Hormonisierung statt Harmonisierung

Vor rund 50 Jahren trat die hormonelle Antikonzeption ihren Siegeszug durch die Welt an. Richtiger: durch alle Industrienationen dieser Welt. Ein gewaltiger Aufschwung für die pharmazeutische Industrie. Zum ersten Mal wurden solche hochpotenten Pharmaka nicht für die vergleichsweise kleine Gruppe der kranken Frauen produziert, für die eine Hormontherapie wegen einer gynäkologischen Erkrankung nötig war. Jetzt war jede Frau in der Geschlechtsreife eine potentzielle Kundin. Welch ungeheure Möglichkeiten, welch riesiger Markt! Zu Beginn gab es noch eine gewisse Scheu und Zurückhaltung den Heranwachsenden gegenüber. Doch diese Zurückhaltung wurde durch den Vergleich mit dem Risiko einer ungewollten Schwangerschaft bei den Teenagern überwunden. Nebenbei gesagt: Die psycho-sozialen Auswirkungen dieser Erfindung waren vielleicht noch größer als die wirtschaftlichen. Zum erstenmal in der Geschichte der Menschheit wurde mit einer sehr sicheren Methode der Empfängnisverhütung die Fruchtbarkeit von der Lustfunktion des Geschlechtsverkehrs abgekoppelt. Es ist schwer vorstellbar, dass die Phase der „sexuellen Revolution” Ende der sechziger Jahre ohne die „Pille” möglich gewesen wäre.

Nachdem nun der Markt mit den hormonalen Antikonzeptiva gesättigt war, schien eine weitere große Steigerungsrate nicht in Sicht. Im Gegenteil: Infolge der steigenden Zahl der Infektionen mit AIDS erlebte sogar das für die Verhütung so schwächliche Kondom eine Renaissance. Jetzt aber entdeckten die Forscher der pharmazeutischen Industrie im Bündnis mit der Lobby der gynäkologischen Ordinarien die Frau nach den fruchtbaren Jahren: Die Frau in und nach den Wechseljahren. Die nächste große Welle von Applikationen an einen großen Teil der gesunden Population von zum Teil völlig beschwerdefreier Frauen begann.

Liest man die medizinische Literatur, so hat man den Eindruck, dass eine neue Wunderdroge entdeckt wurde. Berichtet wurde von positiven Wirkungen auf fast alle physischen und psychischen Funktionen. Es schien, als ob der mittelalterliche Traum vom Jungbrunnen für die Frauen Wirklichkeit geworden wäre. Gestern war eine hormonale Kontrazeption bei einer Frau über 35, die Raucherin war, wegen der Gefahr von Thrombosen und Embolien fast eine Kontraindikation. Heute steht der Hormonmedikation der rauchenden Frau in der Postmenopause nichts entgegen. Im Gegeteil: Eine gewisse protektive Funktion auf Herz und Kreislauf ist zu erwarten. Ein erhöhtes Krebsrisiko? Im Gegenteil! Und natürlich die Osteoporose! Nun ist aber eine leichte Osteoporose ebenso wenig eine Krankheit wie eine faltig werdende Haut oder grau werdende Haare. Wichtiger sind die pathologischen Folgen der Osteoporose, z. B. Frakturen. Laut der Statistik von Henderson besteht nun für eine Osteoporosefraktur eine Morbiditätsrate von nur 55 auf 100.000 Frauen der Altersgruppe von 65 bis 74 Jahren. Das sind nicht mehr als 0,055 Prozent!

Nichts gegen die positiven Auswirkungen von Östrogenen auf den weiblichen Organismus. Ich möchte auch nicht einer Frau vom Gebrauch dieser Hormone abraten. Aber ich bin dagegen, wenn suggeriert wird, dass mit dieser Pille alle die Probleme der älter werdenden Frau gelöst werden könnten. Wie im Ausspruch von Mephisto im Drama „Faust” von Goethe, der in der Hexenküche sagt: „Und mit diesem Trank im Leibe wird Helena aus jedem Weibe”. Hier wird es falsch. Denn das bedeutet, alle psychischen und sozialen Probleme des Älterwerdens als Ursachen verschiedener klimakterischer Störungen zu negieren. Der Mensch und sein Lebensgefühl ist nicht mehr als ein Produkt der Funktionsfähigkeit seiner Drüsen? Nein, so einfach ist es nicht.

Verschiedene Untersuchungen haben immer wieder gezeigt:
1. Ein Placebo hat oft eine ebenso hohe therapeutische     Wirksamkeit wie die verschiedenen Hormongaben.
2. Bei einem bestimmten Prozentsatz der Patientinnen konnte auch durch die Therapie mit Hormonen keine entscheidende Besserung erreicht werden.
    
Jeder Frauenarzt kennt diese Patientinnen, die auch nach dem 5. Hormonwechsel immer noch die gleichen Beschwerden haben und den Gynäkologen in eine Balint-Gruppe treiben können.

