da mal ein sich dahinschlängelnder Fluss. Ich versuchte mir vorzustellen, mich dort unten über diese riesigen Dis-tanzen hinweg durchkämpfen zu müssen. In meinem Mund wurde es abwechselnd trocken und feucht. Dann endlich tauchte an der Nordküste das Reiseziel auf, Jayapura, die Provinzhauptstadt von Westneuguinea. Wieder Boden fand die Maschine auf dem Airport in der 25 km entfernten Stadt Sentani.
Jayapura, eingenischt zwischen einem größeren See, dem Sentani-See, und dem Pazifik, mutet unerwartet großstädtisch an: Geschäftsstraßen, viele Autos und Motorräder, laut, viele Menschen. Neben ver-städterten Papuas sind es Indonesier, die größtenteils aus Java stammen und per Regierungsprogramm nach Neuguinea umgesiedelt worden sind. Ein als Transmigrasi etikettiertes Programm der indonesischen Regierung hat die Zersiedelung Westneuguineas durch Indonesier aus anderen Gegenden zum Ziel, vor allem eben mit solchen aus dem bevölkerungsreichen Java.
Den Kampf um die Unabhängigkeit von der indonesischen Herrschaft mussten hunderttausende Papuas mit dem Leben bezahlen. Von der Weltöffentlichkeit wurde das kaum bemerkt. Und noch heute gibt es erbitterte Auseinandersetzungen. Staatsterrorismus ist der wohl treffendste Ausdruck für die gleichsam unumschränkte Macht, die von Polizei und Militär ausgeübt wird. Menschen, die für die Unabhängigkeit kämpfen, und sonst wie Aufmüpfige verschwinden über Nacht und für immer und spurlos.
Dennoch wirkt die Bevölkerung, gleich ob Javaner oder Papuas, ausgesprochen zufrieden, zumal sie in relativem Wohlstand lebt und, anders als im Ostteil, durch Kriminalität kaum behelligt wird. Mir selbst – ein oder zwei Köpfe größer als die anderen, hellhäutig, blauäugig – begegnete man überall mit großer Freundlichkeit. Zwar kann kaum jemand englisch, aber ein „Good Morning“ oder „Good Afternoon“ kriegten die meisten hin. Nicht nur im Vorübergehen wurde ich begrüßt, auch vom Motorrad herunter oder aus dem Auto heraus.
Gleich am Stadtrand wartet der Dschungel. Sekundärwald ist es. Der tropische Regenwald von einst wurde vor allem durch Brandrodung vernichtet. Überall, wo sich die (in unserem Sinne) Zivilisation breitgemacht hat, ist das passiert. Das gilt auch für Siedlungen der moderneren Art, die zwar Straßen aufweisen – Straßen, auf denen Autos und Motorräder fahren –, die aber keinerlei Anschluss an das Straßennetz der Insel haben. Untereinander verbundene Straßen gibt es ausschließlich im Küstenbereich. Die Orte im Inneren sind daher nur über Inlandflüge zu erreichen. Alles, was man dort nicht selbst produzieren kann, muss eingeflogen werden: Autos, Motorräder, Wellblech für die Dächer, ja selbst der Asphalt für die Straßendecke!
Selbst Asphalt wird eingeflogen
Einer dieser Orte ist die Stadt Wamena. Der Ort, in einem fruchtbaren Flusstal im Hochland Westneuguineas gelegen, wird viele Male am Tag angeflogen, und auf den hatte ich mich als Startpunkt konzentriert. Auch hier wieder Geschäftsstraßen, sogar mehrstö-ckige Gebäude, mittendrin buntes Leben. Die Einwohner, gleich ob hierher verfrachtete Javaner oder der indigenen Bevölkerung entstammend, tragen dieselben Allerweltsprodukte auf dem Leib, wie auch wir sie bei unseren Discountern kaufen können. Zumeist haben die Bewohner Wamenas nichts an den Füßen, dafür ein Smartphone in der Hand.
Der besondere Reiz: Hier in Wamena kann man in eines der zahlreichen Sammeltaxis steigen, um sich bis dorthin fahren zu lassen, wo der Charakter der Siedlungen in den von früheren Zeiten übergeht. Üblich sind mit Pflanzenmaterial bedeckte Rundhütten. In den Binnenhöfen tummeln sich die Bewohner und mittenmang freilaufende Schweine und Hühner. Auch ein oder zwei Hunde, die jedoch weniger zum Bewachen oder gar zum Kuscheln gebraucht werden, weit eher als Schlachttiere. Hundefleisch soll besonders wohlschmeckend sein, sehr zart und so gut wie fettfrei.
In solchen Siedlungen wird das uralte Brauchtum gepflegt. Zu den Festen werden die Körper in oft bizarrster Weise bemalt, und dann auch trägt man wie selbstverständlich die langen Penis-Etuis, Horim genannt. Sie werden aus einer Kürbisart gefertigt und dienen dem Schutz des hierzulande als besonders schützenswert geltenden Körperteils, da es sich bei den Papuas größter Verehrung erfreut. Pfeil und Bogen werden präsentiert und wunderbar geschnitzte Speere. Dazu dann noch martialische Tänze und Schreie, sodass auch dem Letzten die Lust vergeht, mit diesen Typen zu streiten. Ich selbst hatte vorgezogen, mich, später dann, in einem der Hotels von Wamena hinter einen Aufsteller zu begeben und nur eben mit dem Kopf herauszugucken. Was da an Wunden zu sehen ist, rührt von einem kostenlosen Photo-Editor.
Eine der letzten echten Wildnisse
Von nicht minder großem Reiz ist die Natur Neuguineas. Hier findet man eine der letzten echten Wildnisse: weithin unberührt und kaum Tourismus, schon gar nicht Massentourismus. Diese Natur zu genießen, sie tief zu atmen, bedarf ausreichender Zeit. So etwas lässt sich per Rundreise, zumal unter den ständigen Kommentaren der Mitreisenden, nicht machen. Selbst wenn man auf die zeitraubenden Mittagsessenspausen verzichtet und auch von den sonst so beliebten All-inclusive-Leistungen Abstand nimmt.
Über 60 Prozent der auf Neuguinea heimischen Pflanzen- und Tierarten gelten als endemisch, m. a. W., sie kommen nur hier und sonst nirgendwo auf der Welt vor. Gegenwärtig sind für Neuguinea etwa 12.000 Pflanzenarten beschrieben, 700 Arten von Vögeln, 300 bis 400 von Reptilien und Amphibien und 2.700 Fischarten. Bislang wurden gerade mal 300 Arten von (Webe-)Spinnen gezählt. Da hiervon in Deutschland etwa Eintausend vorkommen, lässt sich ermessen, wie groß die Kenntnislücke allein auf dem Gebiet der Arachnologie ist. Dennoch werden trotz der eingeschränkten Zugänglichkeit auf Neuguinea ständig neue Tier- und Pflanzenarten entdeckt, im Jahresdurchschnitt einhundert bis einhundertfünfzig. Von besonderem Reiz sind die Paradiesvögel. Bisher wurden 43 Arten gezählt, eine Art schöner als die andere. Obschon es immer nur die Männchen sind. Was diese an den äußerst schlichten Weibchen wohl finden? Dem menschlichen Betrachter erschließt sich das nicht.
Appetit bekommen, in die Steinzeit zu düsen? Zögern Sie nicht, mich, den Autor, über die Redaktion von MAGDEBURG KOMPAKT anzuschreiben. Zusätzliches finden Sie unter www.geraldwolfmd.de/Und-weiter-draussen/Westneuguinea-2019-I. Gerald Wolf