Vergessen wir nicht beim Lesen der Hochglanzschriften mit den schönen farbigen Grafiken der pharmazeutischen Industrie nicht: Die Wechseljahre sind mehr als nur eine hormonale Umstellung. Van Keep spricht von einer dreifachen Transformation in den Wechseljahren. Nur die eine ist die biologische – also in erster Linie die hormonelle Transformation. Die zweite Transformation aber ist die soziale Umstellung. In der Familie ändert sich die gesamte Situation. Die Rolle als Mutter endet. Die Kinder gehen aus dem Haus und gründen selbst eine Familie. Die Rolle als Großmutter beginnt. Der Tod der eigenen Eltern fällt oft in dieses Alter. Wichtige Bezugspersonen sind nicht mehr vorhanden. Auch die Situation in der Ehe ist oft verändert. Die Ehe ist vielleicht formaler und liebloser geworden. Sie hat mehr den Charakter einer Wirtschafts- und Wohngemeinschaft angenommen. Auch Scheidungen sind häufiger in diesem Zeitraum, weil manche Männer meinen, in diesem Alter mit einer jungen Frau das Leben noch einmal von vorne beginnen zu können. Es findet also ein zunehmender Verlust der Geborgenheit statt. Wenn noch die Arbeitslosigkeit dazu kommt, so ist der Verlust der Geborgenheit total. Und das alles wollen wir mit einer Gabe von Hormonen heilen?

Die dritte Transformation ist psychisch. Spätestens mit dem Ende der generativen Funktion ist endgültig klar, dass die Zeit der Jugend unwiederbringlich verloren ist. Die eigene Attraktivität, die Schönheit lässt nach. Gedanken über die Vergänglichkeit des Lebens tauchen auf. Ebenso wie Gedanken an Altern, Krankheiten und Tod. Diese Gedanken nehmen umso mehr Raum ein, je größer der Verlust der Geborgenheit ist. In der Tat, es gibt soziologische Beobachtungen, dass Frauen, die spät noch ein Kind bekommen haben, weniger an klimakterischen Beschwerden leiden als andere Frauen. Das gilt auch für Frauen, die einen leitenden und verantwortlichen Beruf haben. Wer aber von jungen Jahren an sein Leben ganz auf Familie und Mutterschaft eingestellt hat, erfährt in den Wechseljahren mit Enttäuschung, dass der Beruf „Mutter” nur einen Arbeitsvertrag für ca. 20 Jahre hat – ohne die Chance einer Verlängerung.

Wie gesagt, ich spreche nicht gegen eine großzügige Verordnung von Hormonen in den Wechseljahren. Aber ich denke, es ist ein Irrtum, wenn wir glauben, dass die Gabe irgendei-nes Hormons die Lösung für all die psychischen und sozialen Probleme wäre. Was Menschen in dieser Altersgruppe brauchen – Frauen und Männer – ist die „Umwertung aller Werte”. Eine neue Rangreihe der Werte muss jeder für sich erarbeiten. Neue Kontakte sind nötig, neue Freundes- und Bekanntenkreise müssen gefunden werden. Damit der drohenden Vereinsamung vorbeugt wird. Es ist wichtig, dass neue Lebensziele entdeckt werden. Das heißt aber auch, dass alte Lebensziele revidiert werden! Abschied nehmen von nahestehenden Menschen und liebgewonnenen Vorstellungen ist ein Tagesordnungspunkt.

Ich denke, es ist deutlich, dass hier mehr als ein Hormon gebraucht wird. Auch wenn uns durch verschiedene Autoren suggeriert wird, dass die Östrogene auch die psychischen Symptome zum Verschwinden bringen. Aber wenn wir die Schriften dieser Autoren kritisch betrachten, so sehen wir, dass das Thema Psyche in der gesamten Abhandlung nur einen winzigen Raum einnimmt – im Gegensatz zur Chemie der Steroide! Dazu kommt, dass unter dem Abschnitt Psyche der Inhalt oft nicht sehr hilfreich für uns ist. Wenn es ganz schlimm kommt, wird auch noch der Gebrauch von Psychopharmaka empfohlen.

Was wirklich fehlt, ist das verständnisvolle Gespräch mit der Patientin. Das Gespräch über ihre Situation. Die Anregung, neue Wege zu beschreiten. Das vorsichtige infrage stellen der inneren Werteskala. Es leuchtet ein, dass hier oft mehr als nur ein Gespräch nötig ist. Erst wenn die Bereitschaft und die Möglichkeit für ein solches psychosomatisches Therapiekonzept vorhanden ist, hat die Patientin die Chance aus der disharmonischen Störung der Wechseljahre herauszukommen und wieder eine biopsycho-soziale Stabilität und gewisse Harmonie zu erlangen. Diese Harmonie ist wichtiger und gesünder als die Hormone.

Dr. med. Paul R. Franke
FA für Gynäkologie u. Geburtshilfe, FA für Psychomatische Med. u. Psychotherapie
Ehrenpräsident der Dt. Gesellschaft für Psychosomatische Frauenheilkunde und Geburtshilfe (DGPFG)

